Der Kapitalismus stiehlt Frauen die Zeit

Zeit ist mehr wert

Der Kapitalismus ist eine untaugliche Wirtschaftsweise. Dass dieses Wirtschaftssystem für Frauen noch weniger taugt als für Männer liegt auch am Faktor Zeit.

»Es gibt eine Zeit für die Arbeit. Und es gibt eine Zeit für die Liebe. Mehr Zeit hat man nicht«, soll die französische Modeschöpferin Coco Chanel einmal gesagt haben. Was sie dabei mit Liebe und Liebe  meinte, ist nicht überliefert. Vermutlich ging es ihr jedoch nicht ums Kuchenbacken oder Windelnwechseln. Der Faktor Zeit stellt sich für Frauen im Kapitalismus in vielerlei Hinsicht anders dar als für Männer. Denn der Kapitalismus ist das einzige Wirtschaftssystem, in dem sich das Leben notwendigerweise in die Bereiche einer der Verwertungslogik folgenden Wirtschaftens einerseits und des Lebens und der Liebe andererseits aufspaltet.

Das Wirtschaften dient im Kapitalismus nicht der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, sondern einem übergeordneten Zweck: der Generierung von Mehrwert. Ob eine Tätigkeit Mehrwert schafft, steht in keinem Zusammenhang mit ihrem Inhalt, sondern lediglich mit der Form ihrer Organisation. So kann ein und dieselbe ­Tätigkeit je nach Form der Organisation einmal Wert generieren und ein andermal keinen. Haben zum Beispiel zwei Personen Sex, weil sie einander begehren, entsteht weder ein Wert noch ein Mehrwert. Bezahlt eine Person die andere mit 100 Euro pro Stunde, ist zwar ein Wert, aber noch kein Mehrwert geschaffen. Anders, wenn eine dritte Person in den Tauschprozess eintritt, um die beiden Personen zusammenzubringen. Behält dann die Vermittlungsperson 30 Euro von den 100 ein, während die Dienstleisterin 70 Euro einbehält, ist ein Mehrwert geschaffen.

Auf diese Weise können prinzipiell alle Tätigkeiten, auch die körperliche Liebe, in die Wertform überführt werden, sofern es für die in eine Dienst­leitung überführte Tätigkeit zahlungsfähige Kundschaft gibt. Zahlungsfähig sind Menschen aber nicht von Geburt an. Dennoch sind sie von Anfang an auf Versorgungsleistungen angewiesen. Zwar gewinnt der Mensch in der Regel mit den Lebensjahren an Selbständigkeit, irgendwann auch finanziell. Unterm Strich gehört Abhängigkeit aber in einem größeren Ausmaß als indivi­duelle Autonomie zum menschlichen Schicksal.

Frauen wird im Kapitalismus die Zeit gestohlen.

Der Kapitalismus ist, wie andere Wirtschaftsformen auch, darauf angewiesen, dass die Menschen versorgt werden, weil er ohne Menschen nicht existieren kann. Innerhalb des kapitalistischen Wirtschafts­systems kann die Versorgung von Personen in ­abhängigen Lebenslagen aber nicht gewährleistet werden. Da kommt der Staat ins Spiel, der mit sozial- und ­familienpolitischen Transferleistungen, durch die Verpflichtung zu Unterhaltszahlungen und deren Berücksichtigung bei der Einkommensteuer sowie in Rückgriff auf eine eigenständige Sozialwirtschaft das Strukturproblem des Kapitalismus bearbeitet. Genau genommen bearbeitet er nicht selbst das Strukturproblem, er gestaltet durch eine Umverteilung vielmehr die Voraussetzungen dafür, dass Menschen Versorgungsleistungen erbringen können und die kapitalistische Wirtschaft abgespalten von den restlichen Lebensbereichen fortbestehen kann. Die beiden aus dem Kapitalismus entstehenden Lebensbereiche sind von Anfang an zwischen Frauen und Männern ungleich aufgeteilt. Das ist zunächst unlogisch, da der Kapitalismus zwar auf die Sphärentrennung an­gewiesen ist, nicht aber auf die geschlechtliche Verteilung der Aufgaben.