Reingehört beim britischen Internetradio NTS

Streaming Killed the Radio Star

Der britische Internet-Radiosender NTS streamt höchst erfolgreich ein abwechslungsreiches Programm.

Während immer weniger Menschen herkömmliches Radio hören, verzeichnete der Internet-Radiosender NTS aus London für 2019 einen ­Hörerzuwachs von 65 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Ähnliches lässt sich für viele Internet-Sender ­konstatieren: Nicht nur werden sie öfter gehört, auch ist der Altersdurchschnitt ihrer Hörer deutlich niedriger als der derjenigen, die noch über den Äther empfangen. Schalteten 2009 noch 44,7 Prozent der unter 44jährigen die öffentlich-rechtlichen Sender der BBC ein, waren es 2019 nur noch 33,9 Prozent. Und die Hördauer sank im entsprechenden Zeitraum von 7,8 auf 4,6 Stunden in der Woche.

Anders bei NTS. Eigenen Angaben zufolge sind 90 Prozent der 1,5 Millionen monatlichen Zuhörerinnen und Zuhörer unter 35 und die durchschnittliche Hördauer beträgt 8,4 Stunden. Entsprechend gut gelaunt klingen der Gründer Femi Adeyemi, die Kreativdirektorin Tabitha Thorlu-Bangura und der Mitbetreiber Sean McAuliffe im Gespräch mit der ­Jungle World. »Wir könnten morgen mit ­unseren Live-Sendungen aufhören, und trotzdem würden immer mehr Leute zuhören«.

2011 gegründet, wird NTS sowohl über seine Homepage als auch über eine App zum Streamen angeboten. Zwei verschiedene Kanäle stehen ohne Unterbrechung zur Verfügung. Die werbefreien Sendungen werden von eingeladenen Künstlern oder Kollektiven produziert und dauern in der Regel eine bis maximal zwei Stunden. Hört man für eine Weile zu, stellt man kaum Kontinuitäten im Programm fest. Das liegt an der Kürze und der musikalischen Vielfalt der Sendungen und daran, dass viele von ihnen nur einmal in der Woche oder sogar nur im Monat gesendet werden. Zudem sind die meisten Musiktitel nicht sonderlich bekannt. Wer ein Stück nochmals hören will, kann es online in der Track-Liste finden, die es zu jeder Sendung gibt. Das unstete Format baut nicht auf die Identifikation der Hörer mit den ­Moderatoren, sondern auf die Musik.

Im Gegensatz zum ­herkömmlichen Radio ist Internetradio auf ­keinen geographischen Sendebereich beschränkt, sondern kann weltweit empfangen werden. Die monatlich rund 1 200 Sendungen auf NTS ­kommen aus über 50 Städten weltweit, der Sender betreibt neben ­seiner Zentrale in London mittlerweile drei weitere Studios in Manchester, Shanghai und Los Angeles. Der Stream ist allerdings nicht auf die Zeitzonen abgestimmt, weshalb es passieren kann, dass man an ­einem Sonntagmorgen ein hartes Techno-Set aus Mexiko-Stadt oder am Freitagabend Ambient aus ­Melbourne zu hören bekommt. Auf der ganzen Welt läuft dasselbe Lied, gleich, ob der Hörer es tags oder nachts zu hören bekommt.
Zudem ist die Musik oft von lokalen Strömungen oder Stilen geprägt, ­wodurch man einen guten Einblick in die Musikszenen der jeweiligen Länder erhält, zum Beispiel in den Shows »Beirut Daze« von Ernesto Chahoud, »Phambinho« des gleichnamigen DJ oder »Como la flor« von Jazmin. Beim Zuhören meint man, libanesischen Wüstensand, Smog aus Bangkoks Straßenschluchten oder Londoner Sprühregen in den eigenen vier Wänden zu spüren.

Angaben des Senders zufolge gibt es 60 Prozent der bei NTS laufenden Musik nicht über Spotify oder Apple Music zu hören. »Keinen Mainstream zu spielen, liegt uns am Herzen«, ­sagen die drei Radiobetreiber. Dieser Anspruch hat in der Radiogeschichte Großbritanniens eine gewisse Tradition. Sie geht zurück auf die frühen sechziger Jahre, als die ersten Piratensender von vor der Küste Englands liegenden Schiffen Rock und Pop aus den USA sendeten, den die BBC ­ignorierte, und damit wesentlich zu dessen Popularisierung in Europa beitrugen. Radio Caroline, der erste Piratensender, genießt heutzutage Kultstatus. Doch bedeutender für die Musikgeschichte ist wohl die Vielzahl an Sendern, die in den Neunzigern zum Aufschwung der Rave-­Musik beitrugen. Aus dieser Bewegung gingen Institutionen wie ­Rinse FM und Schlüsselfiguren der Londoner Musikszene wie DJ Uncle Dugs oder der Musikkritiker Simon Reynolds hervor. Auch heutzutage noch gibt es in London eine Vielzahl aktiver Radiopiraten, die eigenwilligen und unkonventionellen Sound über illegale Sender spielen.

So schwierig es ist, die unterschiedlichen Musikstile der NTS-Sendungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, breitet sich bei längerem Zuhören dennoch eine bestimmte Grundstimmung aus. Es ist düster, was einem aus den Lautsprechern entgegenschallt. Sendungen wie Maya Kalevs »Emotional Landscapes« oder Jamie Burks »Are You Before« stehen exemplarisch für den ­Schwerpunkt auf dunklen Ambient und geisterhafte elektronische ­Musik. Die Musikstücke sind mehrheitlich nicht im 4/4-Takt aufgebaut, häufig komplex strukturiert und ­wenig erbaulich. Zur düsteren Atmosphäre trägt auch bei, dass kaum Stimmen zu hören sind – weder als Gesang noch als Moderation. Der Eindruck, als Zuhörer nicht adressiert zu werden, steht in starkem Kontrast zu den im wörtlichen Sinn ansprechenden Formaten herkömmlicher Sender. Deren Kombination aus ­Hektik und Old-Time-Favorites ist typisch für den »rasenden Stillstand« zeitgenössischer Kulturproduktionen, wie ihn der Kritiker und Autor Mark Fisher diagnostizierte. Die immer gleiche Leier algorithmisch erzeugter Playlists, die von schlechten Kommentaren und Werbung unterbrochen werden, hat anscheinend immer noch Potential.

Vieles auf NTS klingt wie ein Gegenentwurf dazu. Der Drone, der in der monatlichen Show »Zuli« des gleichnamigen DJ aus Kairo gespielt wird, lässt an eine menschenleere, dystopische Welt denken. Vertraute Töne ratternder Züge schlingern ins Befremdliche, Menschenstimmen ­verzerren sich ins Unverständliche und Vogelrufe schrillen wie Alarmglocken. In der »Maple Syrup Waffle Show« von DJ Fatima läuft britischer Rap, der häufig klingt, als hätten die MCs Betäubungsspritzen bekommen, so sehr nuscheln und lallen sie. Es scheint, als teilte sich in diesen Sounds auch das Verstummen angesichts der nicht enden wollenden verbalen Übertrumpfung in Politik und Kultur mit.
NTS finanziert sich über ausgewählte Partnerschaften mit zahlungskräftigen Konzernen wie Adidas, Netflix oder Carhartt. »Für uns ist es wirklich wichtig, kreative Integrität zu wahren. Deshalb arbeiten wir nur mit Partnern zusammen, die unsere Ethik verstehen«, so die drei Macher im Gespräch. Zudem veranstaltet der Sender jeden letzten Freitag im ­Monat in Kooperation mit der japanischen Bekleidungskette Uniqlo die »Tate Lates« in der Tate Gallery of Modern Art in London. Die Kooperation mit der Kunstinstitution verleiht dem Sender das Prädikat »besonders wertvoll« und hat zugleich Stil. Mit »NTS Friends« begann im Dezember 2019 ein neues Finanzierungskonzept, das dem kollektiven Charakter des Senders entspricht: Die auf 1 000 Personen begrenzte Jahresmitgliedschaft für 50 Pfund war innerhalb weniger Wochen ausverkauft.