Roman Polanski beschäftigt sich mit der Dreyfus-Affäre

Die unaufhaltsame Wahrheit

Im Werk Roman Polanskis spielte der Antisemitismus mehrfach eine Rolle. Mit »Intrige« hat er nun einen Film über die Dreyfus-Affäre gedreht.

Die Armee ist ein kollektiver Körper, der dadurch entsteht, dass sich der Einzelne ihm unterwirft und seine Besonderheit ablegt – im wörtlichen Sinne durch den Tausch der Alltagskleidung gegen die Uniform. Das französische Wort »Corps« bedeutet nicht zufälligerweise auch »Körper« und entsprechend reagiert der Geist, den die Armee als Institution ausbildet, auf diejenigen, die er als »Schädlinge« ausmacht.

In der Eröffnungsszene von Roman Polanskis Film »Intrige«, der im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen in Venedig unter dem Titel »J’accuse« vorgestellt wurde – der Titel ist dem berühmten offenen Brief Émile Zolas entlehnt – und dieser Tage in den deutschen Kinos gezeigt wird, sind keine Individuen zu erkennen. Die weite Aufnahme des Hofes der École Militaire in Paris zeigt die Armee als Körperblock, in Formationen in Rot und Blau, aufgereiht entlang der Kasernenmauer unter einem düsteren Himmel. Im Stechschritt wird ein Mann aus der Masse herausgeführt, ein junger Soldat, mit Schnurrbart, Zwicker und starrem Blick. Was im Folgenden stattfindet, ist kein Prozess, sondern eine Zeremonie, der öffentlichkeitswirksame Vollzug eines Urteils. »Im Namen des französischen Volkes« wird der Schuldspruch des Hochverrats verkündet, als Strafe die Deportation und Bußhaft an einem befestigten Ort sowie die militärische Degradierung ausgesprochen. Unter Trommelwirbel werden dem Hauptmann die militärischen Abzeichen abgerissen und sein Säbel wird zerbrochen. »Man degradiert einen Unschuldigen«, ruft der Hauptmann mit zitternder Stimme. Von Schaulustigen, die den Zaun des Hofes säumen, schallen ihm Rufe wie »Verräter!« entgegen. »Wie sieht er aus?« fragt ein Offizier seinen Nebenmann, der das Geschehen mit dem Fernglas beobachtet. »Wie ein jüdischer Schneider, der weint, weil sein Gold im Müll landet.« Es ist der 5. Januar 1895 und bei dem entehrten Hauptmann handelt es sich um den 1859 im Elsass geborenen Juden Alfred Dreyfus, hier gespielt von Louis Garrel.

Kaum eine Krise hat Frankreich nachhaltiger geprägt als die von 1894 bis 1906 andauernde Dreyfus-Affäre. In ihrem Zuge zeigte sich der nie ganz verschwundene traditionelle Antisemitismus – es kam zu zahlreichen Ausschreitungen –, und sie war eine Zerreißprobe für die Dritte Republik. Die Resonanz auf die Affäre reichte weit über Frankreich hinaus, wo sie heutzutage noch ein immer wiederkehrender Bezugspunkt politischer Debatten ist. Noch in den achtziger Jahren, als ein Denkmal für Dreyfus auf dem Hof der École Militaire errichtet werden sollte, regte sich Widerstand. Die Statue wurde schließlich an einem ­anderen, weit weniger prominenten Ort aufgestellt.

In Deutschland wird Polanskis »Intrige« als Historiendrama beworben, eine Genrebezeichnung, die einen auf historischen Fakten gründenden Realismus suggeriert und zugleich den dramaturgischen Eingriff eingesteht. Polanski selbst bezeichnete den Film, bei dem es sich um eine Adaption des historischen Romans »An Officer and a Spy« von Robert Harris handelt, in cinematographischer Diktion als Thriller, wohl nicht zuletzt, weil die Ereignisse, die im Detail nur wenigen bekannt sein dürften, bereits ein derartiges Maß an verworrenem Ränkespiel und Intriganz in sich tragen, dass es der dramatischen Hervorhebung kaum bedarf.

Nachdem 1894 auf Grundlage eines zerrissenen Briefs der Verdacht militärischer Spionage für das Deutsche Kaiserreich aufgekommen war, konzentrierten sich die Ermittlungen schnell auf den jungen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, der eine steile Karriere in der Armee gemacht hatte. Schriften wie Édouard Drumonts »Das verjudete Frankreich« hatten das nie ganz verschwundene antisemitische Ressentiment gerade gegen jüdische Militärangehörige geschürt.

Ausgangspunkt der Anklage gegen Dreyfus war ein zweifelhafter Handschriftenvergleich, später fälschte der Chef der geheimdienstlichen Abteilung für Statistik ein Dossier, auf dessen Grundlage ein geheimes ­Militärtribunal Dreyfus schließlich verurteilte und auf die Teufelsinsel in Französisch-Guayana verbannte. Doch dann kam der neue Leiter der Statis­tik­abteilung, Georges Picquart – bei Polanski gespielt von Jean Dujardin – dem wahren Täter auf die Spur und bewies damit die Unschuld Dreyfus’, scheiterte allerdings mit seinen Bemühungen immer wieder am Antisemitismus in der Armee und der Furcht in der Institution, öffentlich an Ansehen zu verlieren. Als nach der öffentlichen Kampagne für Dreyfus 1899 ein zweiter Prozess stattfand, wurde der Angeklagte erneut verurteilt. Zwar wurde er zehn Tage nach dem Urteil begnadigt, seine Unschuld aber immer noch nicht anerkannt. Erst 1906 – was der Film nur im Abspann vermerkt – wurde Dreyfus rehabilitiert, befördert und mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet; kurze Zeit später schied er aus dem Militärdienst aus, er starb 1935.

In »Intrige« wird die Geschichte allein aus der Perspektive des Offiziers Picquart erzählt. Picquart ist, wie viele in der Armee, ein gewohnheitsmäßiger Antisemit; der eingangs zitierte Satz, der Dreyfus mit einem jüdischen Schneider vergleicht, stammt aus seinem Mund. Nicht ohne eine Spur Bewunderung wird Picquart jedoch als jemand gezeichnet, der, weniger aus republikanischer Emphase, sondern vielmehr aus Ehrgefühl und einer Verpflichtung zur Wahrheit, sein Ressentiment zurückstellt.
Dem Film fehlen die psychologische Eindringlichkeit und der Sinn für das Abgründige, die die frühen Filme Polanskis auszeichnen; merkwürdig losgelöst von der Handlung wirkt der Erzählstrang einer sexu­ellen Affäre, die Picquart mit einer verheirateten Frau unterhält, gespielt von Emmanuelle Seigner, der Ehefrau Polanskis.

Es ist freilich nicht das erste – und mit Blick auf »Der Pianist« (2002) auch nicht erst das zweite Mal –, dass Polanski, 1933 als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie in Krakau geboren, in seinen Filmen den Antisemitismus thematisiert. Schon »Der Mieter« von 1976, in dem ein andeutungsweise jüdischer und von Polanski selbst gespielter Mieter langsam in Wahnvorstellungen über die Bewohner und Vermieter des Hauses verfällt, kann als Reflexion auf die jüdische Erfahrung der Fremdheit verstanden werden. Auch das Motiv der Enge und der Verwandlung ­eines Orts der Sicherheit in einen Ort der Gefahr, das die gesamte »Mietertrilogie« Polanskis durchzieht, dürfte auf die Kindheit des Regisseurs im Warschauer Ghetto zurückzuführen sein. »Ekel« (1965), »Rose­mary’s Baby« (1968) und »Der Mieter« (1976) spielen jeweils in einem Zuhause, das aufhört, Rückzugsort zu sein, und stattdessen zum Schauplatz des Wahns, der Verfolgung und der Gewalt wird. Transponiert auf die Ebene des Nationalen ist dies auch ein Thema von »Intrige«, gab es doch kaum ein Land, von dem sich Juden so sehr versprachen, frei und ohne Angst in ihm leben zu können, wie Frankreich.

Den hartnäckigen Versuchen der Medien, den Regisseur und sein Werk in eins zu setzten, entzog sich Polanski in der Vergangenheit weit­gehend: Er gab kaum Interviews und ließ seine Filme sprechen. Im Fall von »Intrige« scheint die Strategie des 86jährigen eine andere zu sein. Möglicherweise waren seine Äußerungen der Versuch, dem Verdacht ­einer unangebrachten Identifikation Polanskis mit Dreyfus entgegenzuwirken. Bekanntlich wurde Polanski 1977 der Vergewaltigung der damals 13 Jahre alten Samantha Jane Gailey (heute Geimer) angeklagt.

In dem mit bis dahin ungekanntem Medienaufwand verfolgten Prozess, der vor allem die Privatsphäre des Opfers rücksichtslos verletzte, bekannte sich Polanski in einer Vereinbarung zwischen Staatsanwalt und Verteidigung des Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen schuldig und verbrachte 42 Tage im Gefängnis, ­psychologische Gutachten empfahlen eine Strafe auf Bewährung. Als sich aber andeutete, dass sich der leitende Richter, dessen Befangenheit in der Zwischenzeit alle Beteiligten bestätigten, über das Gutachten hinweg­setzen würde, verließ Polanski die Vereinigten Staaten. Er lebt seitdem in Frankreich.

Bereits die Premiere von »Intrige« in Venedig, der Polanski fernblieb, war umstritten. Kurz vor dem französischen Kinostart beschuldigte die Fotografin Valentine Monnier Polanski zudem, sie 1975 ebenfalls vergewaltigt zu haben, es kam zu Protesten bei Aufführungen. Es war Pascal Bruckner, der in einem den Pressematerialien beigelegten Interview Polanski fragte, nachdem dieser bereits auf die Virulenz des aktuellen Antisemitismus hingewiesen hatte, ob dieser, als Jude, auch den »neofeministischen McCarthyismus« überstehen werde.

Zunächst zögernd, antwortete Polanski schließlich, er sehe durchaus Parallelen ­zwischen dem, was er erlebt habe, und der Dreyfus-Affäre. Mit Dreyfus identifiziere er sich aber keinesfalls, so Polanski – das hatte stattdessen im vergangenen Jahr ganz explizit der ebenfalls mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontierte französische ­Islamwissenschaftler Tariq Ramadan für sich in Anspruch genommen –, eher mit Picquart, wegen dessen Disziplin und Hartnäckigkeit. Das ist durchaus etwas anderes, als die Reaktion Polanskis auf eine ähnliche ­Frage nach dem Zusammenhang zwischen seinem Werk und seiner ­Erfahrung in einem Interview von 2012: »Verstehen Sie doch, ich drehe Filme und in einigen finden sich ­sicher Elemente aus meinem Leben. Aber doch nicht absichtlich. Die ­Vorstellung mag ja verführerisch sein, aber die Menschen überschätzen mich: Da ist nichts.«

Intrige (Frankreich 2019). Regie: Roman Polanski. Buch: Robert Harris und Roman Polanski. Darsteller: Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner, Grégory ­Gadebois