Es gibt mehr Kritik an Polizeigewalt mit Spezialwaffen in Frankreich

Hand ab, Auge raus

Die überbordende Polizeigewalt mit Spezialwaffen in Frankreich sorgt für Empörung, ein gewisses Verständnis zeigt sogar Staatspräsident Macron. Die Polizei­gewerk­schaften reagieren darauf unwirsch.

Die Damen und Herren von der Polizei waren sehr unzufrieden. Da hat man schon ein Imageproblem, dann fällt einem auch noch der Staatspräsident in den Rücken! Am Donnerstag voriger Woche reiste Emmanuel Macron zur Eröffnung der jährlich im Januar stattfindenden Comicmesse im südwestfranzösischen Angoulême an. Dort drückte ihm der 45jährige Comiczeichner Jul ein T-Shirt für ein gemeinsames Foto in die Hand. Auf dem T-Shirt hatte er das offizielle Motto der Messe, »BD 2020« – das Kürzel steht für bandes dessinées, also Comicstrips –, in »LBD 2020« abgewandelt. LBD, ausgeschrieben lanceur de balles de défense, ist die Gattungsbezeichnung für Gummigeschossgewehre, die die französische Polizei verwendet. Die bekannteste Variante ist der LBD 40, wobei die Zahl für das Kaliber in Millimetern steht.

Der Generalsekretär einer Polizeigewerkschaft sagte, Polizei und Gendarmerie seien »die letzten Festungswälle der Republik« in diesen »Zeiten des Chaos«.

Auf dem T-Shirt von Jul sieht man ferner eine Katze, die zwei Pflaster auf dem linken Auge trägt. Etwas Blut rinnt über das Heftpflaster. Die Anspielung wurde in Frankreich allgemein verstanden. Etwa 25 Menschen hatten im vergangenen Jahr bei Demonstrationen, überwiegend im Zusammenhang mit den Protesten der Bewegung der ­»Gelben Westen«, ihr Augenlicht auf einer Seite wegen des Einsatzes solcher Gummigeschosse verloren.

Bekannt wurde etwa der Fall des 41jährigen Leiharbeiters aus Valenciennes, dessen Vorname Manuel im November durch nahezu alle Medien ging. Bei den Protesten am 16. November aus Anlass des ersten Jahrestags der Gelbwestenbewegung war er in Paris auf der Place d’Italie am Kopf verletzt worden, wobei ein Auge zerstört wurde. Videos zeigten erstmals genau, wie ein Gummigeschoss einen Demonstranten traf, der ruhig und mehrere Hundert Meter entfernt von den andernorts stattfindenden Zusammenstößen herumstand. Dieses Mal berichteten auch bürgerliche Leitmedien ausführlich und mit empörtem Unterton. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate erfasste eine Welle der Entrüstung auch relevante Teile der bürgerlichen, zumindest der liberalen Öffentlichkeit weit über die üblichen Verdächtigen der Linken, der Gelben Westen und der sozialen Bewegungen hinaus. Erstmals hatte das Verschwinden des 24jährigen Partygängers Steve Maia Camiço am 21. Juni vergangenen Jahres – dem Abend des jährlichen Musikfests – in Nantes (Jungle World 32/2019) einen solchen Effekt gezeitigt. Nach einem harten Polizeieinsatz war er in der Loire ertrunken, man sprach von dem jungen Mann nur als »Steve«. In den vergangenen Monaten häufte sich die Kritik an solchen Polizeieinsätzen. Innenminister Christophe Castaner – ein früherer rechter Sozialdemokrat und jetziger Parteigänger Macrons – hatte im vorigen Juni, fünf Tage vor dem Verschwinden von Steve, gesagt, er lehne den Gebrauch des Begriffs »Polizeigewalt« ab. Dieser suggeriere, eventuell zu beklagende einzelne ­Verfehlungen hätten in irgendeiner Art und Weise System.

Zwar sagt auch sein oberster Vorgesetzter, Präsident Emmanuel Macron, in der Sache nichts anderes. Doch er akzeptierte es, mit dem von Jul gezeichneten T-Shirt vor den Kameras zu posieren. Dies war kein radikaler Akt, Macron liebt es, bei manchen Auftritten eine verständige bis kumpelhafte Pose einzunehmen. Unwirsch reagierten jedoch die Polizeigewerkschaften darauf. Fabien Vanhemelryck, der Generalsekretär der größten von ihnen, ­Alliance, sagte, Polizei und Gendarmerie seien »die letzten Festungswälle der Republik« in diesen »Zeiten des Chaos«. Man »erwartet etwas anderes von einem Präsidenten, als dass er sich mit einem ­T-Shirt zeigt, das suggeriert, die Einsatzkräfte sorgten dafür, dass Demonstranten ein Auge verlieren«. Der Comic­zeichner Jul analysierte die Szene anders: »Macron ist sich bewusst, dass Kritik verdaut und in seinen eigenen Diskurs integriert werden kann, wenn er ihr nur mit genügend Intelligenz und Humor begegnet.«

Neue Vorfälle ließen die Polemik in den vergangenen Wochen wieder auf­leben. Bei den Protesten gegen die Rentenreform am 9. Januar etwa hatten Polizisten eine Demonstrantin, die in der Nähe des Polizeispaliers ihr Handy vom Boden aufheben wollte, geschlagen; sie gehört der als moderat geltenden Gewerkschaft UNSA bei der Bahngesellschaft RATP an. Ein Video von diesem Vorfall gingen durch die Medien.
Um auf die aufflammende Debatte zu reagieren, kündigte Innenminister Castaner am 27. Januar an, er werde die umstrittene Polizeigranate GLIF4 aus dem Verkehr ziehen. Diese enthält den Strengstoff TNT, beim Aufplatzen verströmt sie Tränengas und entfaltet eine Blendschockwirkung. Bei den Protesten der Gelben Westen war fünf Demonstranten eine Hand abgerissen worden, das ging teils auf den Einsatz der GLIF4 zurück. Als im Jahr 2014 ein Lohnabhängiger der Fabrik Alsetex, wo die Geschosse hergestellt wurden, bei einem Arbeitsunfall zu Tode kam, wurde die Produktion vorübergehend eingestellt. Im selben Jahr kam ein Untersuchungsbericht der Dienstinspektion IGPN zu dem Ergebnis, es könne ein Tötungsrisiko bestehen, wenn diese Granate auf Höhe des Oberkörpers explodiere. 2017 hatte die Regierung ihren Entschluss verkündet, die Herstellung der GLIF4 endgültig einzustellen. ­Allerdings sollten die vorhandenen Bestände noch genutzt werden, bis diese aufgebraucht seien, »bis zum Zeithorizont 2020 bis 2022« – der nun erreicht sein dürfte. Aber die GLIF4 wird umgehend durch eine andere Granate, die GM2L, ersetzt; die enthält zwar kein TNT, hat aber eine vergleichbare Sprengkraft.
In allerjüngster Zeit waren kaum neue Vorfälle von Polizeigewalt zu verzeichnen. Das liegt aber nicht so sehr an einem weniger repressiven Vorgehen der Polizei. Die Regierung schien ihr vielmehr taktische Zurückhaltung aufzuerlegen, um unschöne Bilder von Konfrontationen zu vermeiden. Sie verlautbart derzeit ständig, die Sozialproteste gingen stetig zurück. Eine anhaltende Gewaltdebatte in den Medien stünde dazu im Widerspruch. Das Totschweigen von Protesten scheint der Regierung derzeit mehr Erfolg zu versprechen, als sie niederzuknüppeln.