Abschluss der »Lahme Literaten«

Lahme Literaten

Epilog: Literaturgeschichte.

Ein Panorama literarischer Mediokrität wird selber mittelmäßig, wenn es sich vom Prinzip allen Mittelmaßes, der endlosen Addition, bestimmen lässt. Darum wird dieses hier nicht mit einem weiteren Beispiel beschlossen, dem Dutzende andere folgen könnten, sondern mit einem Blick auf die Form, in der das Mittelmaß sich in seiner Geschichtsschreibung reflektiert. Literaturgeschichten, die einen gültigen Kanon voraussetzten, pflegten das Mittelmaß aus­zuschließen oder nur am Rande zu erwähnen. Noch die lesenswerte Literaturgeschichte, die der Berliner Germanist Peter Sprengel 2004 für die Zeit von 1870 bis 1918 vorgelegt hat, hält sich an dieses Rezept, widmet dem Mediokren aber Exkurse. ­Einen Gegenentwurf zur klassischen Variante hat der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer geschrieben: »Die ­kurze Geschichte der deutschen Literatur«, 2002 erschienen, entwickelt ihren Gegenstand auf 150 Seiten ohne Fußnoten mit Mut zum ungedeckten Urteil und in einer konzisen Eleganz, die der bräsigen Gelehrsamkeit des deutschen Historikerstandes den angemessen polemischen Bescheid erteilt. Stilbildend für das Selbstverständnis deutschsprachiger Gegenwartsliteratur wurde aber weder Sprengels Solidität noch Schlaffers Witz, sondern ein Autor, dessen öde Jovialität mit der lahmen Literatur, deren Loblied sie singt, glänzend harmoniert: Volker Weidermann.

Weidermann, nicht erst als Moderator des »Literarischen Quartetts« (von 2015 bis 2019) zur literaturhistorischen Plauder­tasche berufen, veröffentlichte 2006 den Band »Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute«. Darin geht es, wie Hubert Winkels kulant in der Zeit vermerkte, »nur am Rande um Literatur, das heißt um Texte, um Machart, Form, Sprache und Dramaturgie«; stattdessen regierten »Lebendigkeit, Lebensnähe, Leidenschaft und Lässigkeit«. Lässig ist Weidermanns Verhältnis zur Vorgeschichte der Lite­ratur nach 1945 (NS, Eroberungskrieg, Holocaust etc. pp.), die er im Eingangskapitel mit dem launigen Titel »Wo waren sie am 8. Mai?« mal eben anklickt – »Günter Grass kämpft«; »Klaus Mann stürmt als Soldat der US Army atemlos durch das besiegte Europa«; »Hermann Hesse hat in Montagnola in der Schweiz eher Luxussorgen«; »Thomas Bernhard ist schon vierzehn« –, um mit dem erleichterten Seufzer: »Doch er ist da, der Neubeginn. Dort in Deutschland, in der Welt. Und damit fangen wir an«, zu den »Hauptfiguren der deutschen Nachkriegsliteratur« überzuleiten. Tatsächlich gelingt es ihm, Außenseiter und Repräsentanten, Megalomaniker und Verscheuchte, Ernste und Witzige allesamt zu Abziehbildern dessen zu degradieren, was von allen guten Geistern glücklich Verlassene für lebendig, lebensnah und leidenschaftlich halten. Heinrich Mann wird zum »Greis ohne Wiederkehr«, Oskar Maria Graf tritt als »Lederhose in New York« auf und Wolfgang Borchert als »One-Hit-Wonder des neuen Deutschland-West«; Karl Valentin war ein »Sprach­akrobat« und Alfred Döblin »unser Mann im Dichterolymp«; Thomas Manns Ruhm »leuchtet weit«, der »kleine Peter Handke« löste die Gruppe 47 »mit einem Federstrich auf«; Arno Schmidt schrieb »Geschichten über Feen und Elementargeister« und Paul Celan fasste »die Schrecken der Zeit in Sprache«. Alle waren sie nur Menschen, alle schrieben sie vor sich hin, erlebten Glück und Leid und waren, glaubt Volker Weidermann, dabei genauso doof, genauso ersetzbar, genauso vergesslich, ge­nauso egal wie er selbst. Sein Buch ist keine Geschichte der deutschen Literatur, sondern Symptom der geschichtslosen Gegenwart, für die er schreibt.