Der weibliche Beitrag zum Surrealismus in der Kunsthalle Schirn an

Der andere Surrealismus

Neben berühm­ten Namen wie Louise Bour­geois, Frida Kahlo oder Meret Oppen­heim präsentiert die Frankfurter Kunsthalle Schirn in ihrer Ausstellung »Fantastische Frauen« wenig bekannte Künstlerinnen wie Alice Rahon oder Kay Sage aus mehr als drei Jahr­zehn­ten surrea­lis­ti­scher Kunst.

Das bunte Selbstporträt Frida Kahlos mit den dichten, zusammengewachsenen Augenbrauen ist in diesen Tagen in Frankfurt am Main omnipräsent. Die große Frühjahrsschau »Fantastische Frauen« wirbt mit dem Bild wie für ein hippes Produkt. Es springt einem bei der Einfahrt des Zuges von der Werbetafel im Hauptbahnhof entgegen, und rund um den Römer tragen Touristen Frida Kahlo auf ihren Taschen herum. In den in Rot, Lila und Weiß gehaltenenen Ausstellungsräumen in der Kunsthalle Schirn ist Kahlos Werk allerdings weniger prominent vertreten, erst im letzten Drittel des Rundgangs stößt man darauf. Fast möchte man beim Anblick der bekannten Frida-Porträts gähnen, zu gut kennt man die Motive: das von zahlreichen Pfeilen durchbohrte Reh, darauf montiert der Kopf der Künstlerin. Oder auch die Porträts, in denen auf der Stirn der Kopf Diego Riveras gespiegelt wird. Die Leidensgeschichte Frida Kahlos, die entschieden hatte, aus dem Schatten des Malermachos herauszutreten und sich durch ihre Kunst zu behaupten, erscheint abgenutzt.

Nicht immer kann die Ausstellung dem eigenen Anspruch, die surrealistischen Künstlerinnen als unabhängige Persönlichkeiten vorzustellen, völlig gerecht werden.

Dabei lockt die Schau auch mit anderen bekannten Surrealistinnen. Die Ausstellung will den Bogen schlagen von Meret Oppenheim bis hin zu Louise Bourgeois und rühmt sich, erstmals umfassend den weiblichen Beitrag zum Surrealismus herauszustellen. Tatsächlich zeugen die rund 260 Werke, darunter Gemälde, Papierarbeiten, Skulpturen, Fotografien und Filme von insgesamt 34 Künstlerinnen, von der Vielfalt der Werke und Sujets. Unter deren Schöpferinnen sind auch eher unbekanntere Namen zu finden, so etwa die Belgierinnen Jane Graverol und Rachel Baes oder die in Indien geborene Ithell Colquhoun, die in ihren Werken die Besessenheit der Surrealisten von Sexualität, Erotik und Dominanz parodiert. Die im Stil einer Wandstickerei gehaltene Arbeit »Andenken an das Frühstück im Pelz« von Meret Oppenheim, eine Reminiszenz an ihre berühmte Pelztasse, die heute als Emblem des Surrealismus im New Yorker MoMA ausgestellt ist, bildet den Auftakt. Eine Skulpturenecke mit von der Decke herabhängenden Brüsten und Phalli von Louise Bourgeois in gleißendem Weiß beschließt den Ausstellungsrundgang. Beide Frauen sind Surrealistinnen, die Bekanntheit erlangten – auch ohne die sogenannten großen Meister an ihrer Seite.

Zu Beginn des Ausstellungsrundgangs wird das Prinzip des »Cadavre exquis« erklärt und anhand von Collagen veranschaulicht. Es handelt sich dabei um eine spielerische Methode, dem Zufall bei der Entstehung von Texten und Bildern Raum zu geben. Eine Einordnung des Surrealismus als nicht nur ästhetische, sondern spätestens mit dem Zweiten Surrealistischen Manifest André Bretons (1930) auch politisch-sozialrevolutionäre Strömung vermisst man hingegen. Hier lohnt ein Blick in den begleitenden Katalog, denn in den klugen Essays findet man die Kontextualisierung, die die Schau nicht bietet.

Stattdessen verfestigt sich beim Rundgang der Eindruck, dass der Surrealismus ein erlesener Männerclub war, in dem Frauen zwar vergöttert, jedoch zu Musen und Kunstobjekten erklärt und nicht als eigenständige Künstlerinnen angesehen wurden. Im Katalog heißt es, dass Max Ernst, von dem der Ausspruch »Das Weib ist ein mit weißem Marmor belegtes Brötchen« stammt, in einer Mischung aus Anerkennung und Ironisierung Meret Oppenheims erste Einzelausstellung in Basel mit den Worten kommentiert haben soll: »Wer überzieht die Suppenlöffel mit kostbarem Pelzwerk? Das Meretlein. Wer ist uns über den Kopf gewachsen? Das Meretlein.«

Leonora Carrington: »Selbstbildnis in der Auberge du Cheval d’Aube«, 1937/1938

Leonora Carrington: »Selbstbildnis in der Auberge du Cheval d’Aube«, 1937/1938

Bild:
VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Dass die Künstlerinnen oftmals im Schatten ihrer Freunde und Ehemänner wie etwa Hans Arp, Max Ernst oder Pablo Picasso standen, räumt die Schau ein. Die sorgsam zusammengetragenen Lebensläufe der Künstlerinnen verdeutlichen, dass die meisten Frauen zunächst als Modelle, Musen, zeitweise als Partnerinnen in den Kreis um André Breton gelangten. Den Fehler, die sogenannte Frauenkunst vergleichend neben die renommierten Arbeiten männlicher Künstler zu stellen, macht die Ausstellung nicht, vielmehr stellt sie den eigenständigen Beitrag der Künstlerinnen für den Surrealismus heraus. Oftmals kamen sie als »Begleiterinnen« in die aus Männern bestehende Gruppe. »Aus dieser Rolle brachen sie jedoch aus und schufen selbstbewusst unabhängige Werke und entwickelten ihre eigenen Stile«, erklärt die Kuratorin Ingrid Pfeiffer.

Nicht immer kann die Ausstellung dem eigenen Anspruch, die Künstlerinnen als unabhängige Persönlichkeiten vorzustellen, völlig gerecht werden. Dass die Fotografin und Malerin Dora Maar neun Jahre lang mit Pablo Picasso liiert war, findet wie selbstverständlich Erwähnung. Ähnlich verhält es sich bei der mexikanisch-britischen Künstlerin Leonora Carrington, die 1937 als Studentin nach Paris kam. Der Beziehung zu Max Ernst wird derart großes Gewicht beigemessen, dass es schwerfällt, ihr Werk losgelöst von den Arbeiten Ernsts zu betrachten. Carrington, deren mythische Tierwelten wirken wie aus Fantasy-Filmen, stellt sich und Ernst im Vogelkostüm dar – ein Rekurs auf die Vogelwesen, die Ernst selbst immer wieder in Collagen und Graphiken gezeichnet hat. Wie sie aufgrund der Trennung von Ernst, Kriegstraumata und einer Überdosierung von Cardiazol, das ihr im faschistischen Spanien verabreicht wurde, in den Wahnsinn abglitt, spiegelt sich in ihrem Werk eindrucksvoll wider.

Claude Cahun: Selbstporträt

Claude Cahun: Selbstporträt (»I Am in Training… Don’t Kiss Me«), ca. 1927

Bild:
Claude Cahun

Viele Künstlerinnen wählten als Motive Mischwesen aus Mensch und Tier, emanzipierten sich, indem sie die ihnen zugewiesenen heteronormativen Geschlechterrollen in Frage stellten, ein geschlechtsneutrales Pseudonym annahmen und in ihren Kunstwerken mit Identiäten spielten. So auch Claude Cahun, die mit bürgerlichem Namen Lucy Renée Mathilde Schwob hieß. Gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin ging die französische Jüdin im Zweiten Weltkrieg in den antifaschistischen Widerstand und entging nur knapp ihrer Hinrichtung durch die Nazis. Große Teile ihres Werkes wurden von der Gestapo zerstört.

Wohltuend an der Schau ist, dass sie weitgehend auf bedeutungsschwere Zitate verzichtet und die Biographien der Künstlerinnen und ihre Werke für sich sprechen lässt.

Toyen, das Pseudonym der tschechischen Malerin Marie Čermínová ist angelehnt an citoyen, das französische Wort für Bürger. Auch Toyen zog explizit Konsequenzen aus der politischen Situation. So gründete sie im März 1934 die Surrealisten-Gruppe der Tschechoslowakei, die sich auf den Marxismus berief. Die Bedrohung durch den Nationalsozialismus ist in ihrem Werk gegenwärtig. Spalten und Risse durchziehen ihre Landschaften. In dem Gemälde »Gefährliche Stunde« von 1942 zeigt sie einen an den nazistischen Reichsadler gemahnenden riesigen Greifvogel. Toyen stand während der NS-Besatzung auf der Liste entarteter Künstler und arbeitete mit dem jüdischen Dichter und Fotografen Jindřich Heisler, den sie in ihrer Wohnung versteckte, im Verborgenen. Stets verweigerte sie jede Einordnung ihres Werks. In den seltenen Aussagen über sich und ihr Werk betonte Toyen: »Je ne suis pas peintre.« (Ich bin kein Maler.)

Sehenswert sind auch die in der Ausstellung gezeigten experimentellen Kurzfilme »Die Muschel und der Kleriker« (1927) von Germaine Dulac und »Meshes of the Afternoon« (1943) von Maya Deren und Alexander Hammid. Maya Deren, mit bürgerlichem Namen Eleanora Derenkovskaya, griff beim Schreiben des Drehbuchs auf persönliche Erinnerungen und Träume zurück. Der schwarzweiße Stummfilm zeigt typische surrealistische Bildobjekte wie Brotmesser, Blume, Telefon, wehende Vorhänge und eine verhüllte Gestalt. Der knapp 15minütige Film entführt in halluzinatorische Bildwelten. Traum und Wirklichkeit verschwimmen zu der von André Breton propagierten Surrealität.

Wohltuend an der Schau ist, dass sie weitgehend auf bedeutungsschwere Zitate verzichtet und die Biographien der Künstlerinnen und ihre Werke für sich sprechen lässt. Allerdings wird die Rede von der emanzipierten Frau merklich überstrapaziert. Dabei wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass es zu keiner Zeit eine geschlossene weibliche Surrealistinnenbewegung gab. Zudem stießen die Frauen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten zu den Künstlergruppen. Viele entdeckten den Surrealismus erst, Jahrzehnte nachdem die Bewegung begründet worden war, und begriffen sich aus unterschiedlichsten Gründen als Surrealistinnen. Die Wertung einer Künstlerin als besonders »subversiv« ist auch nicht in jedem Fall vollständig nachvollziehbar, wie im Fall von Leonor Fini. Gelungen ist es der Ausstellung dennoch, sich von der Darstellung der Frauen im Schatten der großen Meister zu lösen und das Augenmerk gezielt auf das Schaffen von bislang wenig bekannten Surrealistinnen zu legen. Nicht zuletzt zeigt »Fantastische Frauen« Zwischengeschlechtlichkeit als Kunstform und Normalität jenseits von Gendersternchen.

Fantastische Frauen. Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main. Bis 24. Mai.