In Frankreich ist ein »gesundheitlicher Ausnahmezustand« in Kraft getreten

Applaus für das Pflegepersonal

In Frankreich sind die ersten Ärzte an der Covid-19-Pandemie gestorben. Die Exekutive verhängte einen »gesundheitlichen Ausnahmezustand« mit einschneidenden sozialpolitischen Folgen.

Hunderttausende stehen in Frankreich Abend für Abend um Punkt 20 Uhr am Fenster und spenden Applaus. Nicht etwa ihren Politikern – vielmehr den Ärztinnen, Krankenpflegern und Mitarbeitern im Gesundheitswesen. Diese Berufsgruppe, vor allem das Personal in den öffentlichen Krankenhäusern, wurde in den vergangenen Jahren im Zuge der harten Sparpolitik schlecht behandelt; seit März vergangenen Jahres fanden immer wieder Streiks in Krankenhäusern statt. Nun gelten sie als eine Art »Helden der Nation«, doch der öffentliche Applaus dürfte kaum für die Gefahren entschädigen. Am Sonntag starb in Lille ein Krankenhausarzt, der sich drei Woche zuvor in Compiègne – einem der ersten Fallcluster in Frankreich – mit Covid-19 infiziert hatte. Der Tod von zwei weiteren Ärzten wurde am Montag aus dem Elsass gemeldet, einem weiteren Cluster, dessen hohe Infektionsrate auf ein Evangelikalentreffen mit 2 000 Menschen vom 17. bis 23. Februar in Mulhouse zurückzuführen ist.

Was derzeit mit der akuten Krise gerechtfertigt wird, dürfte bald das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit allgemein beeinflussen.

Auch im Parlament gibt es Fälle von Covid-19, 26 Abgeordnete und einige Mitarbeiter sind infiziert, mutmaßlich weil ein Parlamentsmitglied in Mulhouse bei dem Evangelikalentreffen vorbeigeschaut hatte. Das hinderte die Nationalversammlung und den Senat nicht daran, vorige Woche bis zum Sonntag in Notsitzungen zu tagen, allerdings in reduziertem Format – drei Abgeordnete pro Fraktion und das Präsidium, insgesamt 25 Personen, bildeten nach einer parteiübergreifenden Absprache die Nationalversammlung, die eigentlich 577 Abgeordnete zählt. Es ging darum, ein Gesetz zum »gesundheitlichen Ausnahmezustand« zu verabschieden, das weitgehend den Notstandsgesetzen für innenpolitische Konflikte und Krisen nachempfunden ist.

Nunmehr kann die Exekutive den Notstand für einen Monat ausrufen. Nach dessen Ablauf muss das Parlament ihn verlängern, für eine Zeit, die es selbst festlegt. Es ermächtigte zugleich die Exekutive, zwei Monate lang bei bestimmten Themen ohne parlamentarische Prüfung Regierungsverordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Beide Parlamentskammern stimmten beim abschließenden Votum am Sonntagabend zu. Der Notstand bringt unter anderem Ausgangsbeschränkungen mit sich und einen mehrmonatigen Aufschub für die zweite Runde der Kommunalwahlen. Es geht jedoch auch um Beschränkungen im Arbeits- und Sozialrecht. Der heikle Punkt ist, dass das Notstandsgesetz in der jetzigen Fassung keine Frist für die Gültigkeit der Krisenregelungen festlegt.

Zu diesen zählt auch das Recht des Arbeitgebers, einseitig den Urlaub der Lohnabhängigen festzusetzen oder bereits gewährten Urlaub aufzuschieben, ohne die bis dahin geltende gesetzliche einmonatige Vorwarnfrist einzuhalten. Überdies werden im Gesundheitswesen die Obergrenzen für Überstunden aufgehoben.

Im ersten Entwurf war zudem vorgesehen, dass die Arbeitgeber die Lohnabhängigen zwingen können, während der Krise maximal eine Woche ihres Jahresurlaubs zu nehmen. Letztlich wurde ein Kompromiss mit der Opposition geschlossen: Nach der in dritter Lesung angenommenen endgültigen Fassung muss ein Branchen- oder ein Firmenkollektivvertrag diese Zwangsbeurlaubung gestatten. Wenn allerdings auf die Gesundheits- absehbar die Wirtschaftskrise folgt und der Arbeitgeber droht, massenhaft Arbeitsplätze zu streichen – werden dann viele örtliche Gewerkschaftssektionen zu widerstehen wissen?

Zudem muss nur ein Teil der Gewerkschaften zustimmen – ein Abkommen ist gültig, wenn die unterzeichnende Gewerkschaft mindestens 30 Prozent der Stimmen bei den letzten Betriebsratswahlen erhielt; und einer solchen Zustimmung bedarf es nur für den gesetzlichen Urlaub, nicht jedoch für den Freizeitausgleich. Ab jetzt können die Arbeitgeber bis zu 48 Stunden – also 13 Überstunden – pro Woche arbeiten lassen und selbst festlegen, wann die dadurch anfallenden Überstunden durch Freizeit kompensiert werden – also dann, wenn ihnen keine Aufträge vorliegen. Was derzeit mit der akuten Krise gerechtfertigt wird, dürfte bald das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit allgemein beeinflussen.