Ein Gespräch mit der Sozialwissenschaftlerin Mona Motakef über Prekarität und Geschlechterverhältnisse

»Erwerbsarbeit ist wie eine Ersatzreligion«

Mona Motakef ist derzeit Gastprofessorin für »Soziologie der Arbeit und der Geschlechterverhältnisse« am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Zusammen mit Christine Wimbauer hat sie das Buch »Prekäre Arbeit, prekäre Liebe. Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse« verfasst, das Anfang dieses Monats im Campus-Verlag in gedruckter Form und als frei zugängliche Online-Publikation erschienen ist.
Interview Von

 

Die sogenannten Hartz-Reformen, die zwischen 2003 und 2006 in Kraft traten, bedeuteten einen sozialpolitischen Paradigmenwechsel und führten zu wachsender Prekarität. Was hatte das für einen Einfluss auf die Beschäftigungsverhältnisse und Lebensbedingungen?

Mit der Einführung von Hartz IV ist es zu einem starken Ausbau unsicherer Beschäftigungsverhältnisse gekommen. Es geht nicht mehr darum, gute, existenzsichernde Arbeitsplätze, sondern überhaupt Arbeitsplätze zu schaffen. Das hat auch Eigenaktivität und Selbstverantwortung stärker in den Fokus gerückt. Subjektiv und gesellschaftlich wird Arbeitslosigkeit seitdem viel stärker als persönliches Scheitern verstanden. Sozial- und arbeitsmarktpolitisch geht es nicht mehr darum, Leute für einen längeren Zeitraum in sichere Arbeit, sondern sie möglichst schnell in Beschäftigung zu bringen. Dazu kommen die verschärften Einsparungen bei der Daseinsvorsorge und die Privatisierung von öffentlichen Gütern. Deren Effekte sehen wir ja zum Beispiel gerade durch die Coronakrise sehr stark in der Gesundheitsversorgung. Diese Entwicklung trug aber schon vorher zur Prekarität des gesamten Lebens bei.

Was bedeutet prekäre Beschäftigung für die Betroffenen?

Wir leben in einer sehr erwerbszentrierten Gesellschaft, Erwerbsarbeit ist wie eine Ersatzreligion. Sie hat nicht nur die Funktion, Geld zu verdienen, sondern es geht auch um Sinn, um Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe. Das kommt für Leute, die an der Armutsgrenze leben, zu den Problemen von fehlender Sicherheit und Planungsperspektive noch dazu. Für unsere Forschung haben wir uns für Menschen interessiert, die sich nach Robert Castel (französcher Soziologe, Anm. d. Red.) in der »Zone der Prekarität und Verwundbarkeit« befinden, die in Teilzeit, in Minijobs, in Zeitarbeit und befristet arbeiten, nicht hochqualifiziert sind und im Bereich der Armutsrisikogrenze verdienen oder erwerbslos sind.

In Deutschland leben rund zwölf Prozent der Erwerbsbevölkerung in einer »verfestigten prekären Lage«. Das hat wahrscheinlich nicht nur Auswirkungen auf die Betroffenen, sondern auch gesellschaftliche.

Auf jeden Fall. Eine von uns Befragte hat das so auf den Punkt gebracht: »Das löchert die Gesellschaft von innen heraus aus.« Die Zunahme prekärer Beschäftigung hat sehr weitreichende Folgen, auch auf die anderen Arbeitsverhältnisse. Die Einführung von Leiharbeit in der Automobilindustrie hat zum Beispiel auch zu einer Verunsicherung der eigentlich sicher Beschäftigten geführt.

Sie haben Menschen aus der »Zone der Prekarität und Verwundbarkeit« interviewt. Wie sind diese denn typischerweise in diese Zone hineingeraten?

»Die Dankeschöns und das Klatschen sind Formen von symbolischer gesellschaftlicher Anerkennung, die wichtige Arbeit sichtbar machen. Aber diese Anerkennung wird nicht materiell eingelöst, sie ist unvollständig.«

Das war ganz unterschiedlich, und das ist auch für die Debatte ein ganz wichtiger Punkt, dass es sich um keine homogene Gruppe handelt. Viele hangeln sich seit ihrer Berufsausbildung von Job zu Job. Manche wurden mit Versprechungen hingehalten, einer Journalistin wurde zum Beispiel immer Entfristung versprochen. Sie hat sich deswegen sehr angestrengt und auch erhebliche Verschlechterungen ihrer Arbeitssituation hingenommen. Bei einigen haben sich die Arbeitsbedingungen der Branche, in der sie gearbeitet haben, sehr verschlechtert. Vor allem viele Ältere haben uns gesagt: »Vor 20 Jahren war alles noch ganz anders.« Eine ehemalige Angestellte aus der Versicherungsbranche hat uns sehr anschaulich geschildert, wie ihre Arbeit durch immer weitere Arbeitsverdichtung unerträglich wurde, bis sie schließlich schwer krank geworden ist.

Armut, Prekarität und Erwerbslosigkeit sind ja schlecht angesehen. Wenn das aber mittlerweile so viele Leute betrifft, steigt da das Verständnis und gibt es weniger Stigmatisierung?

Das ist leider nicht so. Vor allem für Männer sind prekäre Beschäftigung und Erwerbslosigkeit weiterhin sehr stigmatisierend; die Rolle des Familienernährers nicht ausfüllen zu können, ist ein großes Problem. Da haben wir verschiedene Umgangsformen gefunden, zum Beispiel den Verweis darauf, als »Ernährer seiner selbst« immerhin nicht von Sozialleistungen abhängig zu sein. Es ist auch weiterhin für Männer schambehaftet, wenn die Frau mehr verdient als der Mann. Paare umhüllen das dann häufig oder sagen, dass das nur zeitweilig so sei. Für Frauen ist es noch mal auf andere Weise ein Problem, weil an sie eine Emanzipationserwartung herangetragen wird, die über erfolgreiche Erwerbsarbeit eingelöst werden soll.

Die Geschlechterfrage macht also auch in der Prekarität einen Unterschied?

Auf jeden Fall. Bei heterosexuellen Paaren gibt es ja grundsätzlich häufig große Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, eine ungleiche Verteilung von Sorgearbeit. Deswegen sind Frauen stärker belastet als Männer. Prekär Beschäftigte sind sowieso schon sehr belastet, und diese Paare können sich keine externen Dienstleistungen dazukaufen, um sich so Freiräume zu schaffen. Wir interessieren uns auch für die Frage, was passiert, wenn man in der Arbeit keine Anerkennung bekommt. Wenn man immer nur von der Hand in den Mund lebt, was bedeutet das eigentlich für das Privatleben, für die Liebesbeziehung? Man könnte ja denken, dass Menschen mit romantischer Liebesbeziehung die Anerkennungsdefizite, die sie bei ihrer Erwerbsarbeit erfahren, besser abfedern können.

Aber wahrscheinlich ist es komplizierter.

Ein Paar ohne Kinder, wo beide in der Krankenpflege gearbeitet haben, hat sich gegenseitig Anerkennung gegeben und dadurch tatsächlich den Frust von der Arbeit abgefedert. Die hatten das Motto: »Wir gegen den Rest der Welt.« Aber auch manche der Befragten ohne Paarbeziehung konnten alternative Anerkennungsquellen finden, zum Beispiel in Freundschaften. Viele Fälle waren eher ambivalent, wo also Anerkennungsdefizite nur teilweise abgefangen und vor allem für Frauen verstärkt wurden. In einigen Konstellationen haben sich die Anerkennungsdefizite ausschließlich verstärkt. Ein alleinerziehender Vater war etwa sehr isoliert. Bei einem Paar mit drei herausfordernden Kindern fühlte sich die Frau von ihrem Partner im Stich gelassen. Die prekäre Beschäftigung war für sie ein Problem, aber gar nicht das größte.

Paarinterviews sind ja ein bisschen eine Spezialität an Ihrem Lehrstuhl. Was findet man denn durch Interviews mit Paaren heraus, was man sonst nicht erfährt?

Grundsätzlich ist bei Interviews die Frage, was einem die Leute überhaupt erzählen, ob sie nicht das sagen, was vielleicht sozial erwünscht ist, oder erzählen, wie sie es selber gerne hätten. Das ist bei schambehafteten Themen noch schwieriger. Beim Paarinterview kommt zu den verbalen Antworten noch die Interaktion des Paares dazu. Es ist oft sehr aussagekräftig, wie sich die zwei Menschen als Paar präsentieren, da funktioniert es eben nicht, einfach zu sagen: »Bei uns läuft alles gut.« Die Interaktion kann etwas ganz anderes sagen.

Und wenn nicht alles gut läuft, bekommt das dann eine politische Dimension, sich gegen Prekarität und Stigma gemeinsam zu wehren oder kollektive Wege aus der Zone der Prekarität und Verwundbarkeit zu suchen?

Gesellschaftlich gibt es ja viele Initiativen, die sich gegen Hartz IV wehren, aber bei den Leuten, die wir befragt haben, hat das eher zu Scham und Isolation geführt. Der Gedanke, dass man das auch gemeinsam überwinden könnte, war in unserer Untersuchungsgruppe mit wenigen Ausnahmen nicht stark ausgeprägt.

Was bedeuten Ihre Forschungsergebnisse in Zeiten von gesellschaftlichen Krisen wie derzeit durch das Coronavirus?

Man muss politisch und gesellschaftlich viel stärker von Sorge und Verletzbarkeit ausgehen. Das ist eine alte feministische Forderung und das zeigt sich in der Coronakrise auch noch mal sehr deutlich. Die Erwerbsarbeitszentrierung muss viel stärker in Frage gestellt werden.

Solche Krisen treffen prekarisierte Menschen viel härter, auch wenn das Virus nicht unterscheidet. Was erwarten Sie in den nächsten Monaten?

Die Unterschiede werden jetzt schon stärker sichtbar. Wer ist wie stark betroffen? Wer kann überhaupt im Homeoffice arbeiten und wie ist es dann da? Wohnt man mit drei Kindern in einer kleinen Wohnung oder im Reihenhaus mit Garten? Es werden jedenfalls durch diese Krise sehr viel mehr Menschen von Prekarität betroffen sein, auf jeden Fall kurz- und mittelfristig, aber wahrscheinlich auch längerfristig. In den derzeit viel besprochenen systemrelevanten Berufen sind ja auch viele prekär beschäftigt. In Bezug auf Anerkennung ist es interessant, dass man überall die Virologen sprechen hört, aber es sind auch die Krankenpflegerinnen, die Leute, die in Pflegeheimen arbeiten, meist sind das Frauen, die sich diesen Gesundheitsrisiken aussetzen.

Was halten Sie von der Form der Anerkennung, dass Verkäuferinnen in jeder Pressekonferenz gedankt wird?

Das ist tatsächlich eine interessante Entwicklung, auch das Klatschen abends von den Balkonen für die Krankenschwestern. Es hat aber fast etwas Zynisches, denn es wäre ja angebracht, dass die Verdienste steigen, die Arbeitsbedingungen sich verbessern und es mehr Personal gibt. Die Dankeschöns und das Klatschen sind Formen von symbolischer gesellschaftlicher Anerkennung, die diese wichtige Arbeit sichtbar machen. Aber diese Anerkennung wird nicht materiell eingelöst, sie ist unvollständig.

 

Mona Motakef
Mona Motakef Foto: Lukas Klose