Michael Niehaus, Literaturwissenschaftler, im Gespräch über Unsicherheit und das Verhältnis zum Staat in der Pandemie

»Wir sind gezwungen, über den Staat nachzudenken«

Michael Niehaus lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft und ­Medienästhetik an der Fernuniversität in Hagen. Dort ist er Mitglied in der Forschungsgruppe »Figurationen von Unsicherheit«. Mit der ­»Jungle World« sprach er über die Unsicherheit im Verhältnis der Menschen untereinander sowie zwischen den Menschen und dem Staat unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie.
Interview Von

Herr Niehaus, wie geht es Ihnen?

Mir persönlich geht es gut, ich bin ja auch in einer privilegierten Position. Eine Professur im Homeoffice ist was Schönes, meine Kinder sind aus dem Haus. Aber man macht sich natürlich Gedanken, weil das nicht für alle gilt, etwa für meine Kollegin mit einem fünfjährigen Kind. Seit einem Monat ist die Kita zu und sie kommt zu nichts mehr. Ich beobachte aber auch, dass man sich ganz generell mit Dingen beschäftigt, auf die man unter normalen Umständen gar nicht gekommen wäre.

Zum Beispiel?

Dass man sich beispielsweise nicht mehr zu dritt draußen treffen darf. Es gibt eine gewisse Faszination dafür, dass so etwas verboten werden kann, dass das verboten wird und wie ich mich dazu verhalte. Das ist schon spannend.

Als Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienästhetik an der Fernuniversität in Hagen gehören Sie der Forschungsgruppe »Figurationen von Unsicherheit« an. Worum geht es da?

Das ist eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, an der Soziologen, Historiker sowie Literatur- und Medienwissenschaftler beteiligt sind. Die Idee dahinter ist, grob gesprochen, dass die Figur der Unsicherheit eine ganz spezifische Kategorie der Moderne ist. Es geht um die Frage, welche Arten des Umgangs mit Unsicherheit möglich sind. In der Literatur und im Film beispielsweise wird ja Unsicherheit auch künstlich erzeugt.

Gegenwärtig erleben wir aber eine ganz und gar nicht künstlich erzeugte Unsicherheit infolge der Covid-19-Pandemie. Wo sehen Sie da die Verbindung zu Ihrer Forschung?

In der Forschungsgruppe haben wir festgestellt, dass wir nur das Fernsehen anmachen müssen, und dann ist das ein Mantra, das die ganze Zeit wiederholt wird: Nichts ist sicher. Wir wissen dies nicht, wir wissen das nicht. Wir kennen nicht die genauen Infektionszahlen, wir kennen die Dunkelziffer nicht, wir wissen nicht, wie wir reagieren sollen und ob die Maßnahmen zur Eindämmung greifen. Wir wissen auch nicht, wem wir glauben sollen. Der eine Virologe sage es so, der andere eher so. Diese Frage der Glaubwürdigkeit interessiert mich sehr. Wie valide sind Informationen? Und: Ist die valide Information der Bürger eigentlich das letzte Ziel?

Im Grunde ist jeder für den anderen ein Unsicherheitsfaktor geworden.

Oder sagen wir es so: Jeder muss so tun, als ob der andere ein Unsicherheitsfaktor wäre.

Ihre Forschungsgruppe macht einen Blog zur Coronakrise. In einem Beitrag schreiben Sie etwas zur Frage des Vertrauens und sehen insbesondere das Verhältnis der Menschen zum Staat betroffen. Können Sie das erklären?

Die klassischen Staatstheorien basieren darauf, dass vom Staat erwartet wird, eine Sicherheit zu bieten, die ohne ihn nicht gewährleistet ist. In den modernen Varianten der Vertragstheorie gibt es die Vorstellung vom Vorsorgestaat; dieser sei dazu da, Risiken und Unsicherheiten zu reduzieren, die das Zusammenleben der Menschen betreffen. Von daher ist klar, dass es einen strukturellen Zusammenhang zwischen dem Staat und dieser potentiellen Gefahr gibt, die von den Einzelnen ausgeht.

Gilt das nicht generell, auch ohne Covid-19?

Es wird uns jetzt aber auf eine besondere Weise vor Augen geführt. Es bekommt ganz andere Dimensionen und eine ganz andere Dringlichkeit.

In dem erwähnten Beitrag geht es um den frühen Vertrags- und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588–1679). Von ihm stammen berühmte Aussagen wie jene, dass in Abwesenheit des Staates ein Krieg aller gegen alle herrsche, der Mensch dem Mensch ein Wolf und das menschliche Leben einsam, arm, roh und kurz sei. Ist das vergleichbar mit jener Gefahr, von der Sie sprachen, die von den Einzelnen ausgehe?

Was Hobbes als der vielleicht wichtigste Staatsdenker nach Platon formuliert, ist ein logischer beziehungsweise formaler Pessimismus – so wie wir jetzt jeden Mitmenschen als potentiellen Infizierer auffassen müssen. Die Maskenpflicht ist, wenn man so will, zum Prinzip erhobener Pessimismus. Hobbes sagt, man müsse davon ausgehen, dass jeder Mitmensch einem gefährlich werden könnte, auch wenn faktisch neun Zehntel der Menschen den anderen freundlich gesinnt sind. Genauso nutzt es nichts, dass 99 Hundertstel oder 999 Tausendstel aller Menschen nicht infiziert sind – trotzdem müssen alle eine Maske tragen.

Sie schreiben, in der Pandemie sei das gesellschaftliche Leben auf zwei Entitäten reduziert, den Staat und die Hausgemeinschaft. Können Sie das erläutern?

Diese Krise zwingt uns alle dazu, über den Staat und unser Verhältnis zum Staat nachzudenken. Leute, die sonst wenig vom Staat halten, befolgen auf einmal aus freien Stücken dessen Vorschriften, obwohl zumeist nicht einmal eine Überwachung stattfindet. Das ist eine Ebene: Wir sind alle Kinder des Staats – und werden uns dieses Umstands auf einmal bewusst. Die andere ergibt sich aus dem Erleben des lockdown, der ja weltweit in der einen oder anderen Form stattfindet oder stattfand. Und der bedeutet eben, in der Hausgemeinschaft zu bleiben. Diese beiden Entitäten, Staat und Hausgemeinschaft, erweisen sich in der Pandemie als irreduzibel. Das eine ist das Gegenstück des anderen. Während bei allen anderen Entitäten von der Fußballbundesliga bis zum Oktoberfest in Frage stehen kann, ob sie stattfinden können, bleiben diese beiden erhalten. Hätten wir die Hausgemeinschaft nicht als Gegenstück zum Staat, wäre es ein totalitäres System, so wie in George Orwells dystopischem Roman »1984«, in dem die Hausgemeinschaft nicht mehr existiert.

Die Hausgemeinschaft ist also wieder der Raum der Freiheit? Gegen diese Vorstellung haben Feministinnen lange gekämpft.

Freiheit bedeutet in dem Fall ja auch, dass man sich dort gegenseitig infizieren darf. Man ist eben zusammen, auf Gedeih und Verderb. Das Verhältnis der beiden Entitäten ist nicht so einfach, dass man sagen könnte, die eine bedeutet Freiheit und die andere Zwang. Das Nachdenken über dieses Verhältnis wird durch die Krise befördert.

Sie erwähnten vorher die Staatskritischen, die jetzt ihr Verhältnis zum Staat überdenken. Ich muss da sofort an eine Vielzahl ansonsten staatskritischer Linker denken, die die Maßnahmen des Staats weitgehend klaglos hinnehmen und oft geradezu vorauseilend reagierten. Nicht wenige fanden sogar, die Maßnahmen gingen nicht weit genug. Man müsse, so die Argumentation, Menschenleben retten und dafür am besten noch mehr dichtmachen, vor allem die Produktion, wo besonders fleißig infiziert werde.

Das beobachte ich etwa bei meiner Tochter, bei der ich mich vorab über die Jungle World informiert habe. Sie gehört auch zu denen, die links stehen und die ganze Situation sehr ernst nehmen. Das hat mich schon ins Grübeln gebracht. Aber ich denke, dass in dieser Situation viele Linke feststellen oder jedenfalls feststellen könnten, dass sie ein anderes Verhältnis zum Staat haben, als sie dachten, dass sie es hätten.

Dabei wirkt die gegenwärtige Situation von außen zunächst, als hätte die AfD auf einen Schlag alles bekommen, was sie will: Die Grenzen sind dicht, die Frauen müssen sich um die Kinder und den Haushalt kümmern und Ausländer kommen nicht mehr rein oder sie werden, im Falle der Spargelstecher, von der restlichen Bevölkerung isoliert. Und ausgerechnet AfD-Anhänger, Impfgegner und Querfrontler protestieren nun gegen den lockdown und andere Maßnahmen und gerieren sich als Vorkämpfer für bürgerliche Freiheiten. Wie kommt es zu dieser sonderbaren Verkehrung?

Nun, ich denke, wenn die AfD an der Macht wäre, würde sie vielleicht eher wie Viktor Orbán reagieren und die Situation nutzen, um demokratische Freiheiten im Namen des Infektionsschutzes abzubauen.

US-Präsident Donald Trump hat sich wohlwollend über bewaffnete Rechtsextreme geäußert, die in Michigan gegen den lockdown protestierten und sich selbst mit Rosa Parks verglichen. Ich hätte allerdings gedacht, dass ihre Renitenz gegen die Einschränkungen auch etwas mit dem grundsätzlichen Verhältnis zum Leben und Sterben zu tun hat. Diese Sorte von Rechten steht einem sozialdarwinistischen Weltbild näher, als Linke es tun sollten. Sie haben kein Problem mit einer sozialen Hierarchie und damit, die vermeintlich Schwachen ihrem Schicksal zu überlassen.

Da ist sicherlich etwas dran. Ich muss dabei an den Vizegouverneur von ­Texas denken, der gesagt hat, er würde die lockdowns aufheben und sich als 69jähriger opfern, damit die anderen in Freiheit leben können. Diese Logik spielt bei einigen vielleicht eine Rolle.

Man diskutiert gegenwärtig viel über Möglichkeiten, via Überwachung aus der Unsicherheit des Vertrauensmangels herauszukommen. Was würde der derzeit diskutierte Einsatz von Überwachungstechnik für das Verhältnis von Staat und Bürger bedeuten?

Es ist ja schon so, dass gewisse Entwicklungen, die bereits vor der Krise stattfanden, jetzt an Bedeutung gewinnen. Ich persönlich habe mein Smartphone eigentlich fast nie bei mir. Das haben viele andere auch nicht. Das macht die Sache problematisch, weil hier eine Eigendynamik in Gang gesetzt wird, wodurch etwas, das als freiwillig gedacht war, letztlich doch zu einer Art Pflicht wird. Abgesehen von der Fragwürdigkeit der Kontrollgesellschaft im Allgemeinen finde ich es frappierend, dass das Smartphone inzwischen offenbar von Staats wegen als eine Art Körperteil des Menschen aufgefasst wird.

Michael Niehaus
Michael Niehaus (Foto: privat)