In Lateinamerika protestieren die Fahrer von Lieferdiensten

Ausbeutung per App

In der Pandemie boomt in ganz Lateinamerika das Geschäft der Lieferdienste. Die Fahrer, häufig Migranten, sind prekär beschäftigt und kaum geschützt. Dagegen wird mittlerweile länderübergreifend gestreikt und protestiert.

»Dienstag ist ein Scheißtag«, sagt Marlon und stützt sich auf den Tank seines Motorrads, auf dessen Gepäckträger ein würfelförmiger Rucksack des Lieferdienstes Rappi befestigt ist. »Seit vier Stunden stehe ich hier, und bis jetzt ist kein einziger Auftrag reingekommen.« Marlon wartet an diesem Mittag nicht allein. Auf dem von großen Pappeln gesäumten Platz in einem von der gehobenen Mittelschicht bewohnten Viertel der kolumbianischen Großstadt Medellín warten Hunderte Auslieferer darauf, dass ihr Handy bimmelt und sie ein Mittagessen oder einen Einkauf von den zahlreichen Restaurants, Biosupermärkten und Apotheken zu einem Kunden bringen können. Manche stehen in Kleingruppen zusammen und unterhalten sich. Viele haben die obligatorischen Atemmasken heruntergezogen. Die Rucksäcke in den knalligen Farben der Lieferdienste Rappi, Uber Eats oder I-Food haben sie neben ihr Fahrrad oder Motorrad gestellt.

So wie in Medellín sieht es dieser Tage in vielen etwas gehobeneren Vierteln lateinamerikanischer Metropolen aus. Durch die Ausbreitung von Covid-19 und die von den Behörden verhängten Ausgangsbeschränkungen hat die ohnehin boomende Branche der Lieferdienste einen weiteren Schub erhalten. Mit Ausnahme von Peru, wo den Lieferdiensten das Arbeiten zunächst untersagt war, wurde die Tätigkeit der »Rider« genannten Auslieferer nirgendwo verboten.

Für März meldeten die Unternehmen von Bogotá über Santiago de Chile bis Rio de Janeiro einen Anstieg der Bestellungen um bis zu 80 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Die Zahl derer, die sich über die Apps als Rider anmeldeten, schnellte in die Höhe. 45 000 Anwärter warten nach Angaben von Rappi, einem der Marktführer in der Region, allein in Kolumbien darauf, sich den knallorangen Rucksack auf ihr Fahrrad oder Motorrad binden zu dürfen, um denen, die es sich leisten können, social distancing bei Einkauf und Essen zu ermöglichen. Ähnliches berichtet das brasilianische Unternehmen I-Food.

»Wenn ich nicht arbeite, haben wir nichts zu essen und können unsere Rechnungen nicht bezahlen. So einfach ist das.« Marlon, Motorradkurier

Ein anderer Anbieter wirbt seit neuesten mit dem Slogan »Werde auch du ein Held«. Als solcher sieht sich Marlon nicht. Er sei derzeit der einzige in seine Familie, der ein Einkommen habe. Die Gefahr, sich mit dem Virus anzustecken, ignoriert er. Er sagt: »Wenn ich nicht arbeite, haben wir nichts zu essen und können unsere Rechnungen nicht bezahlen. So einfach ist das.« Deshalb stellt er sich täglich bis zu zwölf Stunden an strategisch kluge Punkte und wartet darauf, dass der Algorithmus der App ihm einen Auftrag zuteilt. An schlechten Tagen komme er mit umgerechnet zwei Euro in der Tasche nach Hause, an guten könnten es bis zu 70 Euro sein. Carlos Andrés steht nur wenige Meter von Marlon entfernt. Er sagt, zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen sei das Geschäft noch gut gelaufen. Mittlerweile würden die Aufträge aber immer weniger. »Die Leute merken, dass die Krise noch dauern wird und sie mehr auf ihr Geld achten müssen. Gleichzeitig ist die Zahl der Rider gestiegen. Deshalb fällt für den Einzelnen immer weniger ab.«

Einer Studie des britischen Marktforschungsunternehmens Euromonitor International zufolge ist Lateinamerika nach der Region Asien-Pazifik der Markt, auf dem die Zahl der Essenslieferungen am raschesten wächst. In den vergangenen fünf Jahren hätten sich die Umsätze der Unternehmen vervierfacht; in Ländern wie Kolumbien, Argentinien und Brasilien würden bereits zehn Prozent der verkauften Mahlzeiten von Lieferdiensten gebracht. Die Kommunikationsabteilungen der Unternehmen stellen ihr Geschäftsmodell als Revolution des gesellschaftlichen Alltags dar, der das Leben von Millionen Menschen verändere. Die Plattformen locken Fahrer mit dem Versprechen von einfachem Verdienst und Unabhängigkeit. »Sie wollen dich einsperren, dich einem Geschlecht, einer Nationalität, einer sozialen Klasse zuordnen, doch dein einziges Ziel ist es, dich zu befreien«, heißt in einem Werbevideo von Rappi. Das kolumbianische Start-up mit einem Marktwert von mehr als drei Milliarden US-­Dollar ist in neun lateinamerikanischen Ländern vertreten.

Doch die Lieferdienste bieten vor allem prekäre Arbeitsverhältnisse. Die meisten Plattformen verstehen ihre Auslieferer nicht als Angestellte, sondern als Nutzer. Eine App herunterzuladen, ein Ausweisdokument und gegebenenfalls einen gültigen Führerschein zu übermitteln, reicht oft schon aus, um loszulegen. Den Würfelrucksack muss man kaufen, Beiträge zu Unfall- und Sozialversicherungen zahlen die Unternehmen ebenso wenig. Auch für ein Smartphone mit ausreichendem Datenvolumen, wettergerechte Kleidung und einen fahrbaren Untersatz müssen die Kuriere selbst sorgen. In Städten mit Leihfahrradsystemen nutzen zahlreiche Fahrer die meist dürftig gewarteten Leihräder, um die Lieferung zum Kunden zu bringen. Tödliche Unfälle sind in den Großstädten Lateinamerika keine Seltenheit. Oft sind die Fahrer Migranten, die dank niedriger bürokratischer Hürden ein schnelles Einkommen finden, auf das sie dringend angewiesen sind. Die Algorithmen belohnen Selbstausbeutung und strafen Fahrer mit Sperrung oder Herabstufung, die unattraktive Fahrten ablehnen oder mehrere Tage pausieren.

Hinzu kommt, dass die Fahrer kaum vor einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 geschützt sind. »Viele Regierungen haben die Tätigkeit als essentiell eingestuft, die Unternehmen aber nicht dazu gezwungen, Regularien und Vorschriften zum Schutz ihrer Arbeiter einzuhalten«, sagt Sandra Muñoz vom Solidarity Center des US-amerikanischen und kanadischen Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO. Das Solidarity Center tritt weltweit für die Rechte von Lohnabhängigen ein. In einer nichtrepräsentativen Umfrage im Auftrag verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen in Kolumbien gaben fast 90 Prozent der befragten Fahrer an, sie gingen davon aus, einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt zu sein. Sie haben Kontakt mit Restaurant- und Supermarktmitarbeitern, Bar­geld geht durch ihre Hände. Die meisten sagen, sie hätten von den Plattformbetreibern keine Desinfektionsmittel oder Masken erhalten. Nur die wenigsten werden auf Symptome getestet.

In Städten mit Leihfahrradsystemen nutzen zahlreiche Fahrer die meist dürftig gewarteten Leihräder, um die Lieferung zum Kunden zu bringen. Tödliche Unfälle sind in den Großstädten Lateinamerika keine Seltenheit.

Rappi und andere Unternehmen ­sehen sich deshalb zunehmend mit Protesten ihrer Fahrer konfrontiert. Am 22. April organisierten Kuriere in Argentinien, Ecuador, Chile, Guatemala, Costa Rica, Peru und Spanien erstmals einen länderübergreifenden Streik. In Bolivien gab es Demonstrationen. Die Proteste richteten sich nicht nur gegen mangelnden Schutz vor Sars-CoV-2-Infektionen, sondern auch gegen Preissenkungen und die Streichung von Extrazahlungen beispielsweise für große Lieferungen oder Fahrten bei Regen. »Auslieferer auf der ganzen Welt, unabhängig von ihrer Nationalität oder der App, mit der sie arbeiten, müssen sich in einem Kampf zusammenschließen. Die Einheit und Organisation der Auslieferer der Apps aller Länder ist der einzige Weg, um unsere Rechte zu erobern«, hieß es in dem Streikaufruf.

Erst allmählich gelingt es in einzelnen Ländern, die Fahrer zu organisieren. Die fehlende Anerkennung als Mitarbeiter der Unternehmen erschwert die Organisation, denn sie entzieht den Fahrern Rechte, die Festangestellten zukommen. Die Gesetzgebung der Staaten erfasst die neuartigen Beschäftigungsverhältnisse nicht oder nicht angemessen und lässt so zahlreiche Gesetzeslücken, die die Unternehmen ausnutzen. Dass Regulierungsbedarf besteht, haben mittlerweile viele Regierungen erkannt. Für die Fahrer ist es nicht leicht, sich zu organisieren. Wer öffentlich auf Missstände hinweist, an Protesten teilnimmt und für Verbesserungen eintritt, wird von den Unternehmen häufig kurzerhand mit der Deaktivierung seines App-Kontos bestraft.

»Die hohe Fluktuation der Fahrer, die Instabilität der Einkommen, die Virtualisierung der Arbeitsorganisation und gewerkschaftsfeindliche Praktiken der Unternehmen machen den Prozess der gewerkschaftlichen Organisation und die Anerkennung zweifellos schwieriger«, sagt der argentinische Arbeitsrechtler Juan Manuel Ottaviano der Jungle World. Er hat bei der Gründung der ersten Rider-Gewerkschaft »App Sindical« mitgewirkt. Bislang jedoch werden Proteste vielerorts nicht über feste Organisationsstrukturen, sondern auf Initiative von Einzelnen oder Kleingruppen über die sozialen Medien organisiert.

In verschiedenen Ländern Lateinamerikas haben die Proteste dazu beigetragen, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zumindest zum medialen und politischen Thema zu machen. Die mäßig linke Regierung von Argentiniens Präsident Alberto Fernández hat noch vor Beginn der Pandemie einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, der unter anderem ein Basiseinkommen, Entschädigungen sowie Versicherungsschutz vorsieht und die Unternehmen zu mehr Transparenz bei den Auftragsalgorithmen verpflichten würde. Bislang wurde der Entwurf nicht diskutiert. Der argentinische Kongress hat seine Arbeit aufgrund der Pandemie nahezu vollständig eingestellt.