In der Sahelzone weiten Jihadisten ihren Einfluss aus

Ausweitung der Kampfzone

Auch im Nordwesten Nigerias machen sich Jihadisten breit. In Mali und Burkina Faso bekämpfen sich die regionalen Ableger von al-Qaida und des »Islamischen Staats«.

In der afrikanischen Sahelzone, wo jihadistische Gruppen aktiv sind, ist die Lage unübersichtlicher denn je. Am Montag warnte die in Brüssel ansässige International Crisis Group (ICG) in einem Bericht mit Schwerpunkt auf Nigeria, wachsender jihadistischer Einfluss im Nordwesten dieses Landes könne eine »Landbrücke« zwischen bislang voneinander getrennten islamistischen Einflusszonen schaffen.

Im Nordwesten Nigerias suchen Jihadisten ein Bündnis mit bewaffneten Nomadengruppen, die sich bislang auf rein kriminelle Aktivitäten beschränkten.

Die weiter westlich gelegene dieser Einflusszonen hat ihr Zentrum im Norden Malis. Seit Anfang 2012 hatten sich jihadistische Kräfte wie die Bewegung für die Einheit des Jihad in Westafrika (Mujao) und Ansar Dine (Unterstützer des Glaubens) dort festgesetzt, in jüngerer Zeit auch im Zentrum des Landes rund um die Stadt Mopti; dann griff ihr Einfluss von Westen her auf den angrenzenden Staat Niger über. Auch auf angrenzende Zonen und auf den Norden und Osten des Nachbarlands Burkina Faso dehnten die Jiohadisten ihre Aktionen aus. Nach Beginn der französischen Militärintervention im Januar 2013 verloren die Jihadisten die Kontrolle über die zunächst von ihnen beherrschten malischen Städte wie Gao und Timbuktu und wichen in dünner besiedelte Zonen aus. Verstärkte Luftoperationen der französischen Armee in den vergangenen zwei Monaten bescherten ihnen weitere Rückschläge im Dreiländereck zwischen Mali, Burkina Faso und Niger. Doch Jihadisten töteten neben malischen Soldaten und Zivilisten auch rund 250 Mitglieder der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (Minusma), die als derzeit gefährlichster UN-Einsatz weltweit gilt.

Auch die staatlichen Armeen schrecken mitunter nicht vor Gewalttaten gegen die Bevölkerung zurück, vor allem dann, wenn diese der mangelnden Kooperationsbereitschaft verdächtigt wird. Am 30. April veröffentlichte die Menschenrechtsabteilung der Minusma einen Vierteljahresbericht, in dem sie Vorwürfe gegen die Armeen von Mali und Niger erhebt. Erstere habe im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. März insgesamt 101 »außergerichtliche Hinrichtungen« vollzogen, ferner ist von 32 Fällen von Misshandlungen respektive Folter und 115 willkürlichen Festnahmen die Rede. Die Armee des Nachbarlands Niger habe im selben Zeitraum in den Kampfzonen innerhalb Malis circa 30 außergerichtliche Hinrichtungen vollstreckt.

Unabhängig davon kämpft und mordet die als besonders blutrünstig bekannte islamistische Sekte Boko Haram seit 2009 im Nordosten Nigerias, von wo aus sie ihre Aktivitäten auf den Südosten des Staatsgebiets von Niger, Teile des Tschad und die nördlichsten Regionen Kameruns ausweitete. Das ist das weiter östlich gelegene jihadistische Einflussgebiet. Im Nordosten Nigerias, dem mit rund 200 Millionen Einwohnern größten Staat der Region, forderte der Konflikt mit Boko Haram bislang rund 36 000 Menschenleben und machte mehrere Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen, vor allem in den Bundesstaaten Borno und Kobe.

Die verschiedenen jihadistischen Organisationen sind durchaus heterogen, teilen jedoch eine ideologische Grundlage. Bereits zu Anfang des vorigen Jahrzehnts sollen rund 200 Kämpfer von Boko Haram den Mujao, der Mitglieder aus mehreren westafrikanischen Ländern und auch Nigeria besitzt, in Mali unterstützt haben.

Nun warnt die ICG jedoch davor, dass auch der Nordwesten Nigerias zum Operationsgebiet jihadistischer Gruppierungen werde. Dort ist nicht Boko Haram etabliert, sondern eine von ihr im Jahr 2012 abgespaltene Gruppe namens Ansaru (Abkürzung für »Vorhut für den Schutz der Muslime in Schwarzafrika«). Nach eigenen Angaben hat die nigerianische Armee allein im Februar 250 Mitglieder von Ansaru getötet, doch die ICG merkt an, die Grenzen zum Nachbarland Niger seien »porös« und böten der Gruppe deswegen Möglichkeiten, militärischen Angriffen auszuweichen. Ansaru hat sich dem internationalen Netzwerk al-Qaida angeschlossen. Mit ihr konkurriert die ebenfalls aus einer Abspaltung von Boko Haram hervorgegangene Gruppe »Islamischer Staat in der Provinz Westafrika« (ISWAP), die 2016 dem damals in Syrien und dem Irak aktiven »Islamischen Staat« (IS) die Treue schwor.

Bislang konnte der Nordwesten Nigerias zwar nicht als ruhig gelten, doch blieb der ideologische Einfluss von Jihadisten vergleichsweise gering. Zu kämpfen hatte die Bevölkerung eher mit weitgehend ideologiefreien kriminellen Gangs, Banden von bewaffneten Nomaden und Viehdieben. Diese Konflikte sorgten seit 2011 für rund 8 000 Tote und 200 000 Binnenflüchtlinge. Jihadisten suchen nunmehr allerdings Bündnisse vor allem mit bewaffneten Nomadengruppen, die sich bislang auf rein kriminelle Aktivitäten beschränkten. Imame, die Ansaru oder ISWAP nahestehen, aber auch Lebensmittellieferungen dieser Gruppen treffen in größere Zahl in den nordwestlichen Bundesstaaten ein, insbesondere Sokoto, Zamfara und Kaduna.
Die Jihadisten scheuen ein solches Bündnis nicht, beruht doch auch ihre lokale Macht im Kern auf einer Plünderungsökonomie, die sie jedoch ideologisch verbrämen. Zugleich offerieren sie perspektivlosen jungen Männern eine Anstellung als Kombattanten, für einen Sold, der oft das Fünf- bis Sechsfache dessen der staatlichen Sicherheitskräften beträgt.

Das Muster ist bekannt. Bereits um das Jahr 2003 sickerten Jihadisten in die Sahelzone ein, die nach der Niederlage im 1999/2000 beendeten algerischen Bürgerkrieg in die Wüste auswichen. Die meist aus urbanen Zonen im Norden Algeriens stammenden islamistischen Kämpfer wären in der Wüste nicht überlebensfähig gewesen, hätten sie sich nicht mit nomadischen Schmuggler- und Schleusergruppen in der Sahara verbünden können.

Doch die jihadistischen Gruppen konkurrieren auch miteinander und tragen das teils bewaffnet aus. Seit Anfang dieses Jahres bekämpfen sich in Mali und Burkina Faso die regionalen Ableger von al-Qaida, die »Gruppe zur Unterstützung des Islam und der Muslime« (GISM), und des IS, der »Islamische Staat in der Großen Sahara«. Der IS behauptet, Ende April 35 Anhänger des GISM in Burkina Faso getötet zu haben. Im Zentrum Malis, wo die Staatsmacht mit dem GISM verhandelt, was der IS rundheraus ablehnt, durchkämmten IS-Kämpfer im Januar und Februar die Dörfer, um gegen »falsche Glaubenskämpfer« zu agitieren; bis Ende März sollen dort etwa 60 Anhänger der beiden konkurrierenden Gruppen getötet worden sein.

Doch nicht nur die eskalierenden Angriffe von Jihadisten, sondern auch die einer vorrangig Selbstbereicherung betreibenden Staatsklasse stellen ein schweres Problem in der Region dar. In Nigeria stärken die Auseinandersetzungen um die Verteilung des Ölreichtums die mafiösen Strukturen im Staatsapparat. In Mali finden seit Anfang Mai vermehrt gesellschaftliche Proteste statt, ohne jegliche Verbindung zu islamistischen Gruppen. Die Staatsführung unter Präsident Ibrahim Boubacar Keïta hatte am 29. März mitten in der Coronakrise Parlamentswahlen abhalten lassen. Entsprechend gering fiel der Enthusiasmus in der Bevölkerung aus, wo vielfach von der Wahl von »Coronaabgeordneten« gesprochen wurde. Die reale Wahlbeteiligung dürfte 20 Prozent nicht überschritten haben.

Zudem wurde der parlamentarische Oppositionsführer Soumaïla Cissé am 25. März, vier Tage vor dem Wahltermin, entführt, vermutlich von Jihadisten. Cissé hatte 2013 und 2018 die Präsidentschaftswahlen gegen Keïta verloren und ist der Vorsitzende der stärksten parlamentarischen Oppositionspartei URD (Union für die Republik und die Demokratie). Die Regierung ließ die Wahlen trotz seines Verschwindens abhalten. Inzwischen haben sich die Entführer zu Wort gemeldet: Cissé werde gut behandelt, man werde ihn aber nicht freilassen, bevor sein Bart nicht zu salafistischen Vorstellungen entsprechender Länge gewachsen sei.

Wochenlang wurden keine offiziellen Wahlergebnisse verkündet. Als es am 19. April so weit war, hatte die Präsidentenpartei RPM (Sammlung des malischen Volkes) deutlich mehr Sitze als in ersten Prognosen des Innenministeriums. Daraufhin kam es zunächst zu Protesten und seit dem 6. Mai in einer Reihe von Städten zur Eskalation, von Kayes im Nordwesten bis Sikasso im Südosten des Landes. In Kayes wurde am Montag voriger Woche ein junger Mann von der Polizei getötet, was den Zorn erst recht anschwellen ließ. Präsident Keïta rief zur Ruhe auf und bekundete Gesprächsbereitschaft. In der Hauptstadt Bamako brannte es unter anderem in den Stadtteilen Banconi, Lafiabougou, Magnambougou, Ouzimbougou und Sébéniko. Der Unmut über die Wahlresultate stellt nur ein Element der allgemeinen Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen dar.