Die Proteste in Los Angeles nach der Tötung von George Floyd

Alles hat seine Stunde

In den Vereinigten Staaten hat es nach dem Tod von George Floyd vielerorts Proteste gegen Polizeigewalt gegeben – so auch in Los Angeles, der zweitgrößten Stadt des Landes.

Am Nachmittag des 30. Mai zogen in Los Angeles Hunderte Demonstranten nach Beverly Hills. Sie trieb die Verzweiflung über den tödlichen Übergriff auf George Floyd, einen 46jährigen ­Afroamerikaner aus Minneapolis, den ein Polizist erdrosselt hatte. Bei der ­Demonstration wurden viele Wände und Schaufenster in dem kalifornischen Nobelviertel mit Graffiti versehen. »Fuck tha police« stand dort zu lesen, und »Make America pay« – Amerika soll zahlen. Aufnahmen von brennenden Polizeiautos vor hellblauem Himmel und Palmenwedeln gingen um die Welt. Der Gucci-Laden am Rodeo Drive wurde geplündert. Auch auf der mit Boutiquen gesäumten Fairfax Avenue in West Hollywood kam es zu Ausschreitungen.

»Wenn man allein gegen einen rassistischen Polizeiapparat vor­gehen will, dann ist das so, als würde man versuchen, den Mount Everest mit Tennisschuhen zu besteigen.«
Sean F. Alexander, Polizist

»Aber das, was im Fernsehen gezeigt wurde, ist nicht die ganze Wahrheit«, sagt der Jungle World die 40jährige Demonstrantin Keisha Banks, eine Per­sonalvermittlerin für die Architekturbranche. Banks und ihre Schwester, die 32jährige Schauspielerin Courtney Banks, kamen vor Jahren aus dem US-Bundesstaat Virginia nach Los Angeles. Sie behaupten, die Demonstrationen am vergangenen Wochenende seien zumindest anfangs friedlich verlaufen. »Wir waren ja dabei«, so Keisha Banks, »und wir waren gut vorbereitet.« Sie brachten Backpulver und Wasser mit, »das hilft gegen Tränengas«, sowie ihre Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel für die Hände, »denn es gibt ja immer noch eine Pandemie«.

Courtney Banks beschreibt die Demonstration: »Es heißt, dass da 20 000 Menschen waren, aber ich weiß nicht, wie viele es letztendlich waren. Wir waren in einer riesigen Menschenmenge unterwegs, da verliert man schnell den Überblick.« Es sei das Los Angeles Police Department (LAPD) gewesen, das die Situation eskaliert habe. »Die Bullen haben angefangen, Frauen zu schubsen. Sie haben mit Gummigeschossen in die Menge gefeuert und sind in geschlossener Formation auf unseren friedlichen Protest zumarschiert. Die Demonstranten haben immer gesagt: ›Nicht schießen!‹«
Den Protestmarsch hatten die Gruppe »Black Lives Matter L.A.« und die Nonprofit-Organisation »Build Power« organisiert. Er fing mit einer Kundgebung im Pan Pacific Park in West Hollywood an. »Als wir dort ankamen, war es eine sehr friedliche, inspirierende Veranstaltung«, sagte Keisha Banks. »Es gab verschiedene Rednerinnen und Redner, unter anderem auch die Mütter von Menschen, die von der Polizei getötet worden waren. Sie baten die Leute ­immer wieder, die Namen der Opfer zu nennen. Und die Liste war fast endlos.«

Todesursache Polizeigewalt
Auf diese beschämenden Liste gehört etwa der 23jährige Oscar Grant, der kurz nach Silvester am 1. Januar 2009 von einem Polizisten in einer U-Bahnstation im kalifornischen Oakland erschossen wurde. Der 27jährige Autist Steven Eugene Washington (27) starb am Abend des 30. März 2010 in Los Angeles an einem Kopfschuss. Er hatte sich vor Polizeibeamten mit seinem Behindertenausweis identifizieren wollen. Der 44jährige Eric Garner wurde am 17. Juli 2014 von einem New Yorker Polizisten erdrosselt. Seine letzten Worte waren: »Ich kann nicht atmen.« Auch den 33jährigen Manuel Ellis erwürgte ein Polizist, das war am 3. März 2020 in Tacoma im US-Bundesstaat Washington. Auch seine letzten Worte waren: »Ich kann nicht atmen.« George Floyd, den seine Familie nur »Perry« nannte, wurde am 25. Mai 2020 vom Polizeibeamten Derek Chauvin getötet. Floyds letzte Worte gingen um die Welt: »Ich kann nicht atmen.« Achteinhalb Minuten hatte ihm Chauvin sein Knie in den Nacken gedrückt, nach etwa sechs Minuten verlor er das Bewusstsein, etwa eine Stunde später wurde er im Krankenhaus für tot erklärt. Seitdem ist es quer durch die Vereinigten Staaten zu einer Serie von teils gewalttätigen Protesten gekommen – wie ­denen am 30. Mai in Los Angeles.

Am Abend des 3. Juni traten in Los Angeles Abertausende Menschen mit einem Licht oder einer Kerze vor ihre Haustüren und schwiegen achteinhalb Minuten lang.

Die Liste der Getöteten kommt ­einem in der Tat endlos vor. Die erste Bilanz dieser Art verfasste 1895 die ­berühmte afroamerikanische Journalistin und Bürgerrechtlerin Ida B. Wells, eine ehemalige Sklavin. In »The Red Record«, zu Deutsch etwa »das rote ­Register«, legte Wells ein ­detailliertes Verzeichnis ­derer vor, die, so Wells, »erhängt, erschossen und lebendig verbrannt« worden ­waren. Auch heute noch ist dieser Text ein bedrückendes Zeugnis seiner Zeit, viele dieser Morde waren staatlich sanktioniert und die meisten wurden nie geahndet. Ebenso bedrückend ist die Tatsache, dass Afroamerikaner noch immer überproportional oft zu Opfern von staatlicher Gewalt werden. Die britische Tageszeitung The Guardian stellte 2015 fest, dass 29 Prozent der von der US-amerikanischen Polizei Getöteten Afroamerikaner waren, obwohl deren Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 13 Prozent beträgt.

»Wir haben extreme Probleme in unserem Land«, sagt der ehemalige ­Polizeibeamte Sean F. Alexander der Jungle World. Der 58jährige arbeitete viele Jahren lang im Los Angeles County Sheriff’s Department, später für den U.S. Marshals Service und als Streifenpolizist in der kalifornischen Kleinstadt Desert Hot Springs. Alexander bezeichnet sich selbst als »sehr konser­vativ«. Doch als Afroamerikaner und pensionierter Polizist hat er einen ­differenzierten Blick auf das Thema Polizeigewalt. »Die Probleme gehen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück«, sagt er. »Wir haben es mit sys­tematischer Erniedrigung und Folter von Afroamerikanern zu tun. Vergessen Sie nicht, wie sind nicht freiwillig ein­gewandert. Wir wurden gezwungen.« Auch Alexander erlebte bei der Polizei kontinuierlich Rassismus, ertrug ­Sticheleien und böse Bemerkungen. »Aber ich habe mich nun mal dafür ­entschieden. Es gab für mich viele Enttäuschungen, aber ich bereue nichts«, sagt er. Der gewaltsame Tod von George Floyd macht ihm sichtlich zu schaffen. »Es zerreißt mir wirklich das Herz, über solche Dinge zu sprechen. Und es beschämt mich zu sehen, wenn ein uniformierter Beamter langsam einen anderen Menschen tötet. Es hat ihm Spaß gemacht. Er hat es genossen. Mir ­wurde immer beigebracht, niemals Druck auf den Nackenbereich auszuüben, besonders nicht mit einem Knie. Das darf man nicht.«
Nach einer Reihe von Erstickungs­toden ist seit 1980 in Los Angeles der Würgegriff als Methode der Fixierung verboten, viele weitere Polizeibehörden folgten dem Beispiel. Aber da in den USA die Polizei den Kommunen untersteht, gibt es große Unterschiede. »Minneapolis hat leider eine Geschichte rassistischer Vergehen seitens der ­Polizei«, räumt Alexander ein: »In solchen Fällen muss sich die Bundes­regierung einschalten, anders geht es nicht. Wenn man allein gegen einen rassistischen Polizeiapparat vorgehen will, dann ist das so, als würde man versuchen, den Mount Everest mit Tennisschuhen zu besteigen. Es ist unmöglich.«

Ein Problem mit System
Der Ruf nach Reformen, insbesondere einer Polizeireform, wird immer lauter. »In Los Angeles«, so Keisha Banks, »hat Bürgermeister Eric Garcetti zwei Milliarden US-Dollar für die Polizei bereitgestellt, aber nur 130 Millionen für Obdachlose. Das ist ein Riesenproblem für uns in Los Angeles. Und dennoch schlagen sich die Medien anscheinend immer auf die Seite der Polizei.« Die Banks-Schwestern wünschen sich eine Liberalisierung der Drogengesetze, damit Menschen nicht mehr wegen Drogendelikten langjährige Haftstrafen absitzen müssen; sie sind für eine grundlegende Veränderung des Kautionssystems – Ärmere haben Schwierigkeiten, das Geld für eine Kaution aufzubringen. Vor allem aber, findet Courtney Banks, müsse man Polizistinnen und Polizisten besser ausbilden. »In jedem anderen Beruf muss man erst vier Jahre aufs College gehen, nur bei der Polizei reicht eine achtwöchige Ausbildung. Das ist eine Beleidigung der Menschenwürde.«

Zumindest ist die Staatsanwaltschaft von Minnesota endlich tätig geworden: Chauvin wird wegen »second-degree murder« (beabsichtigte, aber nicht im Voraus geplante Tötung) angeklagt, seinen drei Kollegen wird Beihilfe vorgeworfen. Doch da ständig neue Fälle die Jahrhunderte zurückreichende Geschichte von Ungleichbehandlung und Polizeigewalt fortsetzen, dürfte das allein nicht ausreichen, um die Lage zu beruhigen.

Die ersten Tage der Proteste waren brisant. In Los Angeles marschierte am 30. Mai Punkt Mitternacht die Nationalgarde ein. Seitdem herrscht in der Stadt der Ausnahmezustand. An vielen Straßenecken stehen erstmals seit fast 30 Jahren Militärfahrzeuge und bewaffnete Soldaten, auch und vor allem in Innenstadtvierteln und Einkaufsstraßen. Es ist ein dystopischer Anblick. Bis zum 3. Juni herrschte eine strikte nächtliche Ausgangssperre, am Abend fuhren Jeeps durch die Straßen und forderten per Lautsprecher die Menschen auf, in ihre Wohnungen zurückzukehren. Tag und Nacht hört man immer noch pausenlos Sirenen sowie das Rattern der Polizei- und Armeehubschrauber, die die Stadt von oben überwachen.

Doch die Situation ist weitgehend ruhig, die Demonstrationen der letzten Tage waren friedlich. Daher finden Keisha und Courtney Banks, dass die Medien ein falsches Bild vermitteln. »Was wir in den Nachrichten sehen, ist eine ganz andere Geschichte als das, was wir erleben. Es ist so unfair, weil wir unsere eigene Erzählung nicht kontrollieren können«, sagt Banks. »Die Demonstranten, die wir gesehen haben, waren ganz ruhig, aber natürlich ist es eine bessere Story, zu behaupten, sie wären sehr unbesonnen.«

Die Macht der Bilder
Die sensationsheischenden Bilder von Flammen und Zerstörung, die zumindest in den ersten Tagen der Proteste fast unentwegt im US-amerikanischen Fernsehen zu sehen waren, bedienten auch rassistische Klischees, die die Ängste der weißen Mehrheitsgesellschaft bestätigten. Über die ­»Occupy Wall Street«-Proteste vor fast zehn Jahren berichteten die US-ame­rikanischen Medien mit sehr viel mehr Sympathie, vielleicht auch, weil die treibende Kraft dahinter eben nicht ­Afroamerikaner waren. Dabei sind es nicht die aufgebrachten schwarzen ­Demonstranten, die eine Gefahr für das Land darstellen, sondern umgekehrt – es ist die weiße Gesellschaft, die für die black community in den USA oft gefährlich ist. Zahllose Handyvideos der vergangenen Jahre legen davon Zeugnis ab.

»Ein Glück«, so Keisha Banks, »dass es die sozialen Medien gibt.« Seither kann das Fehlverhalten der Polizei wesentlich häufiger nachgewiesen und dokumentiert werden. 1991 war es nur ein Zufall, dass der Amateurfilmer George Holliday auf Video festhielt, wie der Bauarbeiter Rodney King von vier Polizisten des LAPD mit Schlagstöcken verprügelt wurde. Heutzutage sind Smartphones weitverbreitet – so entsteht ein neues, multimediales »rotes Register«, das die Menschen aufrüttelt. Das Video, das den langsamen und qualvollen Tod von George Floyd zeigt, ist verstörend. Das Flehen des Opfers, der unbeteiligte Gesichtsausdruck und die Körperhaltung des Täters, all das hinterlässt emotionale Spuren – diese ungerührte Tötung stellte einen mora­lischen Affront für den Betrachter dar.
Ein systematischer und oft tödlicher Rassismus prägte von Anfang an die US-amerikanische Kultur und Geschichte. »Es ist unmöglich in Worte zu fassen, wie schwierig es ist, als Schwarzer in den USA zu leben«, so Keisha Banks. »Das ist für Menschen, die nicht schwarz sind, unmöglich zu verstehen. Es ist emo­tional unglaublich aufreibend, wenn du mitansehen musst, wie Menschen, weil sie dir ähnlich sehen, Tag für Tag getötet werden, ohne dass es Konsequenzen gibt. Wir werden wie Dreck behandelt. Und das belastet uns wirklich. Es ist ein täglicher Kampf.«

Das Video der Tötung Floyds macht es auch Unbeteiligten unmöglich weg­zuschauen. »Seine letzten Worte waren ›Ich kann nicht atmen‹«, sagte der ­demokratische Präsidentschaftskandidat und ehemalige Vizepräsident Joe Biden bei einer Rede in Philadelphia am 2. Juni. »Doch seine letzten Worte sind nicht mit ihm gestorben, ihr Echo ist noch immer im ganzen Land zu hören.«

Zeit für Veränderung
Es scheint sich etwas verändert zu haben in den vergangenen zwei Wochen. ­Immer noch strömen Menschen – egal welcher Hautfarbe – auf die Straßen, selbst große Konzerne wie der Sportartikelhersteller Nike machen mit Antirassismus Werbung. Als Terrence Floyd, einer der Brüder George Floyds, am 1. Juni den Tatort besuchte, appellierte er eindringlich unter Tränen: »Wir werden das friedlich machen.« Tatsächlich kam es kurz darauf zu einem stillen und friedlichen Protest: Am Abend des 3. Juni traten in Los Angeles Abertausende Menschen mit einem Licht oder eine Kerze vor ihre Haustüren und schwiegen achteinhalb Minuten lang. Nach der langen Stille waren viele Teilnehmende zu Tränen gerührt.

Die Protestbewegung hat sich inzwischen auf andere Länder ausgebreitet, darunter auch Deutschland. »Für uns als US-Amerikaner ist es sehr bewegend zu sehen, wenn Menschen auf der ganzen Welt an diesen Protesten teilnehmen«, erklärt Keisha Banks. »Für mich war es sehr inspirierend zu ­sehen, dass ihr in Deutschland mit uns solidarisch seid und ihr uns ­wissen lasst, dass es Hoffnung gibt.«