In Schweden wird die Kritik am Umgang der Regierung mit der Pandemie lauter

Das Ende des Burgfriedens

In Schweden wachsen Zweifel am Vorgehen der Regierung in der Covid-19-Pandemie. Die Zahl der Toten ist deutlich höher als in den Nachbarländern.

Das ging schnell: In nur drei Monaten wurde Schweden vom verhassten Multikulti-Staat zum Sehnsuchtsland rechter Verschwörungstheoretiker, die Einschränkungen aufgrund der Covid-19-Pandemie wie in Deutschland ablehnen und das schwedische laissez-faire in Sachen Infektionsschutz für den Inbegriff von Freiheit halten. Der erwartete Erfolg des schwedischen Modells jedoch ist ausgeblieben. Bis Montag dieser Woche starben in Schweden Schätzungen der Johns-Hopkins-University zufolge bislang 4 659 Menschen an Covid-19 – viermal mehr als in den Nachbarländern Dänemark, Norwegen und Finnland zusammengenommen. Umgerechnet auf Todesfälle pro Million Einwohner wurden nur in vier Staaten bislang mehr Tote verzeichnet.

Der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven gab Fehler zu; man habe es unter anderem nicht geschafft, ältere Menschen zu schützen, sagte er.

Gab es zu Beginn der Pandemie noch eine Art politischen Burgfrieden, der darin bestand, dass die Parteien in einer von manchen Zeitungen allen Ernstes als »nationale Sammlung« bezeichneten stillschweigenden Übereinkunft das vom offiziell so bezeichneten Staatsepidemiologen Anders Tegnell vorgegebene Prozedere akzeptierten, ist damit nun Schluss. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Sommerferien für viele Schweden anders verlaufen werden als erhofft. Die Nachbarländer halten vorerst am Einreiseverbot für schwedische Staatsbürger fest; nach Finnland dürfen nur dort beschäftigte schwedische Arbeitskräfte reisen, nicht aber Touristen. Nach Griechenland und Portugal dürfen schwedische Staatsbürger bis mindestens zum 15. Juni nicht reisen.

So wurde am Wochenende unter anderem in einer Diskussionssendung des staatlichen Fernsehsenders SVT ausgiebig Kritik an der Minderheitsregierung geübt, die Sozialdemokraten und Grüne Anfang 2019 mit Unterstützung der Centerpartiet (Zentrumspartei) und der Liberalerna (Liberale) bildeten. Ebba Busch, die Vorsitzende der Kristdemokraterna (Christdemokraten), sagte: »Schweden hat mit großem Mut eine große Ausbreitung von Infektionen zugelassen.« Unter anderem seien mangelhafte beziehungsweise nicht vorhandene Sicherheitsvorkehrungen schuld an der Verbreitung des Virus: »Im Februar ließ man Tausende Schweden, die aus Gegenden mit hoher Coronaverbreitung kamen, auf dem Flughafen Arlanda (Flughafen der schwedischen Hauptstadt Stockholm, Anm. d. Red.) landen und erlaubte, dass sie sich ohne Registrierung oder Einschränkungen ungehindert bewegen.« Insgesamt sei das Handeln der Regierung »dysfunktional« gewesen. Städte und Kommunen seien beispielsweise weitgehend im Stich gelassen worden. Die Beschaffung von Schutzausrüstungen, unter anderem für in Seniorenheimen Tätige, sei als deren Sache angesehen worden, »und so mussten kleine Kommunen als potentielle Einkäufer mit großen Ländern wie den USA und China konkurrieren«. Jonas Sjöstedt von der Vänsterpartiet (Linkspartei) nannte vor allem die Testzahlen einen großen Misserfolg. Das ausgegebene Ziel war eigentlich, wöchentlich 100 000 Menschen auf eine Infektion mit Sars-CoV-2 zu testen, tatsächlich getestet werden momentan aber nur 35 000.

Der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven gab Fehler zu; man habe es unter anderem nicht geschafft, ältere Menschen zu schützen, sagte er. Das ist eine euphemistische Darstellung. Es häufen sich Berichte wütender Angehöriger wie der Pfarrerin Johanna Andersson, die in der Boulevardzeitung Expressen am Wochenende den Tod ihres Vaters schilderte. Der 84jährige, ein pensionierter Chirurg, war Ende Mai in einem Göteborger Seniorenheim an Covid-19 erkrankt und dort auch verstorben. Der Tod gehöre zum Leben, betonte Andersson, und dass ein alter Mensch stürbe, sei auch kein Skandal – die Umstände, unter denen ihr Vater starb, seien gleichwohl skandalös. Die Ärzte des Heims hätten sich nach der Diagnose geweigert, ihn auf die Intensivstation eines Krankenhauses zu überweisen, obwohl die Einrichtung nicht für die Betreuung Schwerstkranker eingerichtet sei. Erst kurz vor seinem Tod hätten die Angehörigen zu ihm gedurft; »wir fanden ihn ausgetrocknet und durstig vor, aber es gab vor Ort keine Möglichkeit, ihm eine Transfusion zu verabreichen«, sagte Andersson. Der Mann sei langsam und qualvoll erstickt; die Bitten, wenigstens von einem Krankenhaus Geräte zum Schleimabsaugen oder für die Verabreichung von Sauerstoff auszuleihen, seien abgelehnt worden, er habe lediglich Beruhigungsmittel und Morphium erhalten.

Als man sich in Schweden dafür entschied, das öffentliche Leben kaum einzuschränken, hoffte man, die sogenannte Durchseuchung der Bevölkerung werde schnell zur Immunität führen (Jungle World 15/2020). Ende Mai veröffentlichte die staatliche Gesundheitsbehörde erste Ergebnisse einer Studie. Dieser zufolge hatten bis Ende April 7,3 Prozent der Bevölkerung Stockholms Antikörper gegen Sars-CoV-2 gebildet. Nach Berechnungen Tegnells hätte bis Anfang Mai rund ein Viertel der Bewohner der schwedischen Hauptstadt infiziert sein sollen. Nach Angaben der Gesundheitsbehörde spiegeln die Ergebnisse »den Zustand der Epidemie Anfang April wider, da es einige Wochen dauert, bis das körpereigene Immunsystem Antikörper entwickelt«.

Die wirtschaftliche Auswirkungen der Pandemie sind trotz des Verzichts auf Einschränkungen wesentlich stärker als erwartet. Ein Vergleich der Mehrwertsteuerzahlungen von März 2019 und 2020 durch die schwedische Steuerbehörde ergab, dass die Hotel- und Gastronomiebranche am stärksten unter den Auswirkungen der Pandemie leidet. Insgesamt betrug der Umsatzrückgang 31 Prozent. In der Kultur- und Unterhaltungsindustrie machten 20 Prozent der Unternehmen 50 Prozent weniger Umsatz. Einen einjährigen Steueraufschub, wie er als Reaktion auf die Pandemie gesetzlich möglich ist, beantragten bis zum 13. Mai rund 26 000 Unternehmen, etwa drei Viertel davon haben weniger als zehn Mitarbeiter. Die bislang erwarteten Steuerausfälle in diesem Jahr belaufen sich auf 3,2 Milliarden Kronen, umgerechnet rund 310 Millionen Euro.

Darüber, wie die ökonomischen Folgen der Pandemie bekämpft werden sollen, gibt es inzwischen eine Diskussion, bei der strikt nach der jeweiligen Parteilinie argumentiert wird. Politiker der Liberalerna und der Centerpartiet verlangen eine Änderung des Arbeitsrechts und damit, wie Sjöstedt kritisierte, weniger Schutz für Arbeitnehmer. Die Liberalen seien im Prinzip nichts als eine Organisation für Lobbyisten geworden, sagte er. Nyamko Sabuni, Vorsitzende der Liberalerna und ehemalige Integrations- und Gleichstellungsministerin, konterte, das Geld, das die Linke für den Sozialstaat ausgeben wolle, werde von Unternehmen erwirtschaftet. »Wir müssen anfangen, denjenigen, die den Wohlstand in unserem Land schaffen, unseren Respekt zu zeigen«, sagte sie. Alte Menschen meinte sie damit nicht, sondern lediglich Unternehmer.

Im Gegensatz zu in Deutschland veröffentlichten Berichten, wonach Tegnell sich in einem Interview von seiner gewählten Linie distanziere, bleibt der oberste Epidemiologe des Landes im Großen und Ganzen bei seiner Haltung. In einem Interview mit Sveriges Radio sagte er vergangene Woche: »Wir glauben immer noch, dass die Strategie gut ist.« Allerdings sehe er Verbesserungspotential. Man hätte sich gerade um ältere Menschen viel mehr kümmern müssen.