Ein Gespräch mit Matt Green über Pandemie und Proteste in New York City

»Mein Leben ist generell sehr unbeständig«

Matt Green arbeitete als Bauingenieur, bevor er zu Fuß die Vereinigten Staaten durchquerte. Danach begann er, die Straßen New Yorks abzulaufen und zu fotografieren, was er sah. Mehr als 9 000 Meilen hat er in den vergangenen acht Jahren absolviert.
Interview Von

Wie geht es Ihnen?

Alles in bester Ordnung. Ich bin in Virginia bei meinen Eltern.

Wann haben Sie New York City verlassen?

Ich bin Ende März gegangen. Meistens finde ich Wohnungen, in denen ich bleiben kann, um auf die Katzen von Leuten aufzupassen. Wenn alle auf­hören zu reisen, wird niemand mehr gebraucht, der auf die Katzen aufpasst. Ich wollte nicht einfach so Leute in New York fragen, ob ich bei ihnen bleiben kann, und sie vielleicht in eine unangenehme Situation bringen.

Haben Sie keine Wohnung, in der Sie im Notfall wohnen können?

Nein, habe ich nicht. Es gibt eigentlich immer Leute, die jemanden für ihre Katzen brauchen. Normalerweise verbringe ich eine Woche mit einer Katze, eine Woche mit einer anderen und dann vielleicht einen Monat mit wieder einer anderen Katze. Für die Zeit dazwischen frage ich Freunde, ob ich sie für ein paar Tage besuchen kommen kann. Nichts davon kann ich in der Pandemie machen.

Haben Sie vor, nach New York City zurückzukommen?

Auf jeden Fall. Ich muss nur abwarten, bis es wieder möglich ist, dort eine Bleibe zu finden.

 

»Mit den Protesten, die derzeit stattfinden, ist es schwierig. Einerseits ist es großartig, dass die Menschen auf der Straße sind, andererseits hoffe ich, sie werden in zwei Wochen nicht alle krank sein.«

 

Wie lange leben Sie schon in New York?

Seit August 2005, aber nicht durchgehend. In der Zwischenzeit bin ich ­einmal durch die Vereinigten Staaten gelaufen. Eine Zeitlang habe ich im Hinterland nördlich der Stadt auf einer Farm gearbeitet.

Wie ist die Situation dort, wo Sie gerade sind, im Vergleich zu New York?

Ich denke, in der Stadt ist es immer anders als auf dem Land. Ich war noch in New York, als die Restriktionen ­begannen, genauer: in Rockaway, einer Strandgegend weit draußen in Queens. Dort ist es generell ruhiger, es fühlte sich dort schon anders an als etwa im Herzen Manhattans. Es waren noch viele Menschen auf der Promenade, am Strand oder beim Surfen im Meer. In dieser gigantischen Stadt gibt es Stellen, die sehr belebt, und andere, die eher ruhig sind. So ist es auch in Virginia; auch die Maßnahmen waren dort sehr ähnlich. Es kommt also sehr darauf an, in welchem Gebiet man sich gerade aufhält.

Hat die Pandemie Ihr Leben und das Ihrer Familie und Freunde verändert?

Mein Leben ist generell sehr unbeständig. Ich bin immer wieder an anderen Orten und weiß nie genau, was als Nächstes passieren wird. Für mich ist es also nicht so hart, mich an die neue Situation zu gewöhnen. Manche Menschen denken, ich sei ein obses­siver Typ, der verrückt wird, wenn er nicht jeden Tag in New York spazieren gehen kann. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Für mich ist es normal, dass ich die Dinge nicht in der Hand habe.

Für andere, auch Freunde von mir, ist es viel schwieriger. Sie sind eine viel stärker reglementierte Lebensweise gewohnt. Sie fahren jeden Tag zur Arbeit und sehen abends ihre Freunde. Ich glaube, aus dieser Routine herausgeworfen zu werden, ist für viele sehr hart. Dazu kommt, dass sie nun kaum noch ihre Wohnungen in New York City verlassen können. Gerade eher extrovertierte Menschen kämpfen mit der Situation.

Ist Ihr Projekt, durch ganz New York City zu spazieren, inzwischen abgeschlossen?

Nein, ich denke ständig, ich sei fast fertig, aber es kommt immer wieder ­etwas Neues. Es gibt Gegenden, die ich komplett abgelaufen habe, und jetzt, Jahre später, bauen sie dort eine neue Straße oder einen neuen Park. Ich habe eine lange Liste mit Orten, die ich nach und nach noch einmal besuchen muss. Manchmal bedeutet das, durch die ganze Stadt zu fahren, nur um zwei Blocks abzulaufen. Aber ich habe wahrscheinlich nur noch ein paar hundert Meilen vor mir, fast 9 300 bin ich schon gegangen.

Wie lange haben Sie gebraucht, um fast die gesamte Stadt abzulaufen?

Es hat fast achteinhalb Jahre gedauert. Mittlerweile schaffe ich jedes Jahr ­weniger Meilen. Zu Anfang lief ich fast nur und schrieb sehr wenig. Mit der Zeit hat sich der Schwerpunkt aber verlagert. Als ich anfing, dachte ich nicht, dass ich einmal so viel zu den Straßen und Orten recherchieren würde. Es dauert jedes Jahr länger, eine bestimmte Anzahl an Meilen zu laufen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, jede Straße von New York City zu Fuß zu erkunden?

Nach meiner Tour durch die USA wusste ich, dass es für mich einen besonderen Reiz hatte, meine Zeit damit zu verbringen, nur herumzulaufen. Ich hatte nach meiner Rückkehr ein paar kleine Jobs und überlegte, was ich als Nächstes tun könnte. Ich hörte von Leuten, die ganz Manhattan abgelaufen haben. Das faszinierte mich, und ich überlegte, ob und wie das mit der ganzen Stadt möglich wäre. Denn so groß Manhattan auch ist, es macht nur sieben oder acht Prozent der Fläche von New York City aus.

Wie finanzieren Sie sich?

Vor meiner Tour durch die USA habe ich als Bauingenieur gearbeitet. Meine Aufgabe war es vor allem, Straßen zu konstruieren. Ich war aber nie jemand, der viel Geld ausgibt. So konnte ich einiges ansparen, bevor ich kündigte. Jetzt mache ich ein wenig Geld über meinen Blog, manche spenden mir etwas. Ich unterrichte auch, zum Beispiel an einem College. Manchmal werde ich gefragt, ob ich einen Vortrag halten will. Bisweilen mache ich auch einfach nur kleine Jobs. All das zusammen deckt meine Kosten in guten ­Monaten ganz ordentlich. In schlechten greife ich auf mein Erspartes zurück. Im Großen und Ganzen bin ich überrascht, wie lange ich schon so leben konnte. Als ich anfing, dachte ich, das wäre vielleicht zweieinhalb Jahre so möglich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mehr als acht Jahre so leben könnte.

Es gibt einen Dokumentarfilm über Sie. Wie kam es dazu?

Mein Freund Jeremy Workman hat den Film gedreht. Er hat ein paar wirklich tolle Filme gemacht, meist über Menschen, die eine persönliche Mission obsessiv verfolgen. Einer von denen hat nahezu sein ganzes Erwachsenen­leben damit verbracht, alle Kachel- und Fliesenbebilderungen des New Yorker U-Bahnsystems zu recherchieren, zu dokumentieren und abzuzeichnen. Den meisten fällt diese Kunst gar nicht auf, aber er hat sein ganzes Leben hin­gegeben, um die Erinnerung an diese Kunst zu erhalten. Ich sah diesen Film und war nur noch daran interessiert, diesen Mann zu treffen. Also kontaktierte ich ihn über Jeremy und so wurden wir drei Freunde.

Als ich zweieinhalb Jahre durch New York spaziert war, fragte Jeremy, ob er mich auf ein paar Spaziergängen begleiten und seine Kamera mitbringen könne. Damals gab es noch keinen richtigen Plan. Nach all der Zeit, die ich schon mit Laufen durch die Stadt verbracht hatte, wusste ich, dass mir ständig bemerkenswerte Dinge passieren und die Erfahrung des Laufens selbst sehr interessant ist. Auf meinem Blog gibt es all die Fotos von Dingen, die ich gesehen habe, aber die vermitteln einem nicht, wie es sich anfühlt, dort herumzulaufen. Deshalb gefiel mir die Idee, dass all das aufgezeichnet würde. Wenn Jeremy Zeit hatte, kam er ein paar Tage die Woche mit. Mit Unterbrechungen filmte er ungefähr dreieinhalb Jahre lang. Am Ende hatte er 500, 600 Stunden Filmmaterial.

Denken Sie, die Pandemie wird die Stadt verändern?

Ja, klar, aber die Stadt verändert sich ständig. Am Anfang war New York so ­etwas wie ein Handelsposten für Biberfelle, dann wurde es zu dieser berühmten Hafenstadt. Später schossen überall Fabriken aus dem Boden. Schließlich verwandelte sich New York City in eine Dienstleistungsstadt mit Finanz­firmen, Anwaltskanzleien und Werbeagenturen. Nun sieht es so aus, also ob die Stadt ein Technologiezentrum wird. Die Bevölkerungsstruktur ändert sich ständig, es kommen immer neue Menschen aus anderen Teilen der Welt. Außerdem ist es eine gigantisch große Stadt, verschiedene Stadtteile sind wie verschiedene Universen.

Ich bin mir sicher, auch die Pandemie wird die Stadt verändern. Viele Menschen können ihre Miete nicht mehr bezahlen, weshalb die Vermieter weniger Steuern zahlen, was dazu führen könnte, dass die Stadt weniger öffent­liche Infrastruktur und soziale Dienste zur Verfügung stellt. New York ist zu einer absurd teuren Stadt geworden. Man muss sich fragen, wie man das hat zulassen können. Viele Menschen werden ihre Geschäfte und ihre Arbeit verlieren – und damit ihre Art zu leben. Aber vielleicht blicken wir in 20 Jahren zurück auf die Pandemie und können die Krise als etwas ­begreifen, das half, das Leben in der Stadt zu verbessern.

Wie geht es den Menschen in Gegenden wie Queens oder der Bronx, die besonders hart von der Pandemie getroffen wurden?

Die Menschen in den stark betroffenen Gebieten können sehr unterschiedliche Erfahrungen haben. Manche können zu Hause arbeiten und eine Maske aufziehen, wenn sie einkaufen gehen. Ihr Leben wird durch die Pandemie nicht so stark beeinflusst wie das Leben derer, die in einem Geschäft oder im Krankenhaus arbeiten müssen.

Hat sich die Situation in der Stadt inzwischen gebessert?

Ja. Wenn man heute an einem schönen Tag in den Park geht, sind da wieder sehr viele Menschen. Ich glaube, auch wenn Menschen Veränderungen generell nicht mögen, passen sie sich sehr schnell an neue Situationen an. Allerdings mache ich mir Sorgen, dass sie zu sehr in alte Muster verfallen und nicht genug Abstand halten. Mit den Protesten, die derzeit stattfinden, ist es schwierig. Einerseits ist es großartig, dass die Menschen auf der Straße sind und ihren Unmut zum Ausdruck bringen, andererseits sehe ich die vielen Menschen auf einem Haufen und ­hoffe, sie werden in zwei Wochen nicht alle krank sein.

Die Pandemie wirkt sich sehr unterschiedlich auf die verschiedenen ­gesellschaftlichen Gruppen in den USA aus. Es gibt ethnische Gruppen, die schon immer medizinisch unterversorgt waren. Es gibt Arbeiter, die immer noch draußen arbeiten müssen, den Bus fahren oder was auch immer. Diese Menschen sind stärker von der Pandemie betroffen. Das schafft noch mehr Frustration und Wut. Ich bin mir sicher, dass ein Teil des Protests auch dagegen geht, zusätzlich zur Wut über die Polizeigewalt. Es ist eine schwere Zeit: Man kann nicht auf Proteste verzichten, möchte aber auch nicht sehen, wie diese Menschen sich anstecken.

Haben Sie Pläne für die Zeit nach der Pandemie?
Nein, nicht wirklich. Sobald ich kann, werde ich nach New York City zurückkehren und die letzten Blocks ablaufen, das könnte in ein paar Monaten sein oder auch erst in einem Jahr, ich weiß es nicht. Aber ich sorge mich nicht, das Leben ist auch hier gut. Was passieren wird, wird passieren. Ich werde mich anpassen müssen.