Im Verfahren gegen den Attentäter von Halle ging es um dessen Familie

Gegen die »Macht der Juden«

Der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle geht in die Sommerpause.

Auch in der zweiten Verhandlungswoche präsentierte sich der Angeklagte betont selbstsicher und munter. Vor zweieinhalb Wochen hatte der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle begonnen (Kein Raum für den Kämpfer - Jungle World 31/2020), vergangene und diese Woche verhandelte der aus Platzgründen in die ehemalige Bibliothek des Landgerichts Magdeburg ausgewichene Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Naumburg weiter.

Wie schon zu Prozessbeginn reagierte der Angeklagte allerdings gereizt und dünnhäutig, sobald ihm unvorhergesehene oder aus seiner Sicht unangenehme Fragen gestellt wurden. So konfrontierte ihn die Nebenklageanwältin Kristin Pietrzyk beispielsweise mit einer Liste von Personen, mit denen er in der Haft regen Briefkontakt pflegen soll, oder mit dem Abschiedsbrief seiner Mutter, die nach seiner Tat einen Suizidversuch begangen hatte. Energisch blockte der Angeklagte Fragen zu diesen Themen ab.

Ihr Sohn, schrieb die Mutter des Angeklagten, habe sein Leben für »die Wahrheit« gegeben.

Ein Beamter des Bundeskriminalamts (BKA), der den Angeklagten in den Wochen nach der Tat intensiv vernommen hatte, schilderte, wie dieser die Meilensteine seiner Fanatisierung selbst wahrnehme: Einschneidende Brüche im Leben des Angeklagten seien demnach eine schwere Krankheit im Jahr 2013, die »Flüchtlingskrise« im Jahr 2015 sowie das Attentat im neuseeländischen Christchurch gewesen. Nachdem dort im März 2019 ein australischer Rechtsextremer zwei Moscheen gestürmt und 51 Menschen erschossen hatte, habe sich auch der Angeklagte zu seiner Tat entschlossen.

Über Imageboards und das Darknet habe er den Austausch mit Gleichgesinnten gesucht, die konkreten Aktivitäten und Kontakte seien ihm aber technisch bedingt nur schwer nachzuweisen. Obwohl das BKA auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hinzuzog, konnten die Behörden die Kontakte des Angeklagten etwa auf der Plattform Steam nicht ermitteln. Das gelang Reportern des MDR. Das BfV wollte sich dazu auf Anfrage des Senders nicht äußern.

Die Befragung des Vernehmungsbeamten verstärkte das Bild, dass die Ermittlungen der Polizei in diesem Bereich bislang nichts zu Tage gebracht zu haben scheinen, was der Angeklagte nicht selbst offengelegt hatte: Seine Online-Vernetzung, etwa mit der Incel-Szene, belegte schon seine Musikauswahl im Livestream der Tat, wie die Anwältinnen Pietrzyk und Kati Lang sagten. Auch der einzige Anhaltspunkt der Ermittler, dass der Angeklagte 0,1 Bitcoin von einem »Mark« erhalten habe, fußt primär auf dem selbst veröffentlichten Manifest des mutmaßlichen Täters.

Neben den Wegen der Fanatisierung des Angeklagten wurde in den zurückliegenden Verhandlungstagen auch seine familiäre Situation mehr in den Mittelpunkt gerückt. Nachdem Mutter, Vater und Halbschwester des Angeklagten vor Gericht erschienen waren, aber die Aussage verweigert hatten, gab der ehemalige Lebensgefährte der Halbschwester am vierten Verhandlungstag Einblicke in das Familien­leben. Der 31jährige Mario S. betonte, wie normal er die Familie finde, mit der er noch immer eng verbunden sei. Er gab an, dass der Angeklagte in der Familie stets im Mittelpunkt gestanden, sich in der Rolle eines Sonderlings aber sehr wohl gefühlt habe. So habe er etwa Gespräche in größerer Runde nur gelegentlich gehässig kommentiert und sei insgesamt ein Einzelgänger gewesen, der nahezu keine sozialen Kontakte gepflegt habe.

Den Ermittlungen und dem Zeugen S. zufolge soll der Attentäter wiederholt mit rassistischen und antisemitischen Hasstiraden aufgefallen sein. Er habe über die »Macht der Juden« geschimpft, in einem Streit ein Messer gezückt und ihm Unbekannte, die sich nicht auf Deutsch unterhielten, wüst beschimpft. Hinweise darauf, wie sich sein engstes Umfeld zu seiner Weltanschauung verhielt, lieferte etwa der Abschiedsbrief der Mutter, den diese während eines Suizidversuchs kurz nach der Tat geschrieben hatte. Im Brief klingen antisemitische Verschwörungsphantasien an, mehrfach zeichnete sie zudem einen durchgestrichenen Davidstern. Ihr Sohn, schreibt sie, habe sein Leben für »die Wahrheit« gegeben.

Fragwürdig erscheinen insofern die Beteuerungen des Zeugen S. und einer ehemaligen Freundin der Mutter, nie rassistische oder antisemitische Äußerungen der Familienmitglieder gehört zu haben. Die Ansichten des Angeklagten hätten alle abgelehnt, sagte S., er sei dafür bloß nie zur Rede gestellt worden. Auch als der Angeklagte begonnen habe, in dem Schuppen seines Vaters mit schweren Metallteilen und Werkzeugen zu hantieren, und zugleich Militaria in seinem Zimmer gesammelt habe, habe niemand gehandelt. »Da müsste jeder normale Mensch hellhörig werden«, sagte der Nebenklageanwalt David Herrmann. »Es gab die Anzeichen. Wir dürfen sie nicht übersehen.«

Die Verhandlung wird nach einer dreiwöchigen Pause Ende August fortgesetzt. Ein Urteil soll im November fallen.