Das erste armenische Museum der Türkei

Der rettende Berg

In einem Dorf am Hang des Musa Dağı wurde das erste armenische Museum der Türkei eröffnet.

Vakıflı ist ein kleines Dorf am Musa Dağı, dem Mosesberg. Der 89jährige Panos Çapar sitzt im »Frühstückshaus« des Ortes mit Blick auf die Gärten in Hanglage. Den ganzen Tag über wird hier das traditionelle Frühstück gereicht. Es gibt frisch zubereitete Kräuterpasten, köstlich eingelegte Oliven, selbstgemachte Butter, Käsespezialitäten und Konfitüren aus den Früchten der Region. Vakıflı liegt ganz im Süden der Türkei, 30 Kilometer entfernt von der Grenze zu Syrien.

Vom Mosesberg erzählt Franz Werfels 1933 erschienener Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, der den Völkermord an den armenischen Christen behandelt. Der Berg, auf den sich 1915 4 000 Armenier geflüchtet hatten, wird im Roman zur Festung, die der türkischen Übermacht hartnäckig trotzt. Vakıflı ist heute das einzige erhaltene armenische Dorf in der Türkei.

Mit dem Museum wollen die Çapars eine Perspektive für eine bessere Zukunft entwickeln. »Ich habe von Hrant Dink gelernt, wie wichtig es ist, die gemeinsame Geschichte aller Völker Anatoliens in einem Zusammenhang zu präsentieren«, sagt Lora Çapar.

Panos Çapar zieht eine Panflöte hervor und beginnt, eine Melodie zu spielen. Nach einer Strophe setzt er sie ab und beginnt zu singen, erst auf Armenisch, dann auf Türkisch: »Oh meine Güte, auf dem Basar von Erzurum, da gibt es diese blonde Braut. Dort geht ein Mädchen umher, für das es sich zu sterben lohnt.« Das Lied ist in Armenien und Aserbaidschan, im Irak und im Iran gleichermaßen populär. Es stammt aus einer Zeit, als die Region des Nahen und Mittleren Ostens noch nicht zum Schauplatz dauernder religiöser und nationaler Auseinandersetzungen geworden war. »In Friedenszeiten haben hier immer alle zusammengelebt und sind in die Kirche, in die Moschee oder in die Synagoge gegangen«, erzählt Çapar.

Sein Neffe Cem Çapar ist Tierarzt. Daneben engagiert er sich als Vorsitzender der Stiftung der armenisch-orthodoxen Kirche in Vakıflı. In einem zur Kirche gehörenden Gebäude ist auch das erste armenische Mu­seum der Türkei untergebracht. Das »Musa Mountain Armenian Museum« zeigt Kleidung, historische Gegenstände und Schmuck. »Das ist das Notizbuch meines Onkel Panos«, erzählt Çapar und zeigt auf eine Glasvitrine, in der ein altes Heft in einem Ledereinband liegt. Es stammt aus den zwanziger Jahren. Panos ­Çapars Vater hatte 1923, im Jahr der Gründung der türkischen Republik, damit begonnen, Liedtexte und Begebenheiten aufzuzeichnen. Das Heft vererbte er seinem Sohn, Cems Onkel Panos, der es weiterführte. Cem Çapar und seine Frau Lora haben viele solcher privaten Besitztümer zusammengetragen, die die Geschichte des Dorfes dokumentieren.

Franz Werfel verfasste seinen Roman nach einer Reise in den Nahen Osten im Jahr 1929. In Damaskus war ihm aufgefallen, dass viele christliche Waisenkinder ihren Lebens­unterhalt in Textilmanufakturen als Hilfskräfte verdienen mussten. Er fragte sich, was wohl mit den Eltern der Kinder geschehen war, und begann zu recherchieren. Von österreichischen Diplomaten ließ er sich Protokolle über den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich geben und wurde auf die Ereignisse auf dem Musa Dağı aufmerksam. Der Roman erzählt die Geschichte eines nach Paris ausgewanderten Armeniers. Als er mit seiner französischen Ehefrau und seinem Sohn den Mosesberg in seinem Heimatdorf besucht, wird er von den Ereignissen überrollt. Aus Istanbul treffen Flüchtlinge ein, die von Pogromen und Deportationen berichten. Die Christen beschließen, sich auf dem Berg zu verschanzen und Widerstand gegen die Türken zu leisten.

»Es waren nicht 40, sondern 52 Tage«, sagt Cem Çapar. »Die Armenier der Generation unserer Groß­väter versteckten sich erst auf dem Berg. Dort harrten sie 52 Tage aus. Ein französisches Schiff bemerkte sie und brachte sie in den ägyptischen Hafen Port Said. Sie kamen dort für vier Jahre in einem Flüchtlingslager unter. Auf den Fotos können sie die Zelte sehen. Nach Kriegsende kehrten sie 1919 in ihre Dörfer hierher zurück.« Eine Ausstellung des Museums dokumentiert die Stationen ihrer Flucht.

Behutsam versucht das Museum, Erinnerung zu etablieren. Der Begriff des Völkermord ist tabu, doch es macht erstmalig Zeugnisse der Geschichte des armenischen Widerstands gegen den Genozid in der Türkei öffentlich zugänglich.

Lora Çapar ist aus Istanbul in das Heimatdorf ihres Ehemanns gekommen, nachdem sie mehrere Jahre in der Redaktion der armenisch-türkischen Tageszeitung Agos tätig ge­wesen war. Die Zeitung erlangte traurige Berühmtheit, als ihr Chefredakteur und Herausgeber Hrant Dink 2007 vor dem Redaktionsgebäude von einem türkischen Nationalisten hinterrücks erschossen wurde. Der geständige Täter Ogün Samast, damals 16 Jahre alt, wurde zu 22 Jahren Haft verurteilt. Die Familie und ­Anwälte des Opfers forderten immer wieder vergeblich, nach den Hintermännern des Attentats zu suchen.

Mit dem Museum wollen die Çapars eine Perspektive für eine bessere Zukunft entwickeln. »Ich habe von Hrant Dink gelernt, wie wichtig es ist, die gemeinsame Geschichte aller Völker Anatoliens in einem Zusammenhang zu präsentieren«, sagt Lora Çapar. Das Museum vermittelt mit Alltagsgegenständen, Videos, Fotos und Texten die verbindende Geschichte der Bräuche und Religionen. Wie das Lied von der blonden Braut sind viele armenische Motive auch in benachbarten Regionen bekannt. Die Tradition etwa, Bräute auf bunt geschmückten Pferden vom Elternhaus in das Haus des Bräutigams zu überführen, gab es überall in den Dorfkulturen Anatoliens.

Die Marienkirche wurde wegen der Covid-19-Pandemie geschlossen. Gläubige dürfen nur einzeln zum Gebet kommen. Lusin Karakaş zündet täglich eine Kerze an. Ihre Kinder und Enkel leben in Deutschland und in der Schweiz. »Der Herr möge sie beschützen«, betet die 65jährige. Die Kirche ist für ihre Generation Zentrum des Dorflebens. »Wir wurden in dieser Kirche getauft und haben hier geheiratet. Meine Enkel wurden zwar in Deutschland geboren. Aber wir haben sie hier taufen lassen.«

Ein Trecker fährt an der Kirche vorbei. Lusin Karakaş springt behende auf den Beifahrersitz neben ihren jüngsten Sohn, der noch bei ihr wohnt. Gemeinsam bringen sie die Haushälterin Havva Taş in das benachbarte Dorf Hıdırbey. Es liegt nur zwei Kilometer entfernt. »Das Dorf war einst armenisch«, erzählt Lusin Karakaş. »Dann haben die Armenier den Ort verlassen und die Nachbarn sind hier eingezogen.« Die türkische Muslimin Havva Taş wohnt ebenfalls in einem ehemals christlich-armenischen Haus. Sie deutet auf ein Heiligenbild an der Fassade des Hauses. Sie berichtet, dass Touristen aus dem Ausland kommen, um es anzusehen und zu fotografieren. »Das sind keine Touristen, das sind Armenier aus der Diaspora, die das Dorf ihrer Vorväter aufsuchen«, berichtigt Lusin Karakaş. »Ja, das mag sein, aber das ist alles so lange her, ich bin schon in diesem Dorf geboren«, erwidert Havva.

Die Nachbarinnen verstehen sich gut. Konflikte zwischen den Dörfern gehören der Vergangenheit an. Im Dorf Hıdırbey steht der »Baum Moses«. Hier soll der Prophet des Alten Testaments seinen Stab neben einer Quelle in den Boden gerammt haben. Der Überlieferung zufolge wurde der Stab zu einem Baum. Verehrt wird er von Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen. Touristen ­lassen sich vor der mächtigen Zeder fotografieren und trinken in ihrem Schatten einen Tee. Der Baum ist der Namensgeber des Berges. »Jeder ­erzählt die Geschichte des Baums anders«, bemerkt Lusin Karakaş, »aber es geht im Grunde immer um das Gleiche.«