Coronagipfel in Neukölln

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Neuköllner Coronagipfel.

»Jeden Abend muss ich irgendwen auf die Abstandsregel hinweisen oder darauf, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen«, sagt Murat Cinar. »­Jeden Abend das Gleiche. Viele reagieren so, als hörten sie zum ersten Mal von der Pandemie. Das nervt ganz schön!«

Murat ist Manager der »Villa Neukölln« in Berlin. Wir sitzen am Freitagabend gemütlich vor dem Laden. Nach sechs Monaten bin ich zum ersten Mal wieder hier. Fünf Jahre lang war ich hier jede ­Woche zu Gast, um als DJ Platten aufzulegen oder um zu tanzen. Dabei habe ich mit dem Ort immer auch ein wenig gefremdelt, wenn ich ankam. Es ist ein Treffpunkt für Leute, die im Schnitt 25 Jahre jünger sind als ich. Dennoch spazierte ich immer selbstbewusst hinein, denn ich wusste, dass ich dort mehr Freunde und Bekannte treffen würde als jeder Gast, der nur zum Trinken und Abhängen gekommen war. Jeden Donnerstag füllte Anton Wunderlichs Time Rag Department den großen Raum im hinteren Bereich mit Tänzerinnen und Tänzern. Wegen der Covid-19-Pandemie ist der Raum seit sechs Monaten geschlossen.

Draußen an den Tischen höre ich Englisch, Spanisch und Schwedisch. Ich will von Murat wissen, wie es in den vergangenen Monaten gelaufen ist. »Die Soforthilfe war sehr gut. Die hat uns über die ersten Monate des lockdown gebracht«, sagt er. Es ärgert ihn allerdings, dass einige Leute das Geld zu Unrecht bezogen haben. Ich pflichte ihm bei. Auch ich kenne in meinem Bekanntenkreis Leute, die sich da erst mal bedient haben. »Der Sommer war überraschend gut. Da ist ja sonst meist Flaute«, meint Murat. Im Barbereich wurden einige Tische entfernt, Selbstbedienung am Tresen gibt es nicht mehr. Dennoch kann der Betrieb nicht wiederaufgenommen werden. »Veranstaltungen sind erst mal nicht geplant, obwohl ich jetzt schon jeden Tag Anfragen bekomme.« »Tja, wenn ihr wenigstens eine Belüftungsanlage hättet. So eine, die die Luft austauscht«, wende ich ein. »Nicht mal dann geht es. Noch nicht mal Privatfeiern. Das ist mir alles zu unsicher. Du weißt nie, was die Leute da machen«, sagt Murat. Er kennt viele Läden, die das anders handhaben, aber dafür hat er kein Verständnis. »Oft kommen Leute betrunken von Partys in der Hasenheide und wollen dann hier weiterfeiern, aber das läuft nicht. Viele bringen auch ihre eigenen Getränke mit.« Ich will noch irgendetwas Abschwächendes erwidern, da steht er auch schon auf, um ein Pärchen am Nebentisch freundlich darauf hinzuweisen, dass sie ihr mitgebrachtes Bier hier nicht trinken können. Sie stehen auf und gehen.

Ich erzähle von der Swingtanzszene: Dass Tausende wie Junkies auf Turkey sehnsüchtig auf das Ende der Pandemie warten. Anstatt wie früher gemeinsam zu tanzen, haben sie sich während der Pandemie auf Facebook zerstritten. Zunächst gab es eine wochenlange Debatte über Black Lives Matter. Da Jazz und Swing afroamerikanische Wurzeln haben, fühlten sich sogenannte scene leader berufen, ihre Solidarität mit der Bewegung zu bekunden. Da sich eigentlich alle Swingleute antirassistisch äußerten, kam an dieser Stelle keine Diskussion auf.

Einige Tanzsportler kamen dann auf die Idee, mit Verweisen auf die Critical Whiteness Studies andere Swingtänzer über den korrekten Gebrauch der Sprache zu belehren, wie zum Beispiel über den erst wenige Wochen alten Begriff BIPOC. Fröhlich wurde die Hierarchie in der Tanzszene zumindest virtuell wiederhergestellt. Wochen später geriet die Szene erneut in Streit, diesmal ging es um die Hygieneregeln. Während die meisten diszipliniert blieben, hatte eine kleine Gruppe immer wieder zu Veranstaltungen eingeladen, ohne jegliches Hygienekonzept und nach dem Motto: »Kommt und tanzt miteinander, das ist gesund und stärkt das Immunsystem.« Coronaleugner kamen plötzlich aus der Deckung und wurden erst nach Wochen erbitterter Auseinandersetzungen aus den Facebook-Gruppen herausgedrängt. Und das alles nur, weil wir nicht mehr donnerstags in die »Villa Neukölln« gehen, wo wir uns eher weniger miteinander unterhalten, denn wir kommen in erster Linie, um zu tanzen.

»Das kenne ich«, sagt Murat. »Ich bin als Mitglied der Grünen Bezirksverordneter in der BVV (Bezirksverordnetenversammlung, Anm. d. Red.) Friedrichshain-Kreuzberg. Da gibt’s auch genug Konflikte.« »Was denn so?« will ich wissen. »Zum Beispiel haben wir drei Abgeordnete der AfD, die ­alles torpedieren. Aber die Fraktionen votieren immer sehr geschlossen gegen deren Anträge. Andere Parteien suchen regelmäßig nach Möglich­keiten, eine Bebauung auf dem Tempelhofer Feld durchzusetzen, obwohl das im Gesetz nicht vor­gesehen ist. Diese ganzen Anträge machen schon sehr viel Arbeit.«

Wir verabschieden uns und ich steige auf mein Fahrrad. Ich bin ehrlich froh, dass Murat für uns das Tempelhofer Feld beschützt. Er macht so einen überzeugenden Eindruck, dass auch ich zuversichtlich werde. Eines Abends irgendwann im nächsten Jahr werde ich wieder hinter dem DJ-Pult der »Villa Neukölln« stehen, als wäre nicht gewesen.