In Russland wird die Repression gegen die linke Opposition schärfer

Links gegen Putin

Die Kommunistische Partei ist aus den russischen Duma-Wahlen im September erneut als größte Oppositionspartei hervorgegangen. Doch Linke sehen die Partei kritisch. Sie sind zunehmender Repression ausgesetzt.

Im Moskauer Vorstadtbezirk Kotelniki ragen die Wohntürme eintönig in den grauen Morgenhimmel, ihr Baustil aus der Postsowjetzeit gleicht dem in unzählbaren russischen Trabantenstädten. Die Tür im neunten Stockwerk öffnet die Mutter von Armen Aramyan. Der junge Mann mit lockigen Haaren sitzt mit überschlagenen Beinen im Wohnzimmer. Er trägt Crocs, auf ihnen ein ACAB-Sticker und eine Karte von Russland ohne die 2014 annektierte Krim. An seinem Knöchel prangt die elektronische Fußfessel, die er Tag und Nacht tragen muss. Manchmal stört sie ihn beim Schlafen, sagt er, aber mittlerweile habe er sich daran gewöhnt.

Seit April stehen Armen Aramyan, Alla Gutnikowa, Wladimir Metjolkin und Natalja Tyschkewitsch unter Hausarrest, der kürzlich erneut bis April 2022 verlängert wurde. Sie sind Redakteure der studentischen Online-Zeitschrift Doxa. Ihnen wird vorgeworfen, im Zusammenhang mit den Protesten nach der Verhaftung Aleksej Nawalnyjs Anfang des Jahres Minderjährige zu gefährlichen Aktivitäten verleitet zu haben. Doxa hatte in einem Video Studierende über ihre Rechte informiert, die durch Drohungen der Universitätsleitung, sie der Universität zu verweisen oder nicht zu Prüfungen zuzulassen, davon abgehalten werden sollten, an den Protesten teilzunehmen.

»Ohne Wahlfälschungen hätten die Kommunisten vermutlich mit der Regierungspartei Einiges Russland gleichauf gelegen.« Ilya Mateev, Politikwissenschaftler

Diese Aufklärung stellt nach Ansicht der Staatsanwaltschaft schon ein Verbrechen dar. »Wir sollten als Beispiel dafür dienen, was in diesem Land mit Menschen passiert, die Nawalnyj unterstützen, obwohl wir gar keine aktiven Unterstützer Nawalnyjs sind«, sagt Aramyan.
Im Lauf der vergangenen Monate musste er über 30 Mal zu Verhören erscheinen. Die Angeklagten dürfen das Internet nur benutzen, um mit ihren Anwälten oder der Polizei zu kommunizieren, und ihre Wohnungen für zwei Stunden am Tag verlassen. An diesem Samstag hat Aramyan beschlossen, nicht vor die Tür zu gehen. Das Wetter ist schlecht und er hätte den Freigang schon um acht Uhr morgens antreten müssen. Er arbeite viel, um die Zeit im Arrest sinnvoll zu nutzen und nicht in eine Depression zu verfallen, sagt der 24jährige, der einen Master-Abschluss in Politischer Philosophie hat. Zu Beginn des Hausarrests war die Situation so bedrückend, dass er sich psychologische Unterstützung suchen und Antidepressiva nehmen musste.

»Ursprünglich waren wir ein studentisches Magazin«, sagt Aramyan, der Doxa 2017 an der Wirtschaftshochschule Moskau mitgründete. Er war schon in der Schule politisch, erfuhr wegen seiner armenischen Herkunft Xenophobie, beschäftigte sich mit Feminismus. »Wir haben schon damals immer wieder provokante Artikel veröffentlicht, über Zensur oder sexuelle Belästigung an Unis zum Beispiel«, sagt Aramyan. »Irgendwann ging es über den universitären Rahmen hinaus, wir begannen, über Wahlmanipulationen, politische Gefangene und Polizeigewalt zu schreiben. Wir halfen Verhafteten mit Crowdfunding, ihre Strafen zu bezahlen, und gaben Ratschläge für den Fall einer Verhaftung.« Im Sommer 2019 protestieren in Moskau Tausende Studenten gegen Betrug bei den Wahlen zur Stadtduma. Der Staat ging dagegen vor, Doxa wurde der Status einer studentischen Organisation entzogen.

Nawalnyjs Bewegung
Nawalnyjs Positionen sieht Aramyan als Linker kritisch, nicht nur wegen dessen nationalistischer Vergangenheit. Die Kritik Nawalnyjs an staatlicher Korruption sei aus einer liberalen Perspektive, als bloße Forderung nach Rechtsstaatlichkeit formuliert und ignoriere die Ungleichheit, die der Kapitalismus hervorbringe. Doch Nawalnyj sei es gelungen, Oppositionelle mit den unterschiedlichsten politischen Ansichten hinter sich zu vereinen. Sein Ziel, Putins Partei Einiges Russland zu schwächen, habe er erreicht.

»Lange hatte Nawalnyjs Team, wie weite Teile der politischen Opposition in Russland, keine bestimmte Ideologie. Viele folgten einem dichotomen Narrativ vom guten demokratischen Westen und schlechten autoritären Russland, glorifizierten dabei den im Westen herrschenden Kapitalismus und ignorierten die daraus weltweit resultierenden Probleme. Aber mir scheint, als würden linke Ideen an Zuspruch gewinnen«, sagt Aramyan. Rosig seien die Perspektiven jedoch nicht: Viele Oppositionelle hätten das Land verlassen, Aktivisten seien eingeschüchtert oder wüssten nicht, wie sie sich organisieren sollen.

Historische Gründe für die Schwäche der russischen Linken lassen sich viele finden: das Scheitern der Sowjetunion und die Traumata der stalinistischen Gewaltherrschaft, die Umwälzungen der postsozialistischen Zeit. Heutzutage ist die russische Gesellschaft individualistischer und atomisierter als die vieler westeuropäischer Länder. Ideen von gesellschaftlicher Verantwortung und sozialen Bewegungen stehen viele Russen gleichgültig und skeptisch gegenüber. Besonders in Bezug auf den Staat und die Politik herrscht ein tiefer Zynismus, viele Menschen betrachten Politik als ein dreckiges, zu weiten Teilen von Gangstern betriebenes Geschäft, in das man sich besser nicht einmischt. Und wer doch politisch, aber nicht regimetreu ist, muss seit vielen Jahren mit verschärfter staatlicher Repression rechnen.

Doch es gab gerade in jüngerer Vergangenheit Ereignisse, die Teile der russischen Gesellschaft politisiert haben. 2018 erhöhte die Regierung das Renteneintrittsalter, wogegen Tausende demonstrierten. 2020 setzte die Regierung eine Verfassungsänderung durch, die es Präsident Wladimir Putin ermöglicht, weiter an der Macht zu bleiben. Und vor der Duma-Wahl im September dieses Jahres verschärfte die Regierung Repressalien gegen oppositionelle Politiker und Medien, ein Zeichen für schwindende Unterstützung der Regierungspartei Einiges Russland. Nur mit Wahlmanipulationen konnte sie mit offiziell 49,8 Prozent der Stimmen ihre Parlamentsmehrheit verteidigen. Bei den Wahlen gab es jedoch noch eine andere Siegerin: die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) steigerte ihr Ergebnis auf 18,9 Prozent.

Stimmengewinne der Kommunisten
»Ohne Wahlfälschungen hätten die Kommunisten vermutlich mit Einiges Russland gleichauf gelegen«, meint Ilya Matveev. Der Politikwissenschaftler ist beteiligt an zahlreichen linken Medienprojekten und Mitglied der unabhängigen Forschungsgruppe Public Sociology Laboratory in Sankt Petersburg. »Die Unterstützung für das Regime ist so niedrig wie nie zuvor«, glaubt er. Das politische System Russlands sei ein elektoraler Autoritarismus, also ein autoritäres Regime, das sich durch Wahlen legitimiere, jedoch nicht abgewählt werden könne, auch weil die Wahlen manipuliert seien. Statt echter Oppositionsparteien gebe es im Parlament Parteien der sogenannten systemischen Opposition, die Macht der Regierung nicht in Frage stellen, dazu gehöre auch die Kommunistische Partei. In den vergangenen Jahrzehnten seien immer wieder gerade Linke aus der Partei ausgeschlossen worden.

Im Oktober veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Lewada eine Umfrage über die politischen Einstellungen der russischen Bevölkerung. Obwohl 58 Prozent der Befragten sagten, sie unterstützten marktwirtschaftliche Reformen nicht, verneinten 72 Prozent die Frage, ob sie linke oder sozialistische Ansichten hätten; nur 18 Prozent stimmten dem zu. »Das liegt auch daran, dass es keinen politischen Wettbewerb gibt«, sagt Matveev. »Es fehlen die Gelegenheiten, Menschen für linke Ideen zu begeistern.« Er ist jedoch überzeugt, dass bestimmte linke Forderungen, etwa nach Umverteilung oder mehr Rechten für Arbeiter, von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt würden.

Es gebe in Russland Hunderte kleiner linker und studentischer Gruppen, die Vorträge organisieren, an lokalen Protesten teilnehmen und sich ansonsten vor allem im Internet austauschen, so Matveev. Doch seien sie über viele Fragen uneins: über die Haltung zum Ukraine-Konflikt und zum russischen Imperialismus allgemein, zu Allianzen mit liberalen Oppositionellen und der Beteiligung an Wahlen sowie zu Identitätspolitik und zur Sowjetunion. »Es gibt zum Beispiel eine ultradogmatische linke Youtube-Szene, die in Konflikt mit den meisten aktiven Linken steht und Stalin verehrt«, erzählt Matveev. »Politisch gibt es in Russland keine Mitte, wie gern in der Hufeisentheorie propagiert wird – es gibt nur die zwei Pole: Putins autoritäres Regime auf der einen und die Opposition auf der anderen Seite. In ihr sind von Ultrarechten über Monarchisten, Libertäre, Neoliberale, Sozialdemokraten, Anarchisten und andere Linke bis hin zu Linksradikalen alle Strömungen vertreten.«

Plötzlich Opposition
Viele Russen dürften bei den Duma-Wahlen aus Protest für die Kommunisten gestimmt haben. Auch das Nawalnyj-Lager rief im Rahmen der smart voting-Strategie –die Stimmen der Regimegegner sollen auf den jeweils chancenreichsten Oppositionskandidaten vereint werden – zur Wahl einiger kommunistischer Kandidaten auf. Nach der Wahl rief die KPRF als einzige größere Partei zu Demonstrationen gegen den offenbaren Wahlbetrug auf. Trotz eines seit Beginn der Covid-19-Pandemie geltenden Demonstrationsverbotes hielt sie Ende September drei Kundgebungen in Moskau ab. Jüngst hat der Repressionsdruck auf die Partei zugenommen. So wurde etwa am 9. November einer der prominentesten Kandidaten der Partei, Nikolaj Bondarenko, in der Stadt Saratow an der Wolga ver­haftet. Auch er hatte der Regierung Wahlfälschungen vorgeworfen.

»Nach einer der Kundgebungen in Moskau wurde ich über eine Stunde lang durch Moskau verfolgt«, sagt Michail Lobanow. Der Mathematiker kandidierte als Kandidat der KPRF in Moskau für die Staatsduma, errang aber kein Mandat. Seine Kampagne erregte nicht nur auf der russischen Linken viel Aufmerksamkeit. Lobanow bezeichnet sich als demokratischer Sozialist und versucht, sich mit einem moderneren Auftreten von der durch Sowjetnostalgie, Nationalismus und paternalistisches Sozialstaatsdenken geprägten KPRF abzusetzen. Mitglied sei er nicht, weil es der Partei an innerparteilicher Demokratie mangele.

»Es gibt heute mehr junge Linke als noch vor einigen Jahren, aber sie können sich nirgendwo organisieren. Die KPRF hat Ressourcen, steckt sie aber lieber in die Funktionärsspitze oder Parteistrukturen, statt eine junge Basisorganisation zu fördern«, kritisiert Lobanow. Die letzten Duma-Wahlen und auch seine eigene Kandidatur, für die er landesweit viel Zuspruch erhalten habe, hätten aber gezeigt, dass die Kommunistische Partei auch außerhalb ihres gewöhnlichen Wählermilieus Unterstützung finden könne. Das liege auch daran, dass die konservativen, nationalistischen Töne und die Stalin-Nostalgie leiser geworden und soziale Fragen wieder in den Vordergrund getreten seien. Themen und Rhetorik würden sich langsam der Zeit anpassen, so Lobanow. Er geht davon aus, dass nur staatlicher Wahlbetrug ihn den Sitz in der Duma gekostet habe.

Tatsächlich geriet die KPRF in den vergangenen Jahren immer mehr in Konflikt mit der Regierung. Mehrere Abgeordnete sprachen sich gegen die Rentenreform 2018 und die Verfassungsänderung im vergangenen Jahr aus. Vor allem jüngere Mitglieder der KPRF sind von der Proteststimmung der vergangenen Jahre geprägt.

Doch es ist fraglich, ob die KPRF, deren Parteiführer seit vielen Jahren als loyale Opposition mit der Macht verhandeln, statt sich gegen sie zu stellen, zu einer echten Oppositionspartei werden kann. »Eher werden sie versuchen, eine Linie zu finden, bei der sie den größten Vorteil aus der Oppositionshaltung ziehen können, ohne dabei die Grenze zu überschreiten, die sie in Schwierigkeiten bringen könnte«, meint auch Michail Lobanow.

Bedroht von Rechten
An der Frage, ob es sinnvoll sei, an Wahlen teilzunehmen, spaltet sich die Linke auch in Russland. Radikal linke Gruppen wie Russlands Sozialistische Bewegung (Rossijskoje Sozialistitscheskoje Dwischenije, RSD) riefen aktiv zur Unterstützung von Lobanows Kam­pagne auf. »Auch sie haben verstanden, dass in Russland Wahlen zu boykottieren gleichbedeutend mit Nichtstun ist. Wir haben hier kaum außerparlamentarische Bewegungen, wie in den USA oder der EU«, sagt Armen Aramyan.

Es gibt jedoch auch Gegenstimmen, die Lobanow liberale Tendenzen und Zugeständnisse an politische Gegner vorwerfen. Die marxistische Gruppe Sozialistische Alternative bemängelte außerdem das Fehlen der Bekämpfung von Rassismus, Sexismus und Homophobie in Lobanows Programm und erklärt sich das mit dem Konservatismus der KPRF, die seine Kampagne mitfinanzierte und solche Forderungen nicht unterstützen würde.

»Man weiß gar nicht, vor wem man mehr Angst haben soll, vor der Polizei oder den Rechten.« Darja Serenko, Autorin und Feministin

Für gerade diese Anliegen macht sich die Darja Serenko stark. Sie ist Autorin und intersektionale Feministin. Auch sie sei Mitglied der RSD gewesen, erzählt sie bei einem Treffen in einem Moskauer Café, doch kritisiert sie deren teilweise vorherrschenden Klassenreduktionismus. »Viele Linke hierzulande denken, mit dem Sieg über den Kapitalismus würde jegliche Diskriminierung automatisch verschwinden, das ist jedoch nicht wahr. Für mich ist die Diskriminierungsfrage nicht von der Klassenfrage trennbar und ich möchte nicht abwarten, bis wir Letztere gelöst haben.« Serenko nutzt die sozialen Medien, um ihre Ideen zu verbreiten und über ihren Aktivismus zu informieren. Obwohl die Regierung immer wieder Websites sperrt, sind soziale Medien für Linke in Russland unverzichtbar; dasselbe gilt für den Messenger-Dienst Telegram.

Serenko befürchtet, dass sich die Situation für Oppositionelle weiter verschlechtern wird: »Viele von uns werden im Gefängnis landen oder gezwungen sein, in die Anonymität abzutauchen.« Auch weite Teile der Gesellschaft haben Vorbehalte gegen Menschen wie Serenko. Wer Feminismus oder migrationsfreundliche Ansichten vertritt, wird angefeindet. Auch Serenko wird im Internet regelmäßig von Rechtsextremen bedroht. »Man weiß gar nicht, vor wem man mehr Angst haben soll, vor der Polizei oder den Rechten«, sagt sie.

Rechtsextreme Attacken auf Linke hatten ihren Höhepunkt in Russland in der zweiten Hälfte der nuller Jahre. »Es gab damals einen regelrechten Straßenkrieg zwischen Antifaschisten und Neonazis, der viele Antifaschisten das Leben gekostet hat. Die Stimmung gegen Antifaschisten wurde zusätzlich von der Regierung angeheizt«, erzählt Ilya Matveev. Anfang der zehner Jahre nahm sich der Inlandsgeheimdienst der Sache an und verfolgte sowohl Rechte als auch Linke. Viele Antifaschisten und Anarchisten landeten im Knast oder mussten ins Ausland gehen. Erst im vergangenen Jahr wurden sieben Antifaschisten aus Sankt Petersburg im sogenannten Fall Set (Netzwerk) aufgrund konstruierter Terrorvorwürfe zu sechs bis 18 Jahren Haft verurteilt. Von der russischen Antifaszene, die bis in die frühen zehner Jahre sehr verbreitet war, ist bis auf einige Online-Projekte, Treffpunkte und Musikgruppen nicht viel übriggeblieben. »Politischer Aktivismus gestaltet sich derzeit sehr schwer. Was wir weiterhin als Linke tun können, ist, unsere Inhalte zu verbreiten, Wahlen zur Agitation zu nutzen und an lokalen Pro­testen teilzunehmen«, sagt Matveev.