Dienstag, 20.02.2018 / 12:37 Uhr

Ein Jahr #FreeDeniz

Von
Frederik Schindler

Über ein Jahr ist vergangen, bis aus #FreeDeniz endlich #DenizFree wurde. Ein kurzer Rückblick aus der Sicht eines langjährigen Lesers.  

 

#denizfree

 

25. Dezember 2016: In türkischen regierungsnahen Medien wird berichtet, dass in der Türkei ein Haftbefehl gegen den Welt-Korrespondenten Deniz Yücel und andere Journalisten ausgesprochen wurde. Über Twitter erreicht die Nachricht auch deutsche KollegInnen und LeserInnen. Auf Nachfragen dazu reagieren das Auswärtige Amt und der Springer-Verlag zunächst nicht. Wir warten auf eine Nachricht, doch Deniz‘ Twitter- und Facebook-Accounts bleiben still. Auch in der Welt erscheinen keine Texte mehr von ihm. Mit jeder Woche wächst die Sorge, dass er nicht in Sicherheit ist. Schon vorher war er schließlich in der Türkei aufgefallen: Eine erste kurzzeitige Festnahme im Juni 2015 nach kritischen Fragen am türkisch-syrischen Grenzübergang, dann im Februar 2016 eine Hetzkampagne von regierungsnahen Zeitungen, als Deniz Yücel bei einer gemeinsamen Presskonferenz von Angela Merkel und dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu Fragem zur Lage der Menschenrechte im Land stellt. Als der SPIEGEL im März 2016 ihren Türkei-Korrespondenten Hasnain Kazim abzog, wurde auch Deniz von seinem Arbeitgeber kurzzeitig nach Deutschland geholt.

Dann am 17. Februar 2017 der Schock: Die Welt berichtet, dass sich Yücel in Polizeigewahrsam befindet. Drei Tage zuvor hatte er sich in das Istanbuler Polizeipräsidium begeben, um sich den Fragen der Ermittler zu stellen. Ja: Zu diesem Zeitpunkt sitzen schon über hundert JournalistInnen in der Türkei im Knast. Deren Geschichte ist selbstverständlich nicht weniger wichtig. Aber natürlich macht es für die persönliche Betroffenheit einen Unterschied, ob jemand festgenommen wird, dessen Texte man seit über sechs Jahren mit großem Interesse liest (die großartige Besser-Kolumne in der Taz und andere lesenswerte Kommentare, Hate Poetry 2012, das Gezi-Buch 2014 und dann die Türkei-Analysen in der Welt), mit seinen Freunden diskutiert und teilt, den allermeisten zustimmt und sich denkt: „Scheiße. Einer von uns.“

Gleichzeitig zur Ingewahrsamnahme werben türkische Spitzenpolitiker in Deutschland um Zustimmung zum Referendum für die Einführung des Präsidialsystems. Als am 27. Februar 2017 ein Gericht tatsächlich einen Haftbefehl gegen Deniz Yücel erlässt und klar wird, dass er auf unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft kommt – in der Türkei ist das bekanntlich bis zu fünf Jahren möglich – habe ich das dringende Bedürfnis, irgendetwas zu tun. Doch ich fühle mich hilflos und ohnmächtig, mehr als billiger Hashtag-Aktivismus und Profilbildänderungen fällt mir auch nicht ein. Auf meinen „Verdammte Scheiße. Was machen wir jetzt? #FreeDeniz“-Post hat auch niemand eine Antwort. Auf Twitter zählen wir ab sofort die Tage seit der Inhaftierung. Setzen ein Gegengewicht gegen die widerlichen AKP- und AfD-Fans, die Yücel satirische Texte über die Türkei und Deutschland vorwerfen.

Zum Glück haben andere bessere Ideen. Der Freundeskreis FreeDeniz organisiert Autokorsos und Lesungen im ganzen Land, bei denen man seine Solidarität mit dem Journalisten bekunden kann. In Frankfurt fahren wir vor das türkische Generalkonsulat. Deniz‘ Gesicht wird auf T-Shirts und Transparente gedruckt. Das hat zwar teilweise auch etwas von kitschiger Heldenverehrung, aber das ist wohl gerade das geringste Problem. Bei vielen geht es eben nicht nur um einen Kollegen, sondern auch um einen Freund. Und natürlich hat auch dieser Aktivismus – und die große Solidarität unter Journalisten, beispielsweise zwischen Welt, taz und Jungle World – dazu beigetragen, dass die Bundesregierung immer wieder aufgefordert wurde, im Fall Yücel nicht aufzugeben.

Als am 3. März 2017 Erdoğan persönlich Deniz Yücel einen „deutschen Agenten“ und „Terroristen“ nennt und ihm Spionage vorwirft, wird mir erstmals klar, dass es noch lange dauern kann, bis er nicht mehr eingesperrt ist. Bis er wieder einigermaßen frei entscheiden kann, wie er seinen Tag gestaltet. Bis ihn seine Freunde und seine Familie wieder bei sich haben können. Bis wir seine klugen Analysen wieder lesen können.

Kurz danach schildert der Gefangene die Bedingungen seiner Haft: Er ist ständig isoliert und darf keinen Kontakt zu Mitgefangenen aufnehmen. „Das Alleinsein ist schon fast eine Art Folter“, schreibt er. „Durch das Fenster sehe ich nur eine sechs Meter hohe Mauer. Den Himmel sehe ich nur durch den Stacheldraht auf der Mauer. Ich würde mich freuen, Briefe zu erhalten.“

Erst am 4. April erhält die deutsche Botschaft endlich Zugang zu Yücel. Ich bin währenddessen Praktikant bei der Taz, hier fällt fast jeden Tag irgendwo sein Name, oft in der Redaktionskonferenz. Auch hier wird sich die Frage gestellt, was für den ehemaligen Redakteur getan werden kann. Immerhin zum Beispiel, dass die Freilassung immer wieder auch auf der Titelseite gefordert wird.
„Solange ich in diesem Amt bin“ wird Yücel „niemals“ freikommen, kündigt Erdoğan dann am 13. April an. Drei Tage später gewinnt er das Referendum zur Einführung des Präsidialsystems, das seine Machtbefugnisse massiv erweitert.

Am 5. Juli fordert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei auf, bis spätestens 23. Oktober eine Stellungnahme zum Fall Yücel einzureichen. Da wird Deutschland ihn schon längst freibekommen haben, hoffen seine Unterstützer. Die deutsche Bundesregierung fordert offiziell allerdings gar nicht seine bedingungslose Freilassung, sondern, dass die türkische Justiz eine Anklageschrift vorlegen und ein „zügiges und rechtsstaatliches Verfahren“ gewähren soll. Yücel selbst fordert aus dem Gefängnis heraus härtere Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei. Auch seine langjährige Kollegin und Freundin Doris Akrap fordert das in einem Offenen Brief, auf den sie bis heute keine Antwort erhalten hat. Nicht nur sie fragt sich: Sind wirklich schon alle politischen Mittel ausgeschöpft? Kann man der Bundesregierung trauen, die immer wieder versichert, dass sie alles in ihrer Macht stehendes tut?

Am 3. Dezember endlich eine gute Nachricht: Immerhin ist Deniz Yücel nicht mehr in Einzelhaft, er wird in eine Zelle verlegt, die über einen kleinen Innenhof mit zwei anderen Zellen verbunden ist. Man kann sich das kaum vorstellen: In den 290 vorherigen Tagen war er quasi durchgehend alleine: Er durfte gerade mal einmal pro Woche für gerade mal 60 Minuten Besuch von engen Angehörigen empfangen, ansonsten durften ihn nur seine Anwälte besuchen. Er hat nur eingeschränkt Post erhalten und durfte selbst keine verschicken. Zu Mitgefangenen war ihm jeglicher Kontakt verboten. Jetzt ist also immerhin diese Form der Folter vorbei und nach so langer Zeit scheint Bewegung in den Fall zu kommen. Am 17. Dezember kommt schließlich die deutsche Journalistin Meşale Tolu nach siebeneinhalbmonatiger Haft frei, darf die Türkei allerdings nicht verlassen.

Am 6. Januar besucht der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu seinen deutschen Kollegen Sigmar Gabriel zuhause in Goslar. Beide Seiten haben ein Interesse daran, dass die Spannungen der deutsch-türkischen Beziehungen gelöst werden. Dass dazu explizit die Freilassung Yücels notwendig wäre, sagt Gabriel nicht. Doch langsam wird der Türkei zumindest klar, dass es keine vollständige Normalisierung der Beziehungen geben wird, solange Yücel im Knast sitzt. Gabriel kündigt schon mal an, dass die Frage möglicher deutscher Rüstungsexporte in die Türkei nicht in Verbindung mit dem Fall Yücel steht. Yücel sagt elf Tage später im dpa-Interview: „Ich für meinen Teil möchte meine Freiheit weder mit Panzergeschäften von Rheinmetall oder dem Treiben irgendwelcher anderen Waffenbrüder befleckt wissen, noch mit der Auslieferung von gülenistischen Ex-Staatsanwälten oder putschistischen Ex-Offizieren. Kurz: Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung.“

Am Jahrestag der Inhaftierung, dem 14. Februar 2018 kündigt der türkische Ministerpräsident Yıldırım eine Entwicklung in dem Fall an. Er „hofft, dass Deniz Yücel in kurzer Zeit freigelassen wird“, sagt er im Tagesthemen-Interview. Ihm ist klar, dass sich das deutsch-türkische Verhältnis nur so wieder verbessern kann. Am nächsten Tag ist Yıldırım bei Merkel in Berlin. In einer gemeinsamen Pressekonferenz erklärt Merkel, dass das Treffen ein Signal sei, um die Beziehungen verbessern zu wollen. Der Fall Deniz Yücel sei dabei von besonderer Dringlichkeit. Eigentlich, so hat die SZ es recherchiert, sollte Deniz schon an diesem Tag freikommen. Doch er befürchtete, dass er nur aufgrund eines politischen Deals aus der Haft entlassen wird. Die SZ schreibt: „Das wollte der Journalist nicht. Auch wollte er nicht sofort das Land verlassen, wenn sich die Gefängnistore öffnen. Yücel wollte in der Türkei bleiben, zumindest für ein paar Tage. Die türkische Seite aber verlangte: Sofortige Ausreise! Am Ende und nach einem kurzen, aber heftigen diplomatischen Hürdenlauf stimmte Deniz Yücel zu.“

Am 16. Februar dann also endlich die Nachricht: Die Freilassung Deniz Yücels sei angeordnet worden. Mein Bruder Til reißt mich aus dem Schlaf und schreit: „Deniz kommt frei!“. Erleichterung. Endlich! Ich hoffe, dass er ohne Auflagen freikommt und die Türkei verlassen darf. Wenig später twittert der Anwalt Veysel Ok ein sehr berührendes und bewegendes Foto von Deniz und seiner Frau Dilek. Jetzt ist klar: Er durfte das Gefängnis wirklich verlassen. Am Abend die beruhigende Nachricht, dass er in ein Flugzeug nach Deutschland gestiegen ist.

Doch frei ist Deniz nicht. Gleichzeitig mit der Entscheidung ihn freizulassen, legt die Staatsanwaltschaft eine Anklage vor und fordert bis zu 18 Jahre Haft. Er wird nicht mehr in die Türkei zurückgehen können, an seinen Arbeitsplatz. Er wird nicht mehr aus der Türkei berichten können und nicht mehr aus der Türkei die Freilassung seiner inhaftierten KollegInnen fordern können. Er wird wohl auch nicht in Länder reisen können, in denen er gefährdet ist, in die Türkei ausgeliefert zu werden. Und natürlich gab es eine Art Deal. Wahrscheinlich nicht mit konkreten Zusagen, aber mit dem Versprechen, eine Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen zu erreichen. Deniz Yücel sagt in einer ersten Videobotschaft treffend, dass seine „Freilassung genauso wenig wie seine Verhaftung mit dem Rechtsstaat zu tun“ habe. Noch drei Tage vorher wurde routinemäßig die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet – so viel zur angeblich „unabhängigen“ türkischen Justiz.

Am Tag der Freilassung wurden mehrere Journalisten zu lebenslanger Haft verurteilt. 23 Stunden täglich müssen sie in Isolation verbringen. Überschwänglicher Dank an die türkische Regierung und die türkische Justiz ist also sicherlich fehl am Platz. Über 150 Journalistinnen und Journalisten sitzen immer noch in der Türkei im Knast, außerdem Tausende aus der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik. All diese Menschen haben keinen Rückhalt von ausländischen Regierungen. Für diese gilt es jetzt, sich noch nachdrücklicher einzusetzen: #FreeThemAll!

Deniz Yücel wünsche ich, dass er sich möglichst gut von den Strapazen der einjährigen Haft, davon die meiste Zeit in Isolation, erholen kann. Lass dir so viel Zeit, wie du dazu brauchst.

 

Der Text ist in leicht geänderter Form zuerst auf der Homepage des Autors erschienen.