Dienstag, 07.01.2020 / 09:26 Uhr

Türkisches Engagement im gescheiterten Staat Libyen

Von
Gastbeitrag von Manuel Störmer

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(Quelle: Picserver) 

 

Am Donnerstag, den 2. Januar, hat das türkische Parlament mit den Stimmen der AKP und der MHP einer Entsendung türkischer Truppen ins Bürgerkriegsland Libyen zugestimmt. Damit will sie die von ihr abhängige Regierung in Tripolis gegen eine konkurrierende Gegenregierung unterstützen.

Die türkische Regierung begründet ihre Intervention mit dem Einverständnis der „Regierung der nationalen Einheit“, Fajez al-Sarraj, die um die türkischen Interventionstruppen gebeten habe. Doch wer genau hinschaut, sieht, dass diese juristische Argumentation auf tönernen Füßen steht. Die Regierung al-Sarraj hat tatsächlich de jure die Anerkennung weiter Teile der internationalen Staatengemeinschaft, wie die Türkei es auch behauptet. Doch ebenso internationale Anerkennung hat das libysche Parlament in Benghazi, das 2014 gewählte Repräsentantenhaus, das die Intervention im gleichen Moment als „Hochverrat“ verurteilen ließ. Diese bizarre Situation erfordert eine längere Erklärung der Umstände im Bürgerkriegsland.

Libyen als gescheiterter Staat

Nach dem militärischen Sturz des Diktators Muammar al-Qadhafi im Jahr 2011 verselbstständigten sich die Rebellenmilizen, die das Land mithilfe von UN-autorisierten NATO-Luftangriffen von den Truppen des Diktators erobert hatten, und verfolgen seitdem ihre eigenen kriminellen Interessen. Trotz erfolgreichen Wahlen im Jahr 2012 war es den daraus hervorgegangenen Regierungen nicht gelungen, die Macht der Milizen zu brechen und ein eigenes staatliches Gewaltmonopol aufzubauen. Stattdessen nutzten die Milizen ihre Macht, um die Politik des Landes zu ihren jeweiligen Gunsten zu ändern, entführten, erpressten und bezahlten Politiker, die Justiz und die Polizei und töteten Vertreter der Zivilgesellschaft, die sich dagegen wehrten. Im Laufe des Kampfes um Territorium, Geld und Einfluss hat sich die Zahl der Milizen verringert und sich vor allem seit 2014 zwei grobe Koalitionen von Milizen herausgebildet, die sich gegenseitig bekämpfen.

Einerseits existiert dort die „Lybische Nationale Armee“, ein Zusammenschluss verschiedener Milizen um den Ex-General Khalifa Haftar, die vor allem im Osten des Landes, der sog. Cyrenaika, ihre Basis hat. Diese Gruppe war als Reaktion auf die starke Präsenz islamistischer Milizen in Libyen, darunter Muslimbrüder, IS-Extremisten und al-Qaida-Milizen, gegründet worden und wird mit Haftar von einem damals bei Qadhafi in Ungnade gefallenen Ex-General geführt. Er hat angekündigt, die libysche Hauptstadt zu erobern, die Islamisten aus dem Land zu werfen und wieder einen funktionierenden Staat aufzubauen. De facto jedoch verbündet er sich mit salafistischen Milizen (den sog. „Madkhalis“), die ihre absolute Unterstützung Haftars mit einer ultrakonservativen Religionspolitik bezahlen lassen und dem beschworenen Image Haftars als „Säkularer“ entgegenstehen.

Auf der anderen Seite steht ein loses Bündnis an lokalen Milizen und Islamisten, die vor allem im Nordwesten des Landes sowie der Hauptstadt stark sind. In Tripolis regiert ein Kartell von vor allem 4 größeren lokalen Milizen, die ihre gegenseitigen Einflusssphären und Territorien respektieren und gegen Mitbewerber Absprachen getroffen haben. Damit verbündet sind die Muslimbrüder und kleinere lokale Milizen.

 

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(Flüchtlingsboot aus Libyen, Quelle: Wikimedia Commons)

 

Beide Seiten sind neben vielen anderen kriminellen Aktivitäten auch im Schmugglergeschäft nach Europa involviert und viele Milizen nahe der Küste unterhalten Gefängnisse für gestrandete Flüchtlinge, deren Haftbedingungen als katastrophal gelten. Die von Italien für die Behinderung der europäischen Seenotrettung bezahlte „Libysche Küstenwache“ ist eine davon.

Die politische Dimension

Diese chaotische militärische Gemengelage wäre schwierig genug, wenn es nicht noch eine weitere politische Dimension gäbe, die diese überlagert. Seit 2014 gibt es nämlich keine anerkannte gemeinsame Regierung mehr, sondern zwei unterschiedliche Regierungen und Parlamente. Nach dem Scheitern der Regierungen des 2012 gewählten Parlaments, des Nationalkongresses, das vor allem als Übergangsparlament für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gebildet worden war, wurden 2014 neue Wahlen zu einem neuen Parlament, dem Repräsentantenhaus, abgehalten. Da die Islamisten im Parlament jedoch an Einfluss verloren hatten, weigerten sich diese, das neue Parlament anzuerkennen und bildeten mit ihren Abgeordneten ein Rumpfparlament in Tripolis, während das nun als legitimes Parlament anerkannte Repräsentantenhaus in Tobruk im Osten des Landes Zuflucht suchte.

Das neue Parlament wurde seitdem abhängig von Khalifa Haftar, der genau diesen Osten kontrolliert, sodass eine Haftar-hörige Minderheit der Abgeordneten nun die Prozesse des Parlaments kontrolliert und eine eigene Regierung bildet und damit im Sinne Haftars Machtpolitik betreibt, genau wie das Rumpfparlament der Islamisten in Tripolis.

Diese Spaltung des Landes in zwei grobe Lager, die sich gegenseitig die Legitimation absprechen, wurde von der UN mit Unbehagen gesehen, angesichts der damaligen Stärke des IS im Land. Unter der Ägide der UN wurde bis Ende 2015 ein Abkommen zwischen Rumpfparlament und Repräsentantenhaus ausgehandelt, das die beiden Parlamente vereinen und eine neue Einheitsregierung bilden soll, das sog. „libysche politische Abkommen“ (LPA).

Ausgeklammert wurden dabei aber die Milizen selbst, die diese kontrollieren. In der Folge wurde zwar eine neue Regierung unter Fajez al-Sarraj ernannt, die sog. „Regierung des nationalen Abkommens“, doch hatte diese nach wie vor keine eigenen Truppen oder anderweitig hard power. Nach dem Einzug über den Seeweg in eine Marinebasis in Tripolis konnte die neue Regierung nicht verhindern, dass die Milizen erneut ihre Muskeln spielen lassen würden und die neue Regierung durch Erpressung, Entführungen und Besetzung staatlicher Stellen kompromittieren würden. Damit wechselte quasi über Nacht die internationale Anerkennung als Libyens Regierung von Haftars al-Thinni-Regierung hin zur Seite der Muslimbrüder und dem Milizenkartell in Tripolis.

Ist die Intervention der Türkei vom Völkerrecht gedeckt?

Eigentlich wurde die internationale Anerkennung für die neue Einheitsregierung unter der Voraussetzung erteilt, dass das „libysche politische Abkommen“ durchgesetzt wird. Und dieses sieht unter anderem vor, dass das Repräsentantenhaus nach wie vor das legitime Parlament ist und die Entscheidungen der Einheitsregierung billigen muss. Das jedoch ist nie geschehen, sodass die Einheitsregierung bereits jetzt eigentlich keine Legitimation mehr besitzt. Auch wurde im Vertrag vereinbart, dass die Einheitsregierung als Übergangsregierung nur maximal 2 Jahre Bestand haben dürfte, was jetzt bereits 4 Jahre her ist.

Im Endeffekt kämpfen hier ähnlich wie in Syrien ausländische Staaten mithilfe der von ihnen abhängigen Stellvertreter um politischen, militärischen und wirtschaftlichen Einfluss.

Wenn die Türkei also jetzt behauptet, es sei die international anerkannte Regierung, die sie um Hilfe gebeten habe, dann ist das einerseits eine Halbwahrheit, weil die Legitimation dieser Regierung massiv angekratzt ist. Denn das Repräsentantenhaus hat (mit einer Minderheit der Abgeordneten) bereits Gesetze verabschiedet, die die Entscheidung als „Hochverrat“ bezeichnet hat und das Abkommen von 2015 aufkündigt. Andererseits ist diese Regierung nichts weiter als eine kompromittierte Seite in einem Bürgerkrieg von Milizen und ihren internationalen Unterstützern um Einflusssphären und ausbeutbare Territorien. Denn die al-Sarraj-Regierung wird maßgeblich von den Muslimbrüdern und ihren Milizen und Organisationen gestützt, die schon seit langem mit der islamistischen AKP in der Türkei verbündet und massiv von dieser abhängig sind. Haftar wiederum hat die Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Ägypten sowie Russland und andere als internationale Unterstützer.

Die türkische Regierung bricht durch seine Waffenlieferungen wie viele der anderen Staaten seit langem das UN-Waffenembargo gegen das Bürgerkriegsland, aber mit dem Einsatz direkter Truppen ist es das erste Land, das gegen dieses Embargo offen und direkt im Land militärisch eingreifen will. Die UN protestiert, aber kann ansonsten nichts tun.

Eigentlich dürfte keine Regierung momentan internationale Anerkennung erhalten, um nicht damit die Interessenspolitik der ausländischen Unterstützermächte zu legitimieren.

Im Endeffekt kämpfen hier ähnlich wie in Syrien ausländische Staaten mithilfe der von ihnen abhängigen Stellvertreter um politischen, militärischen und wirtschaftlichen Einfluss. Unter anderem geht es um die Ausbeutung von libyschen Gasreserven im Mittelmeer durch die Türkei, trotz heftigen Protesten der Anrainerstaaten. Haftar kommandiert unter anderem russische Söldner sowie emiratische Drohnen, während die Einheitsregierung vor allem von der Türkei direkt unterstützt wird. Bislang waren es nur Kriegsgerät wie Drohnen und Panzer, doch jetzt greift die Türkei direkt ein, da Haftars Seite immer mehr militärische Unterstützer sammeln konnte.

Erdogans Jubelperser beschwören bereits den Stolz der Nation durch die Eroberung eines früheren osmanischen Besitztums

Fast direkt. Denn die „türkischen Truppen“ bestehen mutmaßlich in erster Linie aus syrischen Rebellenkämpfern, die als billige Fußtruppen neoosmanischer Großmachtpolitik genutzt werden, während die türkische Armee seine neuen Waffen wie Laserwaffen und Drohnen auf den libyschen Schlachtfeldern ausprobiert.

Wird Erdogan Erfolg haben?

Ob Erdogans Intervention Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Dass er die Truppen jetzt entsendet und damit auch aus Syrien abziehen lässt, ist letztlich auch ein Zeichen der Schwäche seiner Verbündeten in Libyen, die gegen Haftars andauernde Offensive zunehmend einstecken mussten. Vor allem der Luftraum Libyens wird von Haftars Drohnen kontrolliert, während die dagegen eingesetzten türkischen Drohnen und Luftabwehrgeräte von minderer Qualität sind. Haftars Milizenkoalition untersteht immerhin zu großen Teilen einer gemeinsamen Führung, während die Milizenkoalition im Westen nur in der Abwehr eines gemeinsamen Rivalen zusammenarbeitet, ansonsten aber andauernd miteinander Krieg führt. Die Truppen der Türkei, die in Tripolis landen, werden aufgrund der unübersichtlichen Lage Schwierigkeiten haben, die Anti-Haftar-Truppen anzuführen und womöglich zwischen die Fronten der Revierkämpfe der Milizen geraten.

Auch wenn beide Seiten rhetorisch aufrüsten, wird der Krieg womöglich noch Jahre andauern und für die Türkei teuer werden. Genauso wird Libyen als ein de facto von Banditen und Warlords kontrolliertem gescheiterten Staat vor der europäischen Küste als ein Paradies der Menschenschmuggler mit oder ohne türkische Intervention fortbestehen, solange die Macht der Milizen ungebrochen ist.

Die EU-Staaten haben die gescheiterten Verhandlungen des „libyschen politischen Abkommens“ stark unterstützt, sind aber in Libyen wenig involviert. Ihr einziges Interesse galt bislang der Abwehr von Migranten, die Bekämpfung des IS und die Wahrung des Ölflusses aus dem Land nach Europa, dessen Produktion sich trotz der Kämpfe relativ erholt hat. Auch die USA ist dort kaum vertreten. Angesichts der chaotischen Situation in Libyen ist die Politik Erdogans ein Fass ohne Boden für die Türkei, außer, die Türkei beutet Libyens Ressourcen systematisch aus. Doch die Sarraj-Regierung hat kaum Zugang zu den Ölressourcen, die zu großen Teilen im Osten des Landes liegen, das Haftar untersteht. Ergo bleiben lediglich mögliche Erdgasreserven im Mittelmeer übrig, die durch das Abkommen zwischen Libyen und der Türkei über gemeinsame Seegrenzen ausgebeutet werden könnten. Doch die im Abkommen genannte türkische Zone liegt direkt neben vielen griechischen Ägäis-Inseln und weit von der türkischen Küste entfernt, sodass das Abkommen nur durchgeführt werden kann, wenn mit Bohrungen ganz aktiv auf illegale Weise die griechischen Hoheitsgewässer verletzt werden. Bohrungen, die die Türkei bereits begonnen hat und bereits zu EU-Sanktionen gegen die Türkei geführt hat, die das Erdogan-Regime inmitten der noch längst nicht ausgestandenen Wirtschaftskrise im Land nur weiter schwächen wird und die EU zu weiteren Schritten zwingen wird.

Erdogans Jubelperser beschwören bereits den Stolz der Nation durch die Eroberung eines früheren osmanischen Besitztums, doch die „Libyan Connection“ Erdogans wird der Türkei langfristig entweder nur Kosten oder Konflikte in Libyen und Europa, in jedem Fall aber Kopfzerbrechen bedeuten.