Donnerstag, 16.07.2020 / 13:30 Uhr

Corona in Israel: Alarmierende Entwicklung

Von
Oliver Vrankovic

Galt der Umgang Israels mit der Corona Krise im Frühjahr noch als weltweit vorbildlich, droht der Regierung nun angesichts täglich steigender Neuinfektionen die Kontrolle zu entgleiten. Der Unmut in der Bevölkerung wächst. 

 

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(Bildquelle: Youtube)

 

Bis vor zwei Wochen versuchten es viele Israelis noch mit Galgenhumor. In Anspielung auf seine Selbstinszenierung als internationaler Corona-Held, der sich nimmermüde selbst auf die Schultern klopft, wurde in den sozialen Netzwerken gefragt, was denn mit dem Premier los sei, dass er nicht mehr täglich verlautbaren lässt, dass ihn die ganze Welt um Rat im Kampf gegen Corona bittet. „Woher die plötzliche Bescheidenheit?”

Inzwischen ist die Lage so katastrophal, dass kaum mehr Jemandem zu lachen zu Mute ist. Erstmals gibt es mehr als 21.000 aktive Fälle und die Anzahl der schwer Erkrankten steigt von Tag zu Tag. Die Zahl der aktiven Fälle übersteigt in Israel nach Monaten wieder die Anzahl der Genesenen. In Deutschland, wo 10 Mal mehr Menschen leben als in Israel, gibt es knapp über 6000 aktive Fälle. Pro Million Einwohner hat Israel damit mehr als 30 Mal mehr aktuell Infizierte als Deutschland. Die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag wird in Europa nur von Russland und Kazakhstan übertroffen – in absoluten Zahlen. Inzwischen fürchten sich 73% der Israelis davor, sich anzustecken (27% der Juden und 47% der Araber im Land fürchten sich sehr, sich anzustecken). Am Montag wurden 1681 Neuinfektionen verzeichnet. Ein neuer Rekord. Nur 7% der Israelis bezeichnen sich derzeit als zufrieden.

Unter der vor zwei Monaten gebildeten Notstandsregierung wurde der Notstand in jeder Hinsicht verschärft.

Auswertungen der Infektionen der zweiten Welle brachten zu Tage, dass die Erlaubnis Familienfeiern mit bis zu 250 Personen durchzuführen ein weiteres großes Verhängnis nach der Rückkehr zum Regelschulbetrieb und der chaotisch überhasteten Öffnung der Wirtschaft war. Zwischen dem 15.6 und dem 25.6. wurden mehr als 2000 Hochzeiten gefeiert, von denen manche der Verbreitung von Corona sehr zuträglich waren. Besonders viele Ansteckungen wurden außerdem im Öffentlichen Nahverkehr registriert. Nichts ist zur Zeit gefährlicher in Israel, als mit dem Bus zu fahren. Nach dem Öffentlichen Nahverkehr folgen Restaurants als Orte der Ansteckung.

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Als sehr hinderlich bei der Eindämmung der Seuche haben sich personelle Engpässe bei der Testauswertung und bei der epidemiologischen Nachverfolgung erwiesen.

Unter der vor zwei Monaten gebildeten Notstandsregierung wurde der Notstand in jeder Hinsicht verschärft. Mit 35 Ministern liegt die Regierung schwer auf der Staatskasse ohne irgendwelche Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise gefasst zu haben.
Am Samstag Abend protestierten Zehntausende gegen die Verschleppung von Unterstützungszahlungen für Arbeitslose. Netanyahu scheiterte mit dem Versuch den Protest durch last minute Verhandlungen mit Selbstständigen Vertretern zu unterminieren. Der Vorsitzende der Vereinigung der Restaurant- und Barbesitzer machte darauf aufmerksam, dass viele Besitzer seit vier Monaten keinen Penny gesehen haben. Die Demonstration brachte die Not weiter Teil der Bevölkerung zu Tage. Einige Teilnehmer klagten, das sie bereits am Essen sparen müssten.
Hauptadressat der Proteste war der Premierminister, dem nur noch weniger als 30% der Israelis zutrauen, die Krise bewältigen zu können. Es ist schwierig, über das Versagen Netanyahus in dieser beispiellosen Gesundheits- und Wirtschaftskrise hinwegzusehen.

Am Donnerstag letzter Woche wurde beschlossen, 80 Milliarden zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise zur Verfügung zu stellen.

In den dunklen Stunden, die Israel gerade durchlebt, wird vom Premier gefordert, der Bevölkerung zu dienen und sich nicht allein mit eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen. Angesichts der Krise wirkt geradezu bizarr, was Netanyahu die letzten Wochen umtrieb und erhebliche Zweifel daran nährte, ob es ihm möglich ist, in dieser Krise die Interessen des Landes über seine eigenen zu stellen:

-Steuerbefreiungen und rückwirkende Steuererstattung von einer Million, sekundiert von seinem Vertrauten Zohar, der warnte, dass ein “finanziell behinderter“ Premier (dessen Vermögen auf 50 Millionen geschätzt wird) keine Option sei.
-Ein vom Oberstaatsanwalt abgelehntes Gesuch, für die Deckung seiner Prozesskosten 10 Millionen von einem Freund (und Zeugen im Prozess) zu erhalten. Dies entlockte Netanyahu den Verdacht dass der Oberstaatsanwalt einen Umsturz plane.
-Die Annexion, die neben Evangelikalen in den USA, deutschen Israelfans und paar Siedlern niemanden wirklich interessiert.
-Der Tweet einer erzwungen Entschuldigung seines Sohnes Yair an die Adresse der Journalistin Dana Weiss.
-Als bereits klar war, dass die Seuche in Israel außer Kontrolle ist, der Streit mit seinen Koalitionspartnern über die Besetzung eines Komitees für die Untersuchung von Interessenkonflikten bei Richtern.

Es scheint, dass erst der Protest am Samstag Abend, in dessen Anschluss es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der Polizei kam, Netanyahu daran erinnert hat, dass er für das Land da sein muss und nicht umgekehrt. Am Donnerstag letzter Woche wurde beschlossen, 80 Milliarden zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört die Auszahlung von Arbeitslosengeld bis Juni 2021. Unter dem Druck des Protests wurde Anfang dieser Woche beschlossen, die ersten Auszahlungen bereits diese Woche zu tätigen. In aller Eile beschlossen und verabschiedet und offensichtlich zur Beruhigung der Massen angelegt, fehlt es darüber hinaus immer noch an einem Plan die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Die letzte Woche hat aufgezeigt, dass Nir Barkat und Finanzminister Israel Katz an verschiedenen Plänen arbeiten. Ein weiteres Kapitel in den Machtspielen des Premiers.
Und es ist zu bedenken, dass nur 47% der 100 Milliarden Finanzhilfen, die während der ersten Welle eingestellt wurden, auch tatsächlich ausgezahlt wurden.

 

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(Bildquelle: Anadolu News)

 

Inzwischen brennt es an allen Ecken. Proteste von Ultraorthodoxen gegen die Abriegelung von Wohnvierteln in Jerusalem mit hoher Infektionsrate waren an drei Tagen in Folge von Gewalt geprägt. Ein Protestcamp vor der Residenz des Premiers in Jerusalem wurde von der Polizei geräumt. Ein Israeli aus dem Norden, der zu den Protesten am Samstag mit aufgerufen hatte, wurde dafür von der Polizei verhört. Auf Kanal 13 wurden einige regierungskritische Journalisten entlassen. Die Orientalisierung der israelischen Politik schreitet im Schatten der Corona Krise voran. Verkehrsministerin Miri Regev hat mit einer luxuriösen Sushi Party für Unmut gesorgt und aufgezeigt, dass nicht nur der Premier, sondern der ganze Regierungstrupp von der Realität abgekoppelt zu sein scheint. Wenig überraschend stehen die Oppositionspolitiker Naftali Bennett auf der einen und Yair Lapid auf der anderen Seite in den Umfragen sehr gut da. Die Stimmen, die fordern Bennett zum Gesundheitsminister oder darüber hinaus zu einem Corona Beauftragten mit weitreichenden Befugnissen zu machen, mehren sich. 40% der Israelis halten Bennett für fähig die Krise zu bewältigen.

Den Protesten gegen Netanyahu schließen sich immer mehr Menschen an. Als vor Wochen für den 14. Juli der Sturm auf Balfour angekündigt wurde, schien es eine überschaubare Angelegenheit etwas in die Jahre gekommener Linker zu sein. Tatsächlich fanden sich dann gestern Tausende vor der Residenz des Premiers ein, darunter viele junge Menschen. Auch im Anschluss an diesen Protest kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, in deren Verlauf es zu Dutzenden von Festnahmen kam.

Angeheizt wurden die Spannungen dann noch durch die Aussagen des Oppositionspolitikers Idan Roll, der meinte, die Öffentlichkeit müsse einen neuen Lockdown nicht befolgen.

Die Wieder-Verhängung von Restriktionen um die Ausbreitung des Virus einzudämmen ohne die Wirtschaft zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen, gestaltet sich sehr schwierig und reibungsvoll. Gastronomie und andere Zweige der Vergnügungsindustrie leiden noch unter den Folgen der im Frühjahr verhängten Einschränkungen und viele Geschäfte würden eine erneute Schließung finanziell nicht überleben. So wird um jede Restriktion gefälscht und mit dem Finger gezeigt. Als die Vorsitzende des Corona Ausschuss Yifat Shasha-Biton vom Likud entgegen der Vorgabe von Netanyahu gegen eine Schließung von Fitnessstudios und Schwimmbädern gestimmt hat, forderte Miki Zohar ihre Absetzung.
Ein Treffen des Premiers mit den Spitzenpolitikern seiner Regierung und Experten blieb am Dienstag ohne Ergebnisse. So gelten weiter die jüngst beschlossenen 20 als Obergrenze von Versammlungen. Angedacht ist diese Obergrenze auf 10 zu senken und Strände, Restaurants, Religionsschulen und Synagogen zu schließen. Letzteres birgt politischen Sprengstoff und wird aufgrund der Beteiligung von zwei ultraorthodoxen Parteien in der Regierung kaum allein nach Kriterien der Seuchenprävention entschieden werden.
So wie es derzeit aussieht, wird die Abwägung zwischen Gesundheit und Wirtschaft wohl auf einen Lockdown in den Abendstunden und am Wochenende hinauslaufen.

Angeheizt wurden die Spannungen dann noch durch die Aussagen des Oppositionspolitikers Idan Roll, der meinte, die Öffentlichkeit müsse einen neuen Lockdown nicht befolgen, da die Regierung den grundsätzlichen Vertrag mit dem Volk, nämlich dieses zu beschützen, gebrochen habe. Dieser Aufruf zur Rebellion wurde quer durch das politische Spektrum zurückgewiesen. Anzunehmen ist aber, dass nicht wenige Israelis die Verhängung neuer Restriktionen vor dem Hintergrund der existentiellen Not nicht akzeptieren werden.

Ich habe in der Reihe schon mehrmals die unterschiedliche Disziplin der Israelis angesprochen und ich habe jetzt einem Post des Bürgermeisters von Ramat Gan entnommen, dass meine Annahmen korrekt waren. So gibt es im Börsenviertel, wo ich quasi niemanden ohne Maske sehe, relativ wenig Infizierte, in den Vierteln, in denen ich manche Maskenverweigerer sehe, wie z.B. Amidar, deutlich mehr.

In den letzten Tagen wurde ich zwei Mal auf Angela Merkel angesprochen. Von Leuten, von denen ich es nicht erwartet hätte und die meinten, sie wünschten sie sich gerade als Premier.