Steine im Archiv

Im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam findet sich die Geschichte der gesellschaftlichen Emanzipation. von carlos kunze

Wer denkt, Archive seien das Langweiligste der Welt, sollte im Cruquiusweg 31 in Amsterdam vorbei schauen. Dort befindet sich das Internationale Institut für Sozialgeschichte. Und in diesem findet sich, kurz gesagt, die Geschichte der gesellschaftlichen Emanzipation der vergangenen 150 Jahre.

Es handelt sich dabei keineswegs nur um eine Altpapiersammlung von unschätzbarem Wert, alles, was zur Beurteilung von Emanzipationsbewegungen wichtig ist, wird gesammelt: Plakate aller Art, Standarten der Arbeiterbewegung, Tondokumente auf Bändern und Kassetten, Sticker und aus jüngster Zeit digitalisiertes Material. Auch Skurriles lässt sich finden: ein Pflasterstein, der im Mai ’68 in Paris Flügel bekam, oder eine Mini-Blechpistole aus China mit vier dazugehörigen Zielscheiben, auf denen die Konterfeis der »Viererbande« abgebildet sind.

Das Institut beherbergte von Anfang an eines der eindruckvollsten Archive für die sozialdemokratische, rätekommunistische und anarchistische Arbeiterbewegung, mittlerweile ist die Themenpalette noch erweitert worden. Material über die »neuen sozialen Bewegungen« ist dazu gekommen. Der Schwerpunkt liegt mittlerweile nicht mehr unverrückbar in Europa, in den vergangenen Jahren wurden Kollektionen aus der Türkei, die nach dem Putsch von 1980 dort in ihrem Bestand bedroht waren, sowie aus dem Iran, Indien, Pakistan, Bangladesch, Indonesien und Malaysia in die Sammlung integriert.

Seit 1989 ist das Institut in dem fünfstöckigen Gebäude im Cruquiusweg untergebracht, das 1960 als Speicher gebaut wurde. Aus der großzügig gestalteten Caféteria im ersten Stock blickt man auf den großen Kanal, der direkt hinter der Rückfront des Gebäudes vorbeiführt. Die modernen Lesesäle sind mit Computern ausgestattet, in klimatisierten Räumen wird das archivierte Material vor dem Verfall bewahrt. Der fünfte Stock ist noch frei, dort kann potenziell weiteres Material untergebracht werden.

Der Zweck des Instituts war und ist es, Dokumente, vor allem aus der organisierten Arbeiterbewegung, vor dem Verfall oder der Vernichtung zu bewahren, damit sie für Forschungen zur Verfügung stehen. Und damit das politische und kulturelle Erbe von Emanzipationsbewegungen nicht in Vergessenheit gerät.

Das kommt nicht von ungefähr: Das Institut wurde 1935 gegründet, zu einer Zeit, als die Nazis ihre totalitäre Vision der Gesellschaft und der Geschichte durchsetzen wollten und die Stalinisten die radikale Arbeiterbewegung dominierten. Ein niederländischer Sozialdemokrat, Nicolaas Wilhelmus Posthumus, Professor für Wirtschaftsgeschichte, konnte Geld für die Gründung des Instituts in Amsterdam – eine Zweigstelle wurde in Paris eingerichtet – bei der Versicherungsanstalt De Centrale auftreiben; deren Statuten legten fest, dass die Gewinne für die Stärkung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verwendet werden mussten. Die Niederlande waren traditionell ein Zufluchtsort für aus religiösen und politischen Gründen Verfolgte, und in dieser Zeit herrschte kein Mangel an Leuten, die historisches Material in Sicherheit bringen wollten.

1938 wurden aus dem so genannten Historischen Archiv der SPD u.a. die Nachlässe von Marx und Engels, von Moses Hess und August Bebel angekauft, gesondert erworben wurde der Nachlass Karl Kautskys. Im Jahr darauf wurde Material von der anarchistischen CNT/FAI aus Spanien über die Grenze zunächst nach Frankreich, dann nach Oxford geschafft. Aus der anarchistischen Bewegung kam zudem das Archiv des österreichischen Historikers und Sammlers Max Nettlau hinzu, ebenso die Nachlässe von Paul Eltzbacher, Gustav Landauer und anderen.

Noch bevor die Nazis im Mai 1940 die Niederlande besetzten, hatte die Leitung des Instituts weitsichtig den größten Teil der Kollektion nach Oxford gebracht. Im Juni wurde das Institut geschlossen; die Reste der Kollektionen weckten die Begierde der Nazis. Diverse Fraktionen um Ley (Deutsche Arbeitsfront), Heydrich (SD) und den Nazi-Chefideologen Rosenberg versuchten an das Material zu gelangen.

Huub Sanders ist langjähriger Mitarbeiter im Institut und betreut Bildmaterial, Plakate und Videos. Er erzählt, dass das Reichssicherheitshauptamt, welches den größten Teil des Materials an den so genannten Einsatzstab Rosenberg weitergab, die Bestände konfisziert hatte. Die Unterlagen sollten als Schulungsmaterial für hohe Nazifunktionäre genutzt werden, damit sie jene, die von den Nazis als Feinde betrachtet wurden, analysieren und bekämpfen könnten: Juden, Kommunisten, Anarchisten, aber auch »Plutokraten« aus der Wirtschaft. 1944 hätten die Nazis einen großen Teil davon in Richtung Osten transportiert.

Ein Teil davon wurde in den vierziger und fünfziger Jahren nach Amsterdam zurückgebracht, einen anderen Teil hatte die Rote Armee beschlagnahmt. Der Verbleib sei bis 1991 unklar geblieben, erzählt Huub Sanders. Es existierten lediglich Gerüchte, dass es in der Sowjetunion sei. So war es denn auch. Es befand sich in Moskau in einem »Sonderarchiv«. Zunächst, so Sanders, wurde gegen eine Rückführung das Argument vorgebracht, das Material sei eine »Kompensation für unser Kriegsleid«; das habe sich aber mit dem Gegenargument entkräften lassen, auch die Niederlande hätten unter den Nazis gelitten. Schließlich, vor rund zwei Jahren, kam auch dieser Teil wieder zurück nach Amsterdam.

Thematisch hat sich das Institut in jüngerer Zeit in zwei Richtungen weiter entwickelt. Einen neuen Schwerpunkt bilden Kollektionen über die »neuen sozialen Bewegungen«; so wurde beispielsweise die große Sammlung des Frankfurter Informations-Dienstes übernommen, die vor allem Periodika aus den siebziger und achtziger Jahren umfasst. Auf internationaler Ebene ermöglicht beispielsweise die im Jahr 2004 erworbene Sammlung über die sudanesische Kommunistische Partei Einblicke in die Geschichte des Widerstands gegen das islamistische Regime, das 1989 die Macht im Sudan ergriffen hatte.

Wie geht es weiter mit dem Institut? Immer stärker zeichnet sich die Tendenz ab, dass gedrucktes Material der Emanzipationsbewegungen nach und nach von digitalem abgelöst wird. Wie aber kann dieses auf seine Echtheit überprüft werden? »Daran wird gearbeitet«, sagt Huub Sanders, »schließlich geht es auch darum, das Vertrauen in die Verlässlichkeit unser Informationen zu erhalten.«

Wirtschaftlich steht das Institut solide da. Mittlerweile wird es zu zwei Dritteln vom niederländischen Staat finanziert. Vielleicht erweist es sich als besondere Ironie der Geschichte, dass das Material, das zur Abschaffung des Staats von Nutzen sein kann, von eben diesem bereitgestellt wird.

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