Die Journalistin Esther Schapira zur Rolle der Medien im Nahen Osten

»Die Bilder werden bewusst lanciert«

Wer erschoss Mohammed al-Dura? Nicht nur den Palästinensern, die ihn als »Märtyrer« verehren, ist die Antwort klar. Die Aufnahmen des Jungen, der zu Beginn der Al-Aksa-Intifada in Ramallah vor laufenden Kameras erschossen wurde, gingen um die Welt und scheinen die Rufe »Kindermörder Israel« zu legitimieren, die auf propalästinensischen Demonstrationen in der ganzen Welt erschallen.

Zu einem anderen Befund gelangt die Dokumentation »Drei Kugeln und ein totes Kind« von Esther Schapira, die die ARD kürzlich ausstrahlte. Ihre Recherchen haben für die Journalistin zur Folge, dass sie massive Drohungen aus islamistischen Kreisen erhält. Esther Schapira ist Leiterin des Ressorts Zeitgeschichte beim Hessischen Rundfunk.

Wieso hat Sie die Geschichte über den Tod von Mohammed al-Dura so interessiert?

Ich ging zunächst auch davon aus, dass die Bilder eindeutig seien: Ein palästinensisches Kind wird erschossen, dann waren israelische Soldaten die Schützen. Unsere Fragen waren, wie lebt die palästinensische Familie nach dem Tod ihres Kindes, wer waren die Schützen und wie verarbeiten sie es, dass sie ein Kind getötet haben?

Doch je mehr wir nachgefragt und mit den Betroffenen gesprochen haben, desto klarer wurde, dass die Bilder gar nicht so eindeutig sind, wie sie scheinen. Es ist weder zu erkennen, wie das Kind erschossen wird, noch wer geschossen hat.

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Das Mindeste, was man sagen muss, ist, dass es keine eindeutigen Beweise dafür gibt, wer geschossen hat. Viele Indizien deuten aber darauf hin, dass palästinensische Kugeln das Kind trafen. Der Einschusswinkel lässt darauf schließen. Auch ballistische Erkenntnisse sowie die Aussage des Pathologen, der das Kind untersucht hat, stützen diese Vermutung.

Stießen Sie bei Ihren Recherchen auf große Schwierigkeiten?

Auf palästinenischer Seite standen uns anfänglich alle Türen offen. Der israelische Militärsprecher hingegen zeigte sich von unserem Anliegen zunächst wenig begeistert. Er meinte, egal, was wir herausfinden würden, Bilder seien immer stärker als Worte. Im Laufe unserer Arbeit verhielt sich die israelische Seite dann aber sehr kooperativ. Mit den Palästinensern wurde es hingegen immer schwieriger, als sich herausstellte, dass wir nicht einfach ihre Interpretation der Geschichte übernehmen, sondern genau nachfragen wollten.

Welche Bedeutung erlangten diese Bilder?

Sie stehen am Anfang der Intifada. Diese Bilder haben im schrecklichsten Sinne des Wortes angefeuert und weltweit Sympathien für die Palästinenser mobilisiert. Mohammed al-Dura symbolisiert das unschuldige Kind, das vorsätzlich von kaltblütigen Soldaten getötet wurde.

Es gibt eine Mohammed al-Dura-Industrie mit Liedern, Videos, Spielfilmen, Plakaten. Sein Vater wird als Popstar gefeiert, er verteilt Autogramme mit dem Foto seines Sohnes und reiste als »Botschafter der Intifada« in arabische und europäische Staaten, in die USA und zur UN-Konferenz nach Durban, um dort die Geschichte seines von Israelis ermordeten Sohnes zu erzählen. Es gibt in fast allen arabischen Staaten eine Mohammed-al-Dura-Straße. In den Schulen werden Kinder dazu aufgefordert, dem Märtyrer Mohammed nachzueifern.

Die Anteilnahme am Tod des kleinen Mohammed ging über die arabische Welt hinaus.

Solche Bilder werden auch in Europa gerne aufgenommen. Etwa das berühmte Bild, auf dem ein Kind mit einem Stein in der Hand vor einem israelischen Panzer zu sehen ist. Und gerade wurde ein Foto, das ein palästinensisches Kleinkind mit einem Maschinengewehr zeigt, als world pressfoto ausgezeichnet. Dies ist um so makabrer, da diese Bilder häufig inszeniert sind. Was mich erschreckt, ist die Romantisierung, die besonders in der Linken betrieben wird. Dort sollte man doch entsetzt sein, dass Kinder wie Soldaten behandelt werden.

Aber die Bedeutung geht weit über den Einzelfall hinaus. In diesem Konflikt spielen Bilder eine noch zentralere Rolle als in anderen. Die Palästinenser wissen genau, dass sie diesen Krieg nicht militärisch gewinnen werden. Daher ist die öffentliche Meinung ein entscheidendes Druckmittel, und die Öffentlichkeit ist für die Botschaft »David gegen Goliath« sehr empfänglich. Ein Bild übrigens, das früher umgekehrt funktionierte, als Israel gegen die gesamte arabische Welt um sein Überleben kämpfte. Obwohl sich die Lage nicht grundlegend geändert hat, wird jetzt gezeigt, wie Israel angeblich einen Krieg gegen Kinder führt. Und diese Bilder werden sehr bewusst lanciert.

Sind diese Bilder exemplarisch für die Nahost-Berichterstattung?

Die wenigsten Korrespondenten sind direkt vor Ort. Weil sie so viele Sendungen beliefern müssen, dass sie gar keine Zeit haben, um selbst zu recherchieren, oder weil sie sich nicht in Gefahr begeben wollen. Sie sind daher auf die Zulieferung von Bildern angewiesen. Israelische Kameraleute können in den Autonomiegebieten nicht mehr drehen, daher gibt es fast nur noch palästinensische Teams, die für europäische oder US-amerikanische Sender und Agenturen arbeiten.

Darauf basieren die TV-Berichte und Meldungen, die uns objektiv und authentisch erscheinen. Eigentlich müsste der Korrespondent zuerst sagen, dass seine palästinensischen Kollegen das Material übermittelt haben. Bestimmte Bilder gibt es nicht, weil sie nicht gedreht werden. Zugleich werden gewisse Bilder gerne aufgenommen, weil alle sie glauben wollen.

Welche Auswirkungen hat das auf die Wahrnehmung des Konflikts?

Das Verständnis für terroristische Anschläge nimmt zu. Oft ist zu lesen, dass es sich dabei um eine Aktion radikaler Palästinenser gehandelt habe, ein Bombenanschlag heißt plötzlich »Zwischenfall«. Das Wort Terrorismus kommt kaum noch vor. Bei den Anschlägen gibt es eine merkwürdige Hierarchie: Siedler und Soldaten sind quasi Freiwild, das fällt fast nicht mehr ins Gewicht. Wenn es Jugendliche in einer Disko trifft, ist es schon schlimmer. Aber es mangelt an einer klaren Grundhaltung, dass diese Gewalt unakzeptabel ist - so wie es jetzt, nach dem Einmarsch der israelischen Armee in die Autonomiegebiete, einen Aufschrei gibt. Dass es nach den vielen Anschlägen in Jerusalem oder Tel Aviv keine vergleichbare Empörung gab, erklärt vielleicht auch, wieso immer mehr Israelis glauben, sie seien wieder allein. Nun suchen viele den Schulterschluss mit Politikern wie Ariel Sharon, die sie zum Teil vorher heftig bekämpft haben. Es entwickelt sich eine Art Bunkermentalität.

Sind also die Medien schuld, dass Israel für die Eskalation im Nahen Osten verantwortlich gemacht wird?

Nein, ich will keine Medienschelte betreiben. Die Bilder haben die Entwicklung verstärkt, sie sind nicht die Ursache. Die Bilder sind zunächst hässlich, weil die Situation hässlich ist. Nicht die Medien, sondern die Besatzung produziert hässliche Bilder. Doch je brutaler die Besatzung, um so besser die Munition im Medienkrieg. Und mit jedem Selbstmordanschlag gelingt es den Terroristen, Israel ein wenig mehr zu dem Staat zu machen, als den ihn die arabische Propaganda darstellt. So verliert Israel mit jeder gewonnen militärischen Schlacht eine Schlacht im medialen Krieg.

Worin zeigen sich diese palästinensischen Propagandaerfolge?

In der Linken waren zwar Antizionismus und die Bereitschaft, sich mit dem Anliegen der Palästinenser zu identifizieren, schon immer sehr ausgeprägt. Neu ist, dass nun auch konservative Politiker wie Jürgen Möllemann oder Karl Lamers diese Positionen teilen. Eine beunruhigende Entwicklung, denn dabei geht es vermutlich weniger um eine Solidarität mit den Palästinensern, als um eine Solidarität gegen Israel, auch wenn dies sicher häufig unbewusst geschieht.

Denken Sie, dass sich die Stimmung in Deutschland spürbar verändert hat?

Antisemitismus ist ein europäisches Problem, wie es in Frankreich zu sehen ist. Aber in Deutschland kommt ein weiteres Moment hinzu: Wenn die ehemaligen Opfer sich so brutal verhalten wie die Täter von einst, dann ist es nicht mehr so schlimm, was man den Juden früher selbst angetan hat.