Die türkische Opposition ist nach dem Wahlsieg Präsident Erdogans hilflos

Gemeinsam gegen die HDP

Die türkische Opposition steht der Machtkonzentration in den Händen Recep Tayyip Erdoğans hilflos gegenüber – und viele Gegner des Präsidenten teilen dessen nationalistische Positionen.

Recep Tay­yip Erdoğan hat einen beeindruckenden Aufsstieg hinter sich. Von einem wegen Volksverhetzung verurteilten Gefängnisinsassen 1999 schaffte er es 2003 zum Ministerpräsidenten und dann 2014 zum Präsidenten. Nun, mit der Einführung des Präsidial­systems und dem erneuten Wahlsieg, habe er sein persönliches Ziel erreicht, urteilt der Journalist Ilhan Tanır auf der Nachrichtenplattform Ahval. »Sein Sieg am 24. Juni gibt ihm die Macht des Präsidenten, des Ministerpräsidenten und des Oberbefehlshabers gleichzeitig. Damit ist er mächtiger als viele Dik­tatoren.«

Die türkische Opposition steht dieser Machtkonzentration hilflos gegenüber. Vor den Wahlen hatte die Regierungskoalition immer wieder verkündet, im Fall eines Sieges von Präsident Erdoğan werde der Ausnahmezustand aufge­hoben. Doch am 30. Juni stellte das Verfassungsgericht auf eine Anfrage der größten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) fest, dass die Notstandsverordnungen jetzt regulär geltendes Recht sind.

Der Ausnahmezustand, der es der Regierung erlaubt, Gesetzesverordnungen zu erlassen sowie legislative und gerichtliche Verfahren zu umgehen, ist am 20. Juli 2016 in Kraft getreten und wurde Anfang dieses Jahres zum siebten Mal verlängert. Seit seiner Einführung wurden über 150 Medienunternehmen geschlossen, etwa 50 000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert und 150 000 entlassen oder suspendiert.

Nach seinem Wahlsieg kündigte der Präsident zudem an, dass Militäroperationen künftig in neuer Dimension die türkische Außenpolitik prägen werden. Der Kolumnist der regierungs­nahen Tageszeitung Sabah, Kılıç Buğra Kanat, betonte, dass die Türkei in Syrien der wichtigste Bündnispartner der USA sei und zukünftig vor allem wirtschaftliche Interessen verfolgen werde. »Die türkische Außenpolitik muss Maßnahmen ergreifen, um das Vertrauen der Anleger zu stärken und mehr ausländische Direkt­investitionen anzuziehen. Gleichzeitig müssen die außenpolitischen Entscheidungsträger in diesem ­Bereich aktiver werden«, so Kanat.

Die Forderung richtet sich an die EU, sie soll der angeschlagenen türkischen Wirtschaft mit Investitionen ­unter die Arme greifen, wenn der Flüchtlings­deal Bestand haben und die Türkei in Nordsyrien eine »Sicherheitszone« für Flüchtlinge einrichten soll. Weitere Zahlungen an die Türkei beschloss die EU auf ihrem Gipfel, private Anleger orientieren sich jedoch an anderen Kriterien. Der Kolumnist Yaşar Yakış warnte am 28. Juni auf der Nachrichtenseite Ahval, dass die Wirtschaft des Landes fragiler werde. Die populistischen Maßnahmen der Regierung, wie Steuersenkungen und Amnestie bei Steuerschulden, würden den Staatshaushalt zusätzlich belasten. »Die Rechnung für diese extravaganten Ausgaben muss jetzt bezahlt werden. Als ob das nicht genug wäre, wird es im März nächsten Jahres Kommunalwahlen geben. Die Vorwahlperiode erfordert wieder populistische öffent­liche Ausgaben, die die Probleme der Wähler kurzfristig lindern, mittelfristig jedoch negative Auswirkungen ­haben werden, und zwar definitiv in der kommenden Wahlperiode, die jetzt beginnt.«

Das zweite Problem bestehe darin, dass die Regierung von der Unterstützung des Koalitionspartners, der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), abhängig sein werde. Während das Lenkrad und das Gaspedal des ­Autos von der AKP kontrolliert würden, stehe die MHP auf der Bremse. Vor ­allem in Fragen des Umgangs mit der kurdischen Minderheit nehme die MHP die unflexibelste Haltung ein, so Yaşar Yakış.

 

Allerdings kann der Präsident auch mit Dekreten regieren, überdies steht er einer nicht nur institutionell machtlosen, sondern auch politisch uneinigen Opposition gegenüber. Im Hinblick auf die Kurdenpolitik ist die kemalis­tische CHP fast ebenso borniert wie die ultranationalistische MHP. Ein Bündnis mit der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes (HDP) lehnt die CHP rigoros ab. Stattdessen verband sie sich mit der islamistischen Glückseligkeitspartei (SP), die sich in vielen Punkten mit der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) einig ist. Die SP bemüht sich nun um Gespräche mit Erdoğan. Im neuen Präsidialsystem hat das Parlament wenig zu melden, so dass sich die SP mit dem Mann an der Spitze gut stellen will.

Die CHP demonstriert nach der Niederlage einmal mehr komplette Realitätsferne. Ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu bezeichnete die verlorene Präsidentschaftswahl als Erfolg für ­seine Partei und träumt von einem überragenden Sieg bei den Kommunalwahlen im März 2019. Davon abgesehen, dass die zukünftige Politik in der Türkei nicht von den Kommunen entschieden werden wird, ist die AKP ­wegen ihrer intensiven Basisarbeit in der Lokalpolitik sehr erfolgreich.

Der frühere AKP-Politiker und ehemalige Minister Abdüllatif Şener wurde für die CHP im Wahlkreis Konya in das Parlament gewählt. Şener gehörte 2001 zu den Gründern der AKP – Erdoğan galt damals als oppositioneller Reformpolitiker in der noch stark vom Militär dominierten türkischen Politik. Mittlerweile ist Şener ein entschiedener Gegner seines früheren Parteifreunds. »Dieses Regime kann nicht als Demokratie bezeichnet werden«, sagte Şener nach der Wahl. »Die demokratischen Institutionen sind geschwächt. Es existiert keine Gewaltenteilung mehr. Die Politik hat die Justiz in eine Peitsche verwandelt. Ein solches Umfeld kann niemals als demokratisch definiert werden. Die Befugnisse des Parlaments sind ebenfalls begrenzt. Der Präsident allein wird die Regierung bilden. Es gibt keinen Ministerpräsidenten, keinen Ministerrat. Das Parlament hat die Macht über die Regierung völlig verloren.« Dass Şener dennoch das Parlament als Zelle des Widerstands gegen das Präsidialsystem ansieht, zeigt die Strategie- und Perspektivlosigkeit seiner Partei. Solange die Kemalisten nur Luftschlösser bauen, kann der Herrscher im Präsidentenpalast ruhig schlafen.

Um die HDP ist es seit der Wahl bislang still geblieben. Die Partei kam zwar über die Zehnprozenthürde, doch ihr Kandidat, Selahattin Demirtaş, sitzt weiterhin im Gefängnis und steht unter Anklage, Mitglied einer Terror­organisation zu sein. Es ist zu befürchten, dass die repressive Kurdenpolitik das Element bleibt, das alle Parteien außer der HDP eint.