Nachfahren geflüchteter Juden

»Geplapper über historische Verantwortung«

Interview Von Leon Ackermann

Nachfahren von Juden, die vor dem Nazi-Terror flüchten mussten, wird die deutsche Staatsbürgerschaft verweigert. Der Literaturwissenschaftler Nicholas Courtman sieht darin eine Fortführung des NS-Unrechts.

Die Article 116 Exclusions Group ist ein internationaler Zusammenschluss von Nachkommen deutscher Juden, die ihre deutsche Staatsbürgerschaft wegen der nationalsozialistischen Verfolgung verloren haben, deren Anträge auf Wiedereinbürgerung aber trotzdem in großer Zahl abgelehnt wurden. Was ist das Problem an der Gesetzeslage?
Das Problem ist: Viele Abkömmlinge von Verfolgten des NS-Regimes haben nach der jetzigen Gesetzeslage keinen Einbürgerungsanspruch oder keinen Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Man könnte meinen, dieser Anspruch wäre durch Artikel 116.2 des Grundgesetzes ge­sichert, in dem es heißt: »Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.«
Es gab aber schon immer mehrere Gruppen, die davon ausgeschlossen waren. »Abkömmling« ist kein Begriff, den das Staatsangehörigkeitsrecht definiert, darum war es stets eine Auslegungsfrage, wer darunter eigentlich fällt. In den fünfziger und sechziger Jahren war die Anwendung des Artikels und der damit ­zusammenhängenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Bestimmungen sehr restriktiv, unter anderem weil die entsprechenden Ausschüsse und Referate noch mit lauter Alt­nazis besetzt waren. Von 1975 bis 1983 herrschte eine liberalere Auslegung vor, die den Begriff Abkömmling familienrechtlich interpretierte, so dass er alle ehelich geborenen Kinder und die nichtehelichen Kinder von Frauen einschloss.

Junge jüdische Flüchtlinge bei ihrer Ankunft im britischen Harwich, 1938.

Bild:
Bundesarchiv

Seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1983 muss jedoch geprüft werden, ob der Antragsteller die deutsche Staatsbürgerschaft gemäß den Bestimmungen des Staatsangehörigkeitsrechts erworben hätte, die zum Zeitpunkt seiner Geburt gültig waren. Das führt zu diversen Problemen. Die größte Gruppe ist davon ausgeschlossen, weil sie oder ihre Eltern vor dem 1. April 1953 geboren wurden, die deutsche Staatsangehörigkeit bis dahin aber nur durch den Vater vererbt werden konnte, was erst 1974 für verfassungswidrig erklärt wurde. Aus einigen Eigentümlichkeiten des deutschen Grundgesetzes ergibt sich der 1.4.1953 als Stichtag, bis zu dem diese verfassungswidrige Bestimmung rückwirkend aufgehoben wurde.

Was bedeutet das konkret?
Das heißt, alle vor 1953 ehelich ge­borenen Kinder deutscher Mütter und nichtdeutscher Väter haben nach wie vor keinen Anspruch auf Wiedereinbürgerung. Und das Problem setzt sich über die Generationen fort: Mein Vater, dessen Mutter nach England geflohen war, ist 1952 geboren, darum habe ich einen solchen Anspruch nicht, während meine Cousins, deren Eltern jünger sind, ihn haben.

Was genau ist am Artikel 116 problematisch?
Der Wortlaut selbst, weil darin explizit vom Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit als Berechtigungsgrundlage die Rede ist. Das heißt, dass Menschen, die vor nationalsozialistischer Verfolgung aus Deutschland geflohen sind, und sich in einem anderen Land einbürgern ließen, oder als Frauen ausländische Männer heirateten, automatisch ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Die Staatsangehörigkeit gilt dann nicht als entzogen, sondern als »freiwilliger Verzicht« im Einklang mit den normalen Bestimmungen des damaligen Staatsangehörigkeitsrechts. In unserer Gruppe gibt es beispielsweise eine Frau, 1928 geboren, deren Eltern Ärzte waren und 1933 ihre Arbeit verloren, weil sie Juden waren. Die Familie ist sofort nach England ausgewandert hat dann 1939 vor dem Ausbruch des Krieges die britische Staatsangehörigkeit angenommen. Diese Menschen können keinen Anspruch nach Artikel 116 geltend machen, weil der Verzicht auf die deutsche Staatsangehörigkeit freiwillig gewesen sein soll.

Gibt es noch kleinere, kompliziertere Fallgruppen?
Ja. An einer Untergruppe derer, die nicht offiziell zwangsausgebürgert wurden, aber ihre Staatsangehörigkeit dennoch aus Gründen der Verfolgung verloren haben, wird die Absurdität der Sache besonders sichtbar, und zwar denjenigen, die den Nürnberger Gesetzen zufolge als »Mischling 1. Grades« galten. 1941 gab es eine Verordnung zur Massenausbürgerung aller im Ausland ­lebenden Juden, was die außerhalb Deutschlands in Ghettos und Konzentrationslagern Gefangenen mit einschloss. Dies betraf aber streng genommen nur »Volljuden«. Es gibt drei Fälle in unserer Gruppe, deren Einbürgerungsanträge im letzten Jahr noch abgelehnt worden sind, weil ihre Vorfahren »Mischlinge 1. Grades« gewesen seien, die ihre Staatsangehörigkeit erst mit der Einbürgerung in ihren neuen Heimatländern aufgegeben hätten. Diese Menschen haben natürlich immer geglaubt, sie seien ausgebürgert worden, weil sie alle ein »J« in den Pass gestempelt bekommen hatten, weil sie alle den Verfolgungen und Schikanen der Nazis ausgesetzt waren, weil ihre ganzen Familien getötet worden sind. Aber daran wird wirklich deutlich, wie verrückt diese deutsche Rechts­praxis ist.

»Verlängerung des NS-Unrechts«

Es geht an dieser Stelle also die heutige Rechtspraxis auf die nationalsozialistischen Rassenge­setze zurück?
Ja, sie müssen das zum Teil der Gesetzeslage nach so machen, aber das deutet natürlich auf ein tieferliegendes Problem hin. Die Bundesregierung hätte schon vor Jahrzehnten die Probleme mit Artikel 116 abschaffen müssen, in dem sie beispielsweise entsprechende Verwaltungsvorschriften für die Ermessenseinbürgerung erlässt, oder einen neuen Paragraphen im Staatsangehörigkeitsrecht einfügt, der allen Abkömmlingen von Verfolgten des NS-Regimes einen Einbürgerungsanspruch gewährt, unabhängig von der zum Zeitpunkt ihrer Geburt geltenden Rechtslage. Ich habe viel im Bundesarchiv Koblenz zur Rechtsgeschichte um den Artikel 116 geforscht, und der rein juristische Gedankengang hinter solchen Urteilen wie dem des Bundesverwaltungsgerichts von 1983 wird dann durchaus nachvollziehbar. Das Problem ist eher, dass die Bundesregierung diese Urteile seit Jahrzehnten als Ausrede dafür benutzt, nicht selbst tätig werden zu müssen und den Bedürfnissen der Betroffenen nachzukommen. Man liest andauernd: »Wir sind bereit, auf ein Revisionsurteil zu warten, dass diese Frage klären wird«, oder dergleichen.

Heißt das, die Regierung erkennt das Problem immer nur als ein rechtliches an, nicht als ein politisches?
Ja. Sie sehen, dass das politisch eine schwierige Frage sein könnte, und deswegen bevorzugen sie eine rechtliche Behandlung, weil sie dann die Verantwortung dafür nicht tragen müssen. Es heißt immer, das Gericht habe so und so entschieden, darum könne man da nichts machen. Verschwiegen wird dabei aber, dass es ja die Bundesregierung selbst ist, die etwa die Mindestvoraussetzungen von Ermessenseinbürgerungen und derartige Verwaltungsvorschriften setzt. Und ich glaube, das ist hier der Punkt: Wir haben eine ziemlich komplexe Rechtslage, aber wir haben auch eine Regierung, die über die souveräne Macht zur Setzung anderer Maßstäbe verfügt.

Was müssten Politik und Verwaltung heute tun, um den Forderungen der Group zu entsprechen?
Einen Einbürgerungsanspruch für alle Nachfahren der Verfolgten des NS-Regimes gewähren, durch einen zusätzlichen Paragraphen im Staatsangehörigkeitsrechts. Das wird wahrscheinlich nicht passieren, sie werden wohl §14 des Staatsange­hörigkeitsrechts benutzen, um neue und hoffentlich bessere Maßstäbe für Ermessenseinbürgerungen zu setzen, aber dabei ist man immer noch der Willkür des Sachbearbeiters ausgesetzt und es begründet keinen rechtlichen Anspruch. Gegen eine Ablehnung auf dieser Grundlage juristisch anzukämpfen ist äußerst schwer. Ersteres wäre also das Idealergebnis.

Können Sie etwas zu den persönlichen Motivationen sagen, die hinter diesen Entscheidungen stehen, nach einer oder zwei Generationen die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen?
Es hat wahrscheinlich bei vielen ­angefangen als pragmatische Reaktion auf den »Brexit«, aber wenn man dann herausfindet, dass man aus diesen vollkommen bekloppten Gründen ausgeschlossen ist, dann weckt das die ganzen Erinnerungen an die schlechte Behandlung durch den deutschen Staat. Und dann wird das zu einem Symbol dafür, wie die eigene Familie von den Nazis misshandelt worden ist, und es wird als Verlängerung des NS-Unrechts empfunden, was es zum Teil auch ist. Es gibt dieses ganze symbolische Geplapper von wegen historischer Verantwortung und Gedenken, aber ­sobald es um materielle Ansprüche geht, dann gehen die Mauern hoch und es wird in nichts nachgegeben, bis die Gefahr besteht, es könnte in der Öffentlichkeit schlecht aus­sehen.
Für mich ist es mittlerweile eher wichtiger, dass diese ganzen Versäumnisse ans Licht kommen und geändert werden, als dass ich entspannt nach Frankreich in den Urlaub fahren kann. Vielleicht ist das für andere Leute nicht der Fall, die wollen vielleicht einfach wohnen können, wo sie möchten, und diesen Anspruch sollten sie auch haben. Es gab auch Reaktionen von Leuten im Internet, wo es hieß, wir seien »opportunistische Wirtschaftsflüchtlinge« oder sowas. Und da denke ich mir, wie opportunistisch waren denn ihre Großeltern, als sie den ganzen Besitz von meiner Familie gekauft haben, nachdem er von der Gestapo beschlagnahmt wurde? Was für ­Möbel stehen in eurem Haus? Das sind einfach Sachen, die die deutschen Durchschnittsbürger nicht bedenken möchten. Und die deutschen Beamten auch nicht. Das Bundes­innenministerium sitzt in einem Gebäude, das vor der Enteignung einem Juden gehörte.
Um es kurz zu fassen: Einige haben über ihre Familiengeschichte eine Bindung zur deutschen Kultur wiederentdeckt, für andere ist es ein Mischung aus pragmatischen Gründen, und – auch nicht zu vernachlässigen: Wut. Ich glaube, Wut ist eine omnipräsente Emotion bei dieser Angelegenheit, und es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass die Bundesregierung unsere Wut nicht versteht.