Im britischen Wahlkampf geht es um mehr als den EU-Ausstieg

Der Trend geht zur Spendierhose

Am 12. Dezember soll das Vereinigte Königreich ein neues Unterhaus wählen, zum dritten Mal in nur viereinhalb Jahren. Von neoliberaler Sparpolitik ist in diesem Wahlkampf nichts mehr zu hören.

Es ist eine ungewöhnliche Zeit für Wahlen im Vereinigten Königreich, die normalerweise im Frühling stattfinden, im Mai oder im Juni. Während in London zurzeit die Sonne um halb vier Uhr nachmittags untergeht, wird es im hohen Norden, in Schottland, den ganzen Tag lang kaum richtig hell.

Für den britischen Wahlkampf spielt das Wetter ein wichtige Rolle, und das nicht nur, weil die Briten das Thema Wetter so gerne im höflichen small talk bemühen. Das House of Commons, das britische Unterhaus, wird nach Mehrheitswahlrecht gewählt. Die einzelnen Kandidatinnen und Kandidaten laufen in ihrem Wahlkreis mit ih­ren Teams von Tür zu Tür und suchen so den Kontakt mit den Wählerinnen und Wählern. Die Teams notieren, welche Stimmungen und politischen Präferenzen sie bei diesen Türgesprächen vorfinden, und rekrutieren potentielle Sympathisanten. Das sogenannte canvassing, das Klinkenputzen, funktioniert besser an hellen und warmen Abenden im Mai als im kalten Dezember.

Gleichwohl sind die Teams unterwegs, besonders in den Wahlkreisen, in denen ein knappes Ergebnis erwartet wird, wie zum Beispiel in Kensington in West London. Bei den Wahlen im Jahr 2017 setzte sich hier die Kandidatin der Labour-Partei, Emma Dent Coad, mit ­einer Mehrheit von nur 20 Stimmen gegen die konservative Kandidatin durch. Labour hatte nie zuvor in dem mehrheitlich wohlsituierten und großbürgerlichen Bezirk gewonnen. Das Ergebnis war zum Teil die Folge der Debatte über den Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU. Viele Wählerinnen und Wähler in diesem proeuropäischen Wahlkreis waren mit der harten Ausstiegspolitik der Konservativen unzufrieden.

Die Labour-Partei versucht, diesen Erfolg zu wiederholen, aber das könnte misslingen. Die Liberaldemokraten, die 2017 in Kensington nur etwa zwölf Prozent der Stimmen gewannen, treten diesmal mit Sam Gyimah an. Dieser war Tory und Minister in Theresa Mays Regierung, bevor er sich im September wegen seiner proeuropäischen Haltung den Liberaldemokraten anschloss. In Umfragen liegen die Kandidaten der drei Parteien nah beieinander. Es ist auch auch nicht auszuschließen, dass am Ende die Kandidatin der Konservativen gewinnt – in einem Wahlkreis, der zu über 60 Prozent für den Verbleib in der EU stimmte. Denn während die nicht enden wollenden Austrittsverhandlungen der Auslöser der vorgezogenen Wahlen sind, ist unklar, zu welchem Grad die Haltung zur EU das Wahlverhalten bestimmen wird.

Premierminister Boris Johnson und die Konservativen stellen den EU-Austritt in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs, und das, obwohl ihre Bilanz hier miserabel ist. Über dreieinhalb Jahre nach dem Referendum und mit nunmehr zwei verhandelten Austrittsabkommen, sind die Briten nach wie vor Mitglied der EU. Johnson ist es aber anscheinend gelungen, die Schuld für die Verzögerungen auf andere zu schieben. Er stellt die Wahlen nicht zuletzt als Abstimmung über den neuen Austrittsvertrag dar, den er Mitte Oktober ausgehandelt hat, und verspricht, dass der EU-Austritt damit schnell erledigt werde. Insbesondere im Lager der harten Austrittsbefürworter scheint er damit Erfolg zu haben.

Die erst im Januar gegründete Brexit Party, die bei den Europawahlen im Mai – also unter Verhältniswahlrech –mit über 30 Prozent der Stimmen landesweit stärkste Partei wurde, hat an Zustimmung eingebüßt und erreicht Umfragen zufolge kaum noch fünf Prozent. Nach enormem Druck aus der konservativen Presse kündigte ihr Vorsitzender Nigel Farage zuletzt an, keine Kandidaten in den Wahlkreisen aufzustellen, in denen Konservative bei den Wahlen die Mehrheit der Stimmen erhielten. Vor dieser Ankündigung hatte es bereits Spekulationen über Absprachen und Allianzen zwischen den Tories und der Brexit Party gegeben. Während Johnson offiziell jede Zusammenarbeit ablehnt, versprach er vor Farages Teilrückzug, den Austrittsprozess nicht zu verzögern, und verringerte seinen Einsatz für ein Freihandelsabkommen mit Europa, beides zentrale Forderungen von Farage.

US-Präsident Donald Trump hatte vor einigen Wochen ein Bündnis zwischen Johnson und Farage nahegelegt. Mit seinen Aussagen half er den Rechten allerdings wenig. Viele Briten befürchten eine zu große Annäherung an Trumps USA; Labour macht sich diese Angst im Wahlkampf zunutze. Die Partei veröffentliche in der vergangenen Woche ihr zugespielte Protokolle von offiziellen US-UK-Sondierungen über ein Freihandelsabkommen. Darin wird deutlich, dass die USA freien Zugang zum britischen Gesundheitssektor ­erhalten wollen. Johnson sah sich genötigt zu versprechen, dass der National Health Service (NHS) niemals Teil eines Freihandelsabkommens mit den USA sein wird.

Auch die Gegner des EU-Austritts haben taktische Wahlbündnisse geschlossen. Die Liberaldemokraten, die Grünen und die Waliser Nationalisten einigten sich auf einen Pakt in ungefähr 60 der 650 Wahlkreise. Dort wird jeweils nur eine der drei Parteien antreten. Labour lehnt die Teilnahme an solchen taktischen Bündnissen kategorisch ab.

Die Partei hatte sich zuletzt gegen eine eindeutige Haltung zur EU entschlossen und versucht, sich jenseits von remain und leave zu positionieren. Corbyn will ein neues Austrittsabkommen aushandeln, über das in einem neuen Referendum entschieden werden soll. Johnson und die Konservativen greifen Labour dafür an: Corbyn würde den Prozess dadurch nur weiter verzögern, er selbst könne sich nicht entscheiden, lautet der Vorwurf. Zuletzt gab Corbyn bekannt, dass er bei einem Referendum eine neutrale Position einnehmen würde.

Labour ist wie schon 2017 darum bemüht, die programmatische Debatte weg von der Frage der EU-Mitgliedschaft und hin zur Wirtschafts- und Sozialpolitik zu lenken. Die Partei sieht darin den Grund für das relativ gute Ergebnis von 2017, als es Corbyn gelang, breite Wählergruppen zu gewinnen, die unter der Sparpolitik der konservativen Regierungen seit 2010 zu leiden hatten. Auch wenn Corbyn 2017 die Wahlen verlor, so hat er doch die Debatte gewonnen. Von Sparpolitik ist in diesem Wahlkampf zumindest nichts mehr zu hören. Im Wahlprogramm der Konservativen ist stattdessen von umfangreichen Investitionen in den NHS, in die Polizei und in Schulen die Rede. Man müsse, sagt Rishi Sunak, Staatssekretär im Finanzministerium, regelmäßig in den britischen Medien, die niedrigen Zinsen für Investitionen nutzen. Mit diesen Ankündigungen versuchen die Konservativen, Wähler mit geringen Einkommen, also traditionelle Labour-Wähler, zu überzeugen, die sie benötigen, um eine Mehrheit zu erhalten. Johnson hat auch Abstand genommen von Plänen, die Einkommensteuer für Besserverdienende und Unternehmen zu senken, wie er noch im Sommer versprochen hatte.

Die Labour-Partei hat ihr Programm im Vergleich zu 2017 deutlich sozialis­tischer gestaltet. Für fünf Wirtschaftsbereiche kündigte sie eine Verstaatlichung an, unter anderem für Eisenbahnen, Wasser und Teile der Telekommunikationsnetze. Steuern auf hohe Einkommen und Unternehmensgewinne sollen erhöht werden, um Ausgabensteigerungen für Gesundheit und Renten zu finanzieren.
Auch die Klimapolitik ist ein wichtiges Wahlkampfthema. Die Grünen, Labour sowie schottische und walisische Nationalisten wollen einen Green New Deal einführen.

Johnson wird von der britischen Öffentlichkeit als wenig vertrauenswürdig angesehen. Corbyn gilt als glaubwürdig, aber zu schwach.

Die Liberaldemokraten versuchen, sich im marktliberalen Sinne als die »fiskal vernünftigeste« Partei zu präsentieren. Doch auch sie haben in Aussicht gestellt, die Sozialausgaben zu erhöhen, zum Beispiel für die Einführung von kostenlosen Kitaplätzen für alle arbeitenden Eltern und für bessere Alterspflege, finanziert durch eine Erhöhung der Einkommensteuer um einen Prozentpunkt.

Unter ihrer neuen Vorsitzenden Jo Swinson sind die Liberaldemokraten eigentlich angetreten, die neue Premierministerin zu stellen. Die Schottin könnte von den schlechten Sympathiewerten Boris Johnsons und Jeremy Corbyns profitieren. Johnson wird von der britischen Öffentlichkeit als wenig vertrauenswürdig angesehen. Corbyn gilt als glaubwürdig, aber zu schwach. Ihm wird auch die seit Jahren schwelende Antisemitismusdebatte in der Labour-Partei angelastet, die zuletzt einen neuen Höhepunkt erreichte. Ephraim Mirvis, der Oberrabbiner für das Vereinigte Königreich und das Commonwealth, sagte vergangene Woche, Corbyns Reaktionen auf die Fälle von Antisemitismus in der Partei zeigten, dass er für das Amt des Premierministers ungeeignet sei. Viele traditionelle Labour-Wähler denken zudem, dass Corbyn eine juvenile Studentenpolitik verkörpert, die nicht den Anforderungen der großen Politik gewachsen ist.

Umfragen deuten dennoch auf eine Konsolidierung der beiden großen Blöcke hin, wie sie auch 2017 stattgefunden hat. Das Ergebnis damals war ein Parlament ohne eindeutige Mehrheit für die beiden großen Parteien.