In Kolumbien gibt es große Proteste gegen die Politik der rechten Regierung

Aufstand und Bekämpfung

In Kolumbien protestiert seit dem 21. November ein breites oppositionelles Bündnis gegen die Politik der rechten Regierung. Nach dem Tod des 18jährigen Schülers Dilan Mauricio Cruz durch ein Geschoss der Bereitschaftspolizei ist die Polizeigewalt eines der Kernthemen der Protestbewegung.

Die Analyse der Gerichtsmediziner vom Donnerstag vergangener Woche war eindeutig: »Es war Mord.« Das hatten schon die Videos vom 23. November nahegelegt, die zeigen, wie ein Polizist im Zentrum Bogotás gezielt auf den Kopf des demonstrierenden Schülers Dilan Mauricio Cruz schoss. Nun war es offiziell. Es war kein Gummigeschoss und keine Tränengasgranate, was aus nächster Nähe auf den Kopf des 18jährigen Demonstranten abgeschossen worden war, sondern ein »Bohnenbeutel«, ein mit Bleikugeln gefüllter ­Keflar-Beutel, der ihm den Schädel zertrümmerte. Zunächst lag Cruz im Koma, in der Nacht von Montag zu Dienstag vergangener Woche verstarb er schließlich.

Die Polizeibehörden gaben an, das Projektil gehöre zur Standardausrüstung der Bereitschaftspolizei (Esmad) und entspreche internationalen ­Konventionen für die Aufstandsbekämpfung. Die Munition gelte als nicht tödlich, so der Verteidigungsminister Carlos Holmes Trujillo. Dass der Polizist aus gerade einmal zehn Metern Entfernung gezielt auf den Kopf des Schülers geschossen hatte, kommentierte er allerdings nicht. Diese Tatsache, aber auch zahlreiche Videos, die zeigen, wie Bereitschaftspolizisten gezielt auch unbeteiligt am Straßenrand stehende Menschen angriffen und somit bewusst Verletzungen in Kauf nahmen, waren auf der Pressekonferenz nach dem Bericht der Gerichtsmedizin kein großes Thema.

Sie sind es aber in den sozialen ­Medien und bei Menschenrechtsorganisationen. Der Menschenrechtsanwalt Germán Romero macht nicht nur auf die 20 Todesfälle aufmerksam, für die die Esmad mit ihren 3 580 Polizisten seit ihrer Gründung 1999 verantwortlich ist, sondern auch darauf, dass sie als »Einheit des Angriffs auf soziale Proteste instrumentalisiert« worden sei. Romero und andere Menschenrechtsanwälte fordern deshalb ihre Auflösung. Zu den 20 Opfern der Esmad gehören vor ­allem Kleinbauern, Indigene und Studierende.

Seit dem 21. November protestieren in Kolumbien landesweit Hunderttausende Menschen gegen die rechte Regierung. Mehrfach kam es zu Ausschreitungen, vier Menschen starben bislang, über 760 wurden verletzt, über 170 verhaftet. Manche Protestierende beziehen sich mit den Slogans »Kolumbien ist aufgewacht« beziehungsweise »Südamerika ist aufgewacht« auf die Proteste in Chile und Ecuador. Aufgerufen zu den Streiks und Protesten hatte am 4. November ein Bündnis aus Gewerkschaften, Studierenden-, Bauern-, indigenen und sozialen Organisationen. Sie kritisieren die Sicherheits-, Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik der ­Regierung.

Präsident Iván Duque schlug als Reaktion auf die Proteste am 22. November einen »nationalen Dialog« vor, die Organisationen hinter dem Generalstreik sollen mit Kontrollbehörden, der Generalstaatsanwaltschaft und Interessenverbänden von kleinen und mittleren Unternehmen verhandeln. Doch das Streikkomitee will von seinen 13 Kernforderungen nicht abrücken, dazu zählen unter anderem die Rücknahme der Steuerreform, die Aufgabe der Rentenreform, die Auflösung der Esmad und die Implementierung des Friedensabkommens mit der Guerilla Farc. Letzteres wird von der Regierung Duque in vielen Punkten unterlaufen beziehungsweise nicht implementiert. Das schlägt sich auch in der weiter steigenden Zahl von Morden an sozialen Aktivisten in Kolumbien nieder. Über 800 Morde registrierte die Menschenrechtsorganisation »Somos Defensores« seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen den Farc und der Regierung 2016, damals noch unter Präsident Juan Manuel Santos. Ende ­August kündigte eine Gruppe ehemaliger Farc-Anführer daher ihre Rückkehr zum bewaffneten Kampf an (Jungle World 42/2019).

»Seit dem Amtsantritt der Regierung von Iván Duque im August 2018 dreht sich die Gewaltspirale immer schneller. Mitarbeiter im Justizsektor sind davon nicht ausgenommen«, so Carlos Ojeda Sierra, der Leiter der kleinen Menschenrechtsorganisation Fasol, die im Justizsektor arbeitet. Die nicht funktionierende Justiz ist auch ein Thema bei den Protesten. Die Justizgewerkschaft Asonal Judicial, die bereits Anfang Oktober auf die Straße gegangen war, kritisierte, der Justizsektor werde kaputtgespart, und weist auf einen Personalschlüssel hinweist, der illustriert, weshalb viele Verbrechen straflos bleiben. »In Kolumbien kommen wir auf elf Richter pro 100 000 Einwohner. Im Schnitt der OECD-Länder sind es 65. Wir gelten aber als ein Land im Postkonflikt«, so Fredy Machado, der Vorsitzende von Asonal Judicial. Deshalb wird als erster Schritt die Schaffung von 3 000 neuen Stellen gefordert.

Die Gewerkschaften sind eine treibende Kraft hinter den Protesten. Diógenes Orjuela, der Vorsitzende der CUT, des größten der drei Gewerkschaftsdachverbände Kolumbiens, machte am 26. November nach einem abgebrochenen Treffen mit Präsident Duque klar, dass man sich nicht auf dessen Vorstellungen einlassen werde, und forderte direkte Gespräche zwischen dem Streikkomitee und der Regierung. Daraufhin kündigte Duque eine Reihe von Maßnahmen an, um den Streikenden entgegenzukommen. So sollen die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung von der Mehrwertsteuer befreit, die Krankenversicherungsbeiträge von Rentnern gesenkt und Anreize für die Schaffung neuer Arbeitsplätze geschaffen werden.

Für viele Streikende ist das zu wenig. Nicht alle Gruppen nahmen an der ersten Gesprächsrunde mit dem Präsidenten teil, so zum Beispiel der Studierendenverband Unees. Er hatte abgesagt, weil kleinbäuerliche, indigene und andere studentische Gruppen nicht zur Runde mit Duque zugelassen worden seien. Der Präsident versuche, die Protestgruppen auseinanderzudividieren, behaupten dessen Kritikerinnen und Kritiker. Zu diesen gehört auch die designierte Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López von der Partei Grüne Allianz. »Niemand von uns repräsentiert die Bürger auf der Straße. Sie haben ihre eigenen Sprecher und warten darauf, dass sie eingeladen werden«, sagte sie. Das gilt für kleinbäuerliche Organisationen, die nicht nur Schutz vor hochsubventionierten Importen aus den USA und anderen Ländern verlangen, sondern auch eine Förderpolitik für kleinbäuerliche Strukturen.

Die ist zwar in Ansätzen im Friedensabkommen vereinbart, wird aber nicht verwirklicht. Auch indigene Organisationen, die in vielen Regionen des Landes, etwa dem Cauca, Opfer der Landkonflikte sind, würden von einer solchen Förderpolitik profitieren. Sie werden durch das Vordringen von Bergbauunternehmen bedroht, die sich Menschenrechtsorganisationen zufolge oft neuer paramilitärischer Gruppen bedienen.

Direkte Verhandlungen mit der Regierung fordern auch die Studierenden, die seit Wochen jeden Donnerstag demonstrieren, weil die Regierung ihre 2018 getroffenen Zusagen nicht erfüllt, darunter die Erhöhung des Hochschul­etats. Für Daniel Hernández Ocampo von der Unees ist der Mord an Cruz nun der Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht habe. Danach wurde umso vehementer gegen Polizeigewalt und für die Auflösung der Esmad ­demonstriert. Zu dieser Forderung hat sich Duque bisher nicht geäußert. Er übermittelte der Familie von Cruz lediglich sein Beileid. Am 25. November ­hätte der Schüler sein Abiturzeugnis erhalten sollen.