Ein neuer Lieferservice verspricht quasi sofortige Zustellung. Zum neuen Trend Q-commerce

Schneller, als die Eiscreme schmilzt

Von Lisa Bor

Nur zehn Minuten von der Bestellung bis zur Lieferung, das propagiert ein neuer Lieferservice. Allein ein solches Ziel auszugeben, zeigt, welch harte Konkurrenz zwischen den Lieferplattformen in Großstädten besteht.

Das Start-up Gorillas, ein neues Unternehmen mit Sitz in Berlin, hat sich vorgenommen, Lebensmittel und Haushaltswaren besonders schnell zu liefern. Nicht nur am Tag der Bestellung, sondern sogar fast sofort sollen Produkte aus dem supermarktähnlichen Sortiment beim Kunden ankommen. Und das zu branchenüblichen Preisen plus einer Liefergebühr von 1,80 Euro. Von der Bestellannahme bis zur Ankunft des Boten sollen nur zehn Minuten vergehen, verspricht das Unternehmen auf seiner Website. Derzeit wird das je nach Adresse bei der Bestellung noch auf bis zu 15 Minuten korrigiert. Die Gründer Kağan Sümer und Jörg Kattner sind ehemalige Beschäftigte von Rocket Internet, einem Unternehmen, das Beteiligungen an Start-ups hält; Kattner war zudem in der Schweiz Manager bei dem Lebensmittellieferanten Hello Fresh. Das Sortiment von Gorillas ist abgestimmt auf die Bedürfnisse der wohlhabenden Bewohner des Liefergebiets Prenzlauer Berg: Hafermilch und vegane Leckereien, viel Bio. Auch dass ­Atlantic Food Labs, ein auf die Finanzierung von Tech-Firmen im »nachhaltigen« Ernährungssektor spezialisiertes Unternehmen, eine Beteiligung von 14,5 Prozent an Gorillas erworben hat, deutet darauf hin, dass man vor allem auf gesundheitsbewusste und wohlhabende Kundschaft zielt.

Während die Unternehmen mit Begriffen wie Logistik und Zeiteffizienz hantieren, weisen Gewerkschaften darauf hin, dass die Fahrer und Lagerarbeiterinnen die schnelle Lieferung ermöglichen.

Kein Preisaufschlag im Vergleich zum Supermarkt, geringe Liefergebühr, dabei Kosten für Warenlagerung und Löhne – wie soll das gehen? Nun geben Start-ups eigentlich immer vor, eine neue Ära einzuleiten oder etwas zu revolutionieren. So heißt es in den Stellenausschreibungen des Berliner Start-ups: »We are on a mission to redefine convenience retail.« Wie diese »Mission«, den Einzelhandel neu zu definieren, erfüllt werden soll, ist auf der Website gorillas.io in drei Worten umrissen: »1. Need, 2. Order, 3. Get«, also: brauchen, bestellen, bekommen. Wie das praktisch vonstatten geht, ist allerdings damit keineswegs beantwortet. Wie etwas bestellt wird, dürfte ungefähr klar sein. Aber wo werden die Produkte ­gelagert, wer verpackt sie wo und wer liefert sie aus? Vor allem: Wie sind die Arbeitsbedingungen? Wie hoch sind die Löhne? Was ist mit dem Trinkgeld?

Am Telefon beantwortet der Geschäftsführer der Firma, Kağan Sümer, die Frage der Jungle World, wie die niedrigen Lieferkosten mit guten Arbeitsbedingungen zu vereinbaren ­seien, nur vage. Finanzen und die Bezahlung seien zwar wichtig, das Hauptziel sei es jedoch, dass jedes Mitglied der »bike crew«, als deren Teil er sich auch selbst sieht, glücklich und stolz darauf ist, ein »Gorilla« zu sein. Sie seien keine Geschäftsleute, die eine Lieferservice betrieben, sondern selbst Auslieferer, die eine Firma aufbauten. Auch die Stellenausschreibung, um ein »bike crew member« zu werden, klingt nach Start-up. Eingestellt wird man bei der Gorillas Technologies GmbH, geboten werden den Fahrern und Fahrerinnen bezahlte Wartezeit zwischen den Aufträgen, ein »awesome team spirit« und die Verantwortung, das Unternehmen zu repräsentieren, zudem die Gelegenheit, alle Seiten des Unternehmens kennenzulernen. Ob das vielleicht in den bezahlten Wartezeiten passiert? Es werde viel investiert, damit sich die Fahrer willkommen fühlten, schreibt das Unternehmen. Über Stundenlöhne erfährt der Bewerber nichts.

Ein knappes halbes Jahr nach der Eintragung ins Handelsregister sind noch keine weitreichenden Aussagen über die ökonomische Entwicklung möglich. Zwar muss ein Unternehmen dieser Art nicht sofort profitabel sein, von vielen anderen Start-ups unterscheidet sich Gorillas jedoch mutmaßlich durch einen recht hohen Investitionsbedarf wegen der Notwendigkeit von Lagerkapazitäten und Vorratshaltung. Wie hoch der tatsächlich liegt, ist nicht bekannt.

Für den Trend zu schnellen Lieferungen und den Onlinehandel im Supermarktsegment kursiert ein neuer Branchenname: Q-commerce, das Q steht dabei für »quick«. Gorillas konkurriert in Berlin mit Delivery Hero und Lieferando. Delivery Hero ist erst im August in den Dax aufgestiegen, den Index der 30 größten börsennotierten deutschen Firmen. Die Firmengeschichte beider Unternehmen zeigt eindrücklich, was mit der »Neudefinition« von Märkten gemeint ist: Sie haben ein neues Geschäftsmodell etabliert. Sich Essen zu bestellen und per Radkurier aus der ganzen Stadt zum geringen Pauschalpreis liefern zu lassen, ist durch die Marketingoffensive Teil des Alltags von Millionen Großstädtern geworden.

Der Konkurrenzkampf der Unternehmen ging zu Lasten der Kuriere, die entweder ihre Jobs verloren oder zu neuen Konditionen bei andern Lieferdiensten arbeiten. Auch die Gastronomie ist von den Plattformen abhängig geworden. Über diese wurden laut Statista Digital Market Outlook bereits 2016 viermal mehr Bestellungen getätigt als über die hauseigenen Lieferservices von Restaurants – Tendenz steigend. In der Anfangszeit der Covid-19-Pandemie, als die Restaurants für Gäste schließen mussten, wuchs die Zahl der Bestellungen nochmals sprunghaft.

Ein besonders wichtiger Bestandteil des Geschäftsmodells ist, dass die Kommunikation über Apps erfolgt, sowohl die Bestellung als auch die Beauftragung der Fahrer und Fahrerinnen. Während die Unternehmen mit betriebswirtschaftlichen Begriffen wie Logistik und Zeiteffizienz hantieren, weisen Gewerkschaften darauf hin, dass letztlich die Fahrer und Lagerarbeiterinnen die schnelle Lieferung ermöglichen. Karin Vladimirov von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), zu der die Abteilung »Liefern am Limit« für Essenslieferungen gehört, weist im Gespräch mit der Jungle World auf die problematischen Zustände hin, die bereits ohne feste Zeitzusagen bestehen. Lieferando beispielsweise wurde wiederholt dafür kritisiert, dass die Fahrerinnen für die eigene Ausstattung aufkommen müssen, die Konditionen der Arbeit intransparent seien und das Trinkgeld nicht an die Fahrer weitergegeben werde.

Auch Supermärkte mit Online-Zugang brauchen Platz für Waren und Logistik. Delivery Hero arbeitet laut Selbstdarstellung an der Perfektionierung der Lieferkette und der Infrastruktur, denn eine schnelle Lieferung sei nur bei kurzen Wegen möglich. ­Dadurch verändern sich die Innenstädte, sagt der Sozialwissenschaftler Moritz Altenried, der zu Plattformen und Logistik forscht, der Jungle World: »Supermärkte und Läden, die ein wichtiger Teil von Stadtarchitektur sind, könnten dadurch verschwinden und stattdessen etwa Warenlager im Innenstadtbereich entstehen.« Amazon habe diesen Effekt in Berlin bereits bewirkt. Im Bereich Gastronomie gibt es eine ähnliche Entwicklung: Durch das vermehrte Liefergeschäft von Plattformen weichen Gastronomiebetriebe, in denen Menschen zum Essen einkehren, so­genannten virtuellen Küchen, die auf Lieferungen spezialisiert sind. Das erfordert andere Räumlichkeiten, aber auch bestimmte Formen von Arbeit. Mit Blick auf andere Logistikzentren wie die von Amazon stellt sich die Frage: Wie werden die Arbeitsbedingungen in diesen Lagerräumen sein, wenn sich Zielvorgaben von 20 oder sogar zehn Minuten durchsetzen?

So praktisch es ist, schnell zu bekommen, was man braucht, ohne dafür das Haus zu verlassen – Verbraucher sollten sich fragen, was es bedeutet, wenn zwischen Ware und Käufer eine Plattform geschaltet ist. Zum Supermarkt haben im Prinzip alle Zugang, auch wenn er ein privates Unternehmen ist, dort Hausrecht gilt und es Barrieren geben kann. Gezahlt werden kann – noch – mit Bargeld und man kann vermeiden, dass nachverfolgt wird, was man gekauft hat. Zu Onlineshops hingegen bekommt man nur mit der notwendigen Technik Zugang: Hardware und Software, also die App, die den Zugriff auf Daten ermöglicht. Zudem braucht man ein Konto mit Kreditkarte oder einen Account bei einer entsprechenden Plattform wie Paypal. Zu jeder Zeit und von jedem Ort aus etwas kaufen zu können und es nun auch sofort geliefert zu bekommen, ist in dieser Hinsicht exklusiv.

Ob sich Gorillas in Berlin etablieren kann, bleibt abzuwarten, am weiteren Wachstum der auf App-Nutzung beruhenden Lieferbranche kann jedoch kaum ein Zweifel bestehen. Die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und das städtische Leben dürften durchweg negativ ausfallen. Und zu welcher Art Enttäuschung es kommen kann, wenn ein solcher Konsumtrend zum Standard wird, zeigen Tweets von Kunden in den USA, in denen die Nutzung von App-Lieferservices bereits weiter verbreitet ist: Mit tränenüberströmten Emojis beschwert sich etwa ein User darüber, mehr als 50 Minuten auf die Lieferung gewartet zu haben – nun sei seine Eiscreme geschmolzen angekommen.