Deutlicher als erwartet hat die »Bewegung zum Sozialismus« die Wahlen in Bolivien gewonnen

Neustart ohne Morales

Deutlicher als prognostiziert hat Luis Arce von der »Bewegung zum Sozialimus« die Präsidentschaftswahl in Bolivien gewonnen. Die Erwartungen an die neue Regierung sind hoch.

Text Adela Cruz Quispe sitzt in ihrem Büro in El Alto und ist froh, dass es ruhig ist. »Nach den Konflikten der vergangenen Monate ist das ein erster Erfolg. Das deutliche Wahlergebnis könnte uns helfen, aus der Krise zu kommen«, so die Direktorin des Jugend- und Kulturzentrums in Rio Seco, einem Innenstadtbezirk von El Alto und Hochburg des Movimiento al Socialismo (MAS, Bewegung zum Sozialismus). Die über La Paz liegende Stadt ist ein wichtiger Handelsknotenpunkt, dort war die Arbeitslosenrate bereits vor Ausbruch der Pandemie besonders hoch und ist wegen der Maßnahmen zu deren Bekämpfung weiter gestiegen.

Die Opposition könnte gegen der Mehrheit des MAS in beiden Kammern des bolivianischen Parlaments eine neue Wirtschafts- und Umweltpolitik nicht verhindern.

Der MAS hat die Wahlen mit seinen Kandidaten für die Präsident- und Vizepräsidentschaft, Luis Arce und David Choquehuanca, mit knapp 55 Prozent der Stimmen deutlicher als erwartet gewonnen, so dass es nicht zu einer Stichwahl kommt. Auch im Senat und der Abgeordnetenkammer verfügt der MAS über eine Mehrheit. Das sorge für klare Verhältnisse und sei eine Chance für die Zukunft, meint Adela Cruz Quispe. Wie viele Bolivianerinnen und Bolivianer hofft sie, die Phase der Konfrontation nach den umstrittenen Wahlen 2019 gehe nun zu Ende.

»Die Wahl ist ein Votum der einfachen Menschen für das demokratische System, für indigene Rechte und für eine Partei, die sich neu beweisen muss«, so die 50 jährige Sozialarbeiterin. Sie trägt Faltenrock, Umhängetuch und einen Hut, wenn sie in El Alto und La Paz unterwegs ist – ein Kleidungsstil indigener Frauen, die lange diskriminiert wurden. Sie hat es schätzen gelernt, dass deren Rechte in den 14 Jahren unter Evo Morales Präsidentschaft gestärkt wurden.

Die Angst, diese Errungenschaften zu verlieren, hat maßgeblich zur hohen Wahlbeteiligung von mehr als 88 Prozent beigetragen. Hoch sind aber auch die Erwartungen an die neue Regierung, die sich im Wahlkampf und auch nach dem Wahlerfolg deutlich moderater gab als der radikale Flügel des MAS, auf den der langjährige Präsident Evo Morales immer zählen konnte. Luis Arce hat sich in den vergangenen Monaten immer wieder vom politischen Übervater des MAS abgesetzt, in dessen Kabinett er Wirtschafts- und Finanzminister war, und betont, dass er mit eigenem Programm zur Wahl stehe und kein Platzhalter für den im argentinischen Exil lebenden Morales sei.

Diesem Anspruch muss der Ökonom, der als Minister konventionell die Ausbeutung der Bodenschätze des Landes förderte, nun gerecht werden – unter schwierigen Bedingungen. »Wir stecken in einer Rezession, die Arbeitslosigkeit steigt, die Pandemie hat uns schwer getroffen und wir brauchen bessere Konzepte im Gesundheits- und Bildungssektor«, umreißt Adela Cruz Quispe die Herausforderungen. Arce, der Mitte November vereidigt werden soll, wie das Wahlgericht ankündigte, hat bereits versprochen, mehr in den Umwelt- und Ressourcenschutz zu investieren. Das deutet einen Richtungswechsel in seiner Partei an, die nun die Solarenergiegewinnung besser entwickeln will, als das früher der Fall war. Da war Arce ein Befürworter der Staudammprojekte Chepete und El Bala im Tiefland des Amazonas, die, so der damalige Wirtschaftsminister, »Bolivien zur Energiedrehscheibe der Region« machen sollten. Doch die beiden aus ökologischer Perspektive überaus fragwürdigen Projekte seien auch ökonomisch ausgesprochen schlecht kalkuliert gewesen, urteilt Pablo Solón, ehemaliger UN-Botschafter der Regierung Morales und international renommierter Umweltschützer: »Die Kosten waren durch die zu erwartenden Abnahmepreise für Strom nicht gedeckt und es gab keine Vorverträge mit den potentiellen Abnehmer wie Argentinien, Brasilien oder Peru.«

Die Opposition könnte gegen der Mehrheit des MAS in beiden Kammern des Parlaments eine neue Wirtschafts- und Umweltpolitik nicht verhindern. Die Comunidad Ciudadana (Bürgergesellschaft) des Historikers Carlos Mesa kam auf rund 29 Prozent der Stimmen, die Bewegung Creemos (Wir glauben) von Luis Fernando Camacho, einem ultrarechten, christlich-fundamentalistischen Rechtsanwalt und Unternehmer aus Santa Cruz, dem Sitz der Soja-Agrarlobby des Landes, auf 14 Prozent. Beide stehen eher Wahlbündnissen mit regionalem Schwerpunkt denn Parteien vor und waren daher im Nachteil gegenüber dem landesweit präsenten MAS.

Die »Bewegung zum Sozialismus« hat nicht nur, wie erwartet worden war, auf dem Land die Mehrheit der Stimmen gewonnen, sondern auch in den Städten. Analysten wie Rafael Puente, der ehemalige stellvertretende Innenminister im ersten Kabinetts von Morales, betrachten das nicht zuletzt als Ergebnis des Personalwechsels und seiner Folgen: »Arce und Choquehuanca stehen für einen neuen Politikstil. Sie haben die Amtsführung von Evo kritisiert, eine Regierung mit einem neuen, jungen Führungsteam angekündigt und versprochen, dass es mit ihnen keine politische Verfolgung der Opposition und keine Vergeltung geben werde. Das sind positive Signale.« Zudem traut er dem Duo zu, Bolivien aus der Rezession zu führen und die drohende Abwertung der Landeswährung zu vermeiden.

Darauf hofft auch Adela Cruz Quispe, die allerdings skeptisch ist, weil im MAS lange klientelistische Strukturen vorherrschten. »Diese zu überwinden und Politik für die Bevölkerungsmehrheit zu machen, ist die große Herausforderung.«