Der Niedergang der Druckindustrie in Hamburg

Monotonie und Rotation

Reportage Von Gaston Kirsche

Giftige Dämpfe, ohrenbetäubender Lärm, Wechselschichten – die Arbeitsbedingungen in der Druckindustrie der achtziger Jahre waren hart. Ein Erfahrungsbericht aus einem Betrieb mit kämpferischer Gewerkschaftsvertretung, von dem nur eine Brache geblieben ist.

Der Tiefpunkt ist meistens zwischen zwei und drei Uhr morgens erreicht. Der Körper signalisiert, dass es allerhöchste Zeit für Schlaf ist, und wehrt sich dagegen, an der Rotation zu stehen. Die Papierbahn rast durch die zehn Druckwerke, überall Papierstaub, trotz der Ohrstöpsel ist es laut. Der Maschinenkontrollstand ist außerhalb der Box, in der die dreistöckige Druckmaschine läuft. Aber für jeden Arbeitsschritt direkt an der Maschine wird die Tür der Box geöffnet, man muss ran an die ­vibrierenden Druckwerke, es ist stickig und warm, verständigen kann man sich nur durch Brüllen. Im Sommer läuft der Schweiß.

Die tonnenschweren Druckzylinder rotieren, auf der Druckmaschinenverkleidung klebt ein dünner Film, eine Verbindung aus dem Schmieröl, das bei der hohen Laufgeschwindigkeit zwischen den Achsen der Druckzylinder und den Lagern verdunstet, Metall­abrieb von den Rakelmessern, mit denen die überschüssige Farbe vom Druckzylinder abgezogen wird, unzähligen winzigen Papierfasern und Lösungsmitteldämpfen. Wenn es einen Reißer gibt, müssen alle Drucker rein und die über 3,60 Meter breite Papierbahn über die Laufstangen wieder durch die zehn Druckwerke führen – fünf für den Schöndruck, fünf für den Widerdruck.

Über einen großen Auftrag wurde im Drucksaal schon Tage vor dem Andruck begeistert gespro­chen: ein dickes Sonder­heft des »Playboy«. Viele Kollegen wollten ein Exemplar mitnehmen.

In Wannen schwimmt die dünnflüssige Druckfarbe auf Basis von Toluol. Dieses ist krebserregend und verdunstet bei niedrigeren Temperaturen als Wasser, etwa bei 80 Grad Celsius. Im menschlichen Körper reichert es sich an. Das meiste verdunstete Toluol aus den Farbwannen wird über riesige Rohre mit trichterförmigen Öffnungen abgesaugt – aber nicht alles. Gear­beitet wird ohne Handschuhe, Farbreste werden mit in Toluol getränkten Lappen abgewischt. Nicht gesundheitsgefährdende Lösungsmittel für die Tiefdruckfarben sind teurer. Also wird Toluol verwendet.

Gedruckt wird in Millionenauflage der jähr­liche Ikea-Katalog. Der Druckbogen mit den Betten ist dran, 32 Katalogseiten voller Betten, Matratzen, Decken und Bezüge. Anstatt im Bett zu liegen, achte ich auf den Passer beim Fortdruck. Alle Arbeiter reagieren nachts um zwei Uhr fahriger als sonst, wenn beim Rollenwechsel die Papierbahn reißt, der Passer nicht mehr stimmt oder Dreck an einem Rakelmesser ist. Es arbeiten mehr Drucker an den Maschinen, als der Verband der Druckindustrie möchte. Einer kann immer Pause machen, das wurde durch Streiks erkämpft und tarifvertraglich geregelt. Im Manteltarifvertrag gab und gibt es genaue Angaben zur Maschinenbesetzung, die allerdings nur in tarifgebundenen Betrieben gelten.

Arbeit rund um die Uhr
1984 begann ich eine Ausbildung zum Tiefdrucker, nach der Lehre wurde ich von der Druckerei Broschek im Nordosten von Hamburg übernommen, die für ihren hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und ihren kämpferischen Betriebsrat bekannt war. Die Belegschaft achtete darauf, dass die Geschäftsleitung und die Vorgesetzten die tariflichen Vereinbarungen einhielten. Zwei von der Maschinenbesetzung, ein Drucker und ein Helfer, waren im Pausenraum neben dem Drucksaal, wie die unwirtliche, rein funktional eingerichtete Fabrikhalle genannt wurde. Wenn sie nach 20 Minuten zurückkamen, konnten die nächsten gehen.

In den achtziger Jahren änderte sich noch nichts an den gesundheitsschäd­lichen Arbeitsbedingungen. Der Lärm, die Toluoldämpfe – all das hätte nicht sein müssen. Doch erst im Laufe der Neunziger wurde Toluol als Lösungsmittel in den Farbrezepturen ersetzt. »Bei Beschäftigten, die länger als 16 Jahre im Tiefdruck arbeiteten, war die Anzahl von deformierten Erbinformationsträgern in den Zellen wesentlich höher als bei den Kollegen, die erst kürzer dabei waren. Da gab es Brüche in den Chromosomenärmchen, winzig kleine Verbindungsteilchen fehlten oder waren vertauscht. Solcherart Fehler in der genetischen Information können vermehrt entstehen, wenn die Reparaturmechanismen in der Zelle nicht mehr richtig funktionieren«, hieß es unter der Überschrift »Wir lassen sie sterben« 1994 im Spiegel.

In Wannen schwimmt die dünnflüssige Druckfarbe auf Basis von krebserre­gendem Toluol. Das meiste verdunstete Toluol wird abgesaugt – aber nicht alles.

Maßgeblich für die Ersetzung von Toluol waren Kampagnen der dam­aligen Industriegewerkschaft Druck und Papier und ihrer Schwester­organisationen in Europa. Tatsächlich sind die Verhältnisse in der Druck­industrie seitdem, was Gesundheits- und auch Umweltschutz betrifft, ­vergleichsweise gut. Das hat viel Einsatz der Drucker und ihrer Gewerkschaften erfordert.

Was blieb, war die Kontaminierung der Böden. Broschek war eine der ersten Industriedruckereien, die saniert wurden. Am 30. August 2019 erklärte der Hamburger Senat als Antwort auf die Schriftliche Kleine Anfrage eines Abgeordneten der CDU in der Druck­sache 21/18127: »Im Jahr 1992 wurden auf dem Gelände der Firma Broschek Bodenuntersuchungen durchgeführt, bei denen großflächig Bodenverun­reinigungen mit dem eingesetzten Lösungsmittel Toluol festgestellt wurden. Danach erfolgten umfangreiche Sanierungsmaßnahmen, die im Jahr 1996 abgeschlossen wurden.«

Auch der Lärm und der Schichtbetrieb waren gesundheitlich stark belastend. Gearbeitet wurde in drei Schichten rund um die Uhr: im wöchentlichen Wechsel Frühschicht, Spätschicht und Nachtschicht: Bei der fängt um 22 Uhr die Arbeit an, um sechs Uhr morgens ist Feierabend. Am Freitag um 22 Uhr zum Schichtbeginn an der Rotationsdruckmaschine anzutreten, war surreal. Es gibt gesellschaftlich notwendige Arbeit, die rund um die Uhr erledigt werden muss. Drucken gehört nicht dazu. Die großen Rotationsmaschinen sind teuer – damit sie sich schneller amortisieren, laufen sie rund um die Uhr. Nachtschicht bedeutet Gesundheitsgefährdung für den Profit. Nicht alle Schichtarbeiter erreichen das Rentenalter.

Für Frauen war Nachtarbeit im produktiven Gewerbe bis 1992 verboten. Dementsprechend war der Drucksaal eine reine Männerdomäne, selbst die Betriebsrätinnen aus anderen Abteilungen trauten sich kaum hinein. In der Verwaltung arbeiteten viele Frauen, auch in der Buchbinderei. Die Druckvorstufe, wo die Druckvorlagen und die Druckformen in einer kleineren Abteilung hergestellt wurden, arbeitete auch im Dreischichtbetrieb und war eine Männerdomäne.

In der Buchbinderei wurden die an der Druckmaschine bereits gefalzten Vorprodukte durch Heftung oder Klebebindung zu Zeitschriften oder Katalogen weiterverarbeitet. Hier arbeiteten viele Frauen im Zweischichtbetrieb. Die Arbeitsbereiche waren strikt voneinander getrennt, wer in der Buch­binderei arbeitete, sollte nicht in den Drucksaal gehen und umgekehrt. Man hatte aber auch genug mit der eigenen Arbeit zu tun und in den Pausen blieb man im Pausenraum der eigenen Abteilung unter sich.

Unter Männern
Durch das Arbeiten nur mit Männern, durch die gegenseitige Selbstbestätigung im Lebensmittelpunkt Drucksaal, wurden patriarchale Muster reproduziert. Frauen sah man zu Hause oder in der Freizeit. An der Längsseite des Drucksaals standen verbeulte Metallschränke. In diesen persönlichen Spinden hingen meist Fotos nackter Frauen.

Broschek war eine Akzidenzdruckerei, sie war nicht an einen Verlag gebunden, sondern nahm alle möglichen Aufträge an. Interessant fand ich die Kataloge der großen Supermarktkette Kmart aus den USA und die Unterschiede in der Präsentation für das dortige Publikum. Über einen großen Auftrag wurde im Drucksaal schon Tage vor dem Andruck begeistert gesprochen, Kollegen hatten schon Teile davon in der Druckvorstufe gesehen: ein dickes Sonderheft des Playboy. Viele Kollegen wollten ein Exemplar mitnehmen. Als an der Andruckmaschine die üblichen Proben hergestellt wurden, um zu prüfen, ob die Druckzylinder richtig graviert waren, der Passer stimmte, die verschiedenen Farben richtig übereinander gedruckt wurden und die Farbtöne und die Brillanz korrekt waren, kamen wesentlich mehr Kollegen als sonst von den Fortdruckmaschinen in die Hallenecke, wo die Andruckmaschine stand, um die nackten Frauen auf den Abbildungen ausführlich zu bewerten.

Das Patriarchat ist wie der Rassismus und der Antisemitismus sind unter dem Kapital konstitutiv in die gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnisse eingeschrieben und prägen auch die Lohnarbeit. Die qualifizierten Drucker am Maschinenpult waren meist weiß und einsprachig, die Hilfsarbeiter im Papierkeller und an den Maschinenauslagen, wo die gedruckten und gefalzten Produkte abgelegt werden, in der Regel schwarzhaarig und mehrsprachig. Wenn bei Stoppern alle anpackten, um die Rotation wieder ins Laufen zu bringen, oder beim Wechsel der Druckzylinder, beim Wechsel der Rakelmesser – immer hatten der Maschinenführer und die anderen Drucker das Kommando. Eine prägende Hierarchisierung, typisch für die traditionell verstandene Klasse der weißen, männlichen Facharbeiter. Frauen, Migrantinnen und Migranten kamen in dieser Vorstellung der Arbeiterklasse nicht vor, den Arbeiterstolz prägten Männlichkeit und Stärke, das körperliche Leiden unter den Arbeitsbedingungen wurde ignoriert.

Während der Lehre zum Drucker Tiefdruck /Offset lief ich mit einem anderen Auszubildende an den Maschinen mit, wir sollten in der laufenden Produktion lernen. Eine Lehrwerkstatt gab es 1984 bei Broschek nicht mehr – wir versuchten, uns möglichst viel abzugucken. Einen Maschinenleitstand selbst zu dirigieren, habe ich erst zwei Tage vor meiner praktischen Abschlussprüfung länger üben können. Die große, dreistöckige Rotation selbst hochzufahren, war eine tolle Erfahrung. Aber in der laufenden Produktion war meine Tätigkeit in der Regel auf das Erledigen kleinerer Arbeiten auf Zuruf beschränkt. Überdies gab es Zuarbeiten, welche die Maschinenführer an uns Auszubildende delegierten, etwa den Ölstand der Motorenblöcke der Druckmaschinenmotoren im Papierkeller zu kontrollieren oder neue Rakelmesser in die Halterungen zu spannen.

Die Rakelmesser, dünne Stahlbänder, waren spätestens dann abgenutzt, wenn ein Druckzylinder sich eine halbe Million Mal gedreht hatte. Sie waren unverzichtbar, denn sie streiften die überschüssige Farbe ab, nachdem ein Druckzylinder durch die Farbwanne gelaufen war. Nur in den napfförmigen Vertiefungen, in den mikroskopisch klein eingravierten Löchern in der Kupferbeschichtung der Druckzylinder sollte die Farbe verbleiben, um auf die Papierbahn gedruckt zu werden. Durch die unterschiedliche Tiefe der Löcher wurde unterschiedlich viel Farbe auf das Papier gedruckt, so entstand die feine Farbbrillanz, für die der Illus­trationstiefdruck bekannt ist. Beim Einsetzen der Rakelmesser in die Halterungen brauchte man eigentlich Handschuhe, um sich nicht zu schneiden – aber dann hätte man nicht genug Feingefühl in den Fingern gehabt, um das Blech millimetergenau und ohne Wellen zu justieren. Die Narben an den Händen von den Schnitten, wenn mal was schiefging, sind mir geblieben.

Da wir Auszubildenden nur zwei Pausen hatten, entzog ich mich dem Lärm, den Toluoldämpfen und der Monotonie an der Rotation manchmal durch den Gang zur Toilette. Die meisten Kollegen deckten es hilfsbereit, wenn wir Azubis mal raus wollten. Wenn ich dort ein paar Minuten saß, spürte ich, wie ich mich in meinem eigenen Körper ins Innerste verkrochen hatte. Die äußere Hülle ­meines Körpers war mir fremd, sie war schmutzig, mit Farb- und Lösungsmittelrückständen bis in die Haarspitzen. Die Gemeinschaftsduschen ­waren zum Feierabend der Ort des Auflebens.

Die Grenzen des Klassenbewusstseins
Die Tiefdruckerei Broschek hatte in den achtziger Jahren einen links dominierten Betriebsrat – dessen damalige stellvertretende Vorsitzende der Zeitschrift Konkret ein Interview zum Thema ­»Sexismus im Betrieb« gegeben hatte, woraufhin sie fristlos gekündigt worden war. Es waren vor allem die Vorgesetzten mit Schlips in der Verwaltung, deren sexistisches Verhalten und deren Sprüche sie prägnant kritisiert hatte. Die engagierte Betriebsrätin gewann den Rechtsstreit und wurde wieder­eingestellt.

Wie mehrere Betriebsräte war sie nach einem Ausschluss infolge der »Unvereinbarkeitsbeschlüsse« der DGB-Gewerkschaften in den siebziger Jahren wieder in die Industriegewerkschaft Druck und Papier aufgenommen worden. Dort hieß die entsprechende Regelung zwar »Abgrenzungsbeschluss«, aber es ging um das gleiche: den Ausschluss radikaler Linker, vor allem betrieblich aktiver Mitglieder von mao­istischen »K-Gruppen«.

Bei Warnstreiks in den Tarifrunden war Broschek immer dabei: Mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen – dafür stand eine Mehrheit der Beschäftigten ein. Wenn es nötig war, und das war es alle zwei bis drei Jahre, ließ sich die Belegschaft innerhalb weniger Stunden zum Warnstreik vor das Fabriktor am Bargkoppelweg 61 rufen, um einer ­Gewerkschaftsforderung Nachdruck zu verleihen. Ich habe im Drucksaal viel kollegiale Unterstützung erleben können.

Doch das Klassenbewusstsein beschränkte sich weitgehend auf die unmittelbaren Interessen, den Kampf für mehr Lohn und für einen starken Betriebsrat. Es gab Konkurrenzverhalten, es gab Sexismus und Rassismus; ein Kollege schwärmte davon, nach Südafrika auswandern zu wollen, das damals noch ein Apartheid-Staat war. Ein eigenes Haus zu bauen, war wichtiger als Politik. Diese Haltung war auch ein Ergebnis von Enttäuschungen, viele waren resigniert. Das Bestreben, sich als Klasse zu formieren, politisch zu handeln, und sei es »nur« beim Einsatz für eine kämpferische Gewerkschaft, war eher randständig.

Wenn es nötig war, und das war es alle zwei bis drei Jahre, ließ sich die Belegschaft innerhalb weniger Stunden zum Warnstreik vor das Fabriktor rufen.

Im kapitalintensiven Tiefdruck gab und gibt es bundesweit große Überkapazitäten. Seit 2005 hat wird die Branche weitgehend von zwei Konzernen dominiert. 2002 weitete sich die süddeutsche Schlott-Gruppe zum Konzern aus, gab Aktien aus und kaufte andere Betriebe auf, unter anderem Broschek. Als Konkurrent formierte sich Prinovis durch den Zusammenschluss von Tiefdruckereien der Konzerne Springer, Bertelsmann und Gruner & Jahr – der EU-weit größte Tiefdruckkonzern. Der folgende »brutale Preiskampf«, wie Martin Dieckmann, der langjährige Leiter des Fachbereichs Medien der Gewerkschaft Verdi in Hamburg, es im Gespräch mit der Jungle World nennt, führte 2011 zur Insolvenz der Schlott-Gruppe. Während sich für fünf süddeutsche Betriebe neue Besitzer fanden, wollte niemand die Hamburger Druckerei Broschek kaufen. In der Nacht vom 12. auf den 13. April 2011 wurden die Druckmaschinen ein letztes Mal runtergefahren.

Die Schrumpfung und der Konzentrationsprozess im Tiefdruck gehen weiter: Am 2. Mai 2014 verließ die letzte Schicht die Tiefdruckerei von Prinovis in Itzehoe. Anders als die Beschäftigten von Broschek konnte die dortige Belegschaft mit ihren in der Stadt breit unterstützten Aktionen immerhin einen guten Sozialplan erreichen. Auch in Hamburg gab es Solidaritätsaktionen von Beschäftigten aus Verlagen und Druckereien. Bei Broschek war das schwieriger, die unerwartete Insolvenz der gesamten Schlott-Gruppe ließ keinen Spielraum für Verhandlungen über einen Sozialplan. Die modernen Tiefdruckaggregate wurden bald an andere Druckereien verkauft. Das Gelände von Broschek liegt heutzutage brach, die Gebäude wurden voriges Jahr abgerissen.