Mordanschläge auf indigene Anführer in Kolumbien mehren sich

Kein Frieden für Indigene

In Kolumbien ist die Zahl der Morde an indigenen Aktivistinnen und Aktivisten seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der Regierung und der Guerillagruppe Farc stark gestiegen. Besonders gefährlich ist es im Cauca, wo Bodenschätze vermutet werden und viele bewaffnete Gruppen aktiv sind.

Feliciano Valencia ist im Norden des Cauca weithin bekannt. Der kleingewachsene, kräftige Mann mit dünnem Schnauzer, dem man seine 54 Jahre kaum ansieht, sitzt seit 2018 für die Alternative indigene und soziale Bewegung (MAIS) im Senat, dem Oberhaus des kolumbianischen Parlaments. Für seine pazifistische Form des Widerstands ist er mehrfach ausgezeichnet worden. Seit Beginn der achtziger Jahre hält er es mit den Lehren des Priesters Alberto Ulcué Chocué, der sich für den friedlichen Protest und die Landrechte der indigenen Minderheit einsetzte. Das hat dem katholischen Pfarrer, der 1984 von Auftragskillern ermordet wurde, in der Region von Toribío Verehrung eingebracht – nicht nur Valencia bekennt sich zu ihm.

Doch das fällt Valencia immer schwerer. »Sie töten uns«, schrieb er Anfang Dezember in einem Beitrag auf Twitter, der de facto ein Hilferuf war. Die Vielzahl der Gewalttaten, die sich in Kolumbien vor allem gegen soziale und poli­tische Aktivistinnen und Aktivisten richten, macht Valencia sprachlos, und immer häufiger werden Indigene zum Ziel des Terrors. Ende Oktober entkam Valencia nahe Toribío, im Norden des Cauca, nur knapp einem Attentat. Sein gepanzerter Wagen schützte den Senator vor den Kugeln.

Im Cauca ist rund ein Drittel der Bevölkerung indigener Herkunft. Valencia, der zur Ethnie der Nasa zählt, tritt dafür, dass indigene Minderheiten in Frieden und Würde leben können. Doch davon ist Kolumbien weit entfernt. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen der Regierung und der Guerillagruppe Farc (Fuerzas Arma­das Revolucionarias de Colombia) im November 2016 sind die indigenen Bevölkerungsgruppen verstärkt zum Ziel terroristischer Anschläge geworden. Nach Angaben des Studienzentrums für Frieden und Entwicklung (Indepaz) wurden zwischen November 2016 und dem 15. Dezember 2020 294 indigene Anführer und Anführerinnen ermordet. Überdurchschnittlich stark betroffen ist der Cauca, Kolumbiens mit Abstand gefährlichster Verwaltungsbezirk.

Dissidenten der Farc und Einheiten der ELN agieren im Norden des Cauca, ebenso paramilitärische Organisationen, aber auch etliche Drogenbanden. Das macht die Situation sehr unübersichtlich.

»Vor allem im Norden ist es extrem gefährlich«, sagt Jhoe Sauca, Koordinator für Menschenrechte und Landrechte des Rats der indigenen Völker des Cauca (CRIC). Dieser hat seinen Sitz im Zentrum von Popayán, der Hauptstadt der Region. Dort gehen die indi­genen Repräsentantinnen und Repräsentanten mit ihrem bastón, einem mit Silber beschlagenen und mit farbigen Bändern dekorierten Holzstock, der sie als líder, als Anführer der Gemeinde ausweist, ein und aus. Sauca ist einer von ihnen und hat auch den ­Protestmarsch gegen die Gewalt im Oktober mit vorbereitet. Da gingen Tausende Indigene gegen die omnipräsente Gewalt auf die Straße – von Cali aus marschierten sie nach Bogotá, um mit Präsident Iván Duque zu sprechen.

Doch der konservative Politiker, ein politischer Zögling des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez, weigerte sich, mit den Organisatoren des be­eindruckenden, bunten und friedlichen Protestzugs zu sprechen. Duque hatte bereits im Dezember 2019 einen Protestmarsch gegen die stetig steigende Zahl von gezielten Morden und Massakern ignoriert, der sich damals, angeführt von vielen Musikern auf mit Boxen bestücken Trucks, durch die Straßen Bogotás wälzte. Diskussionen über Ursachen, Gegenmaßnahmen oder langfristige Konzepte fehlten, kritisiert Sauca. »Unsere Rechte als Minderheit, als kollektive Landbesitzer, werden in Kolumbien immer wieder ignoriert, und wir sprechen schon länger von einem drohenden Genozid an den in­dige­nen Völkern«, so der 36jährige, der das Mikrophon ein wenig zur Seite schiebt.

Er sitzt im Studio des Radioprojekts des CRIC. Dieses verbreitet Infor­mationen aus indigener Perspektive, denn die Belange dieser Minderheit, die dem statistischen Amt Kolum­biens (DANE) zufolge rund 4,4 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung ­ausmacht, interessieren die kommerziellen Medien nur selten. Eigene Informationskanäle sind deshalb für Sauca und Jamil Sánchez, seinen Kollegen beim Radio, extrem wichtig. »Wir bauen unsere Präsenz aus, lassen uns von externen Fachleuten, darunter von der Deutschen Welle, beraten, und wollen zumindest auf lokaler Ebene für ein Gegengewicht sorgen«, so Sánchez. Er lädt Sauca immer mal wieder zum Interview ins Studio, die Aufnahmen werden dann den sechs indigenen Sendern im CRIC-Radionetzwerk zur Verfügung gestellt. Für Sauca ist das schon fast Routine. Seit 2018 koordiniert er die Menschenrechtsarbeit des CRIC, seitdem ist das Team von fünf auf mehr als 60 Personen angewachsen.

Die Aufklärungsarbeit kann jedoch nicht verhindern, dass die Zahl der Attentate schnell steigt. 2017, im ersten Jahr nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen den Farc und der kolumbianischen Regierung, wurden allein im Cauca zehn indigene ­Aktivisten und Aktivistinnen ermordet. »2018 waren es 21 und 2019 dann 68. Die Zahl der Attentate hat sich also mehr als verdreifacht«, sagt Sauca mit ruhiger Stimme.

Für 2020 fehlen noch die endgültigen Zahlen. Doch vieles deutet darauf hin, dass die Zahl der Opfer von Attentaten und Massakern wesentlich höher gewesen ist als im Vorjahr. Die Täter machten sich Ausgangssperre und Quaran­täne zunutze, die dafür sorgten, dass sie ihre Opfer zu Hause antrafen, melden Menschenrechtsorganisationen wie ­Indepaz. 91 Massaker mit jeweils mindestens drei Opfern und 309 gezielte Morde an sozialen und politischen ­Aktivisten und Aktivistinnen hat die ­Organisation 2020 registriert. Zwölf der Massaker wurden Indepaz zufolge im Cauca verübt, wo sich auch 97 der gezielten Morde ereigneten.

»Hier tickt eine Zeitbombe«, warnt Sauca, der die ausufernde Gewalt ebenso wie Feliciano Valencia verurteilt. Der indigene Politiker wurde nach eigenen Angaben am 6. Dezember von ­abtrünnigen Farc-Guerilleros »zum militärischen Ziel« erklärt. Dissidenten der Farc und Einheiten der linken Guerillagruppe Ejército de Liberación ­Nacional (ELN) agieren im Norden des Cauca, ebenso mehrere paramilitärische Organisationen, aber auch etliche Drogenbanden.

Das macht die Situation sehr unübersichtlich. Daran hat auch die Militari­sierung, das heißt die Verlegung von zusätzlichen Militäreinheiten in die Region ab November 2019, nichts geändert. Sauca überrascht das nicht, das Militär verfolge eine Strategie aus dem Bürgerkrieg: »Es geht nach wie vor ­darum, den inneren Feind, die Rebellen, aufzuspüren, nicht darum, Menschenrechte zu schützen und den Frieden zu implementieren.« Wie viele andere soziale, indigene, afrokolumbianische und bäuerliche Aktivistinnen und Aktivisten glaubt er, dass es der Armee um die strategische Kontrolle, nicht um Befriedung gehe: »Die Militärdoktrin ist nie angepasst worden und Indizien für die Kooperation zwischen Militärs und Paramilitärs gibt es aus Landesteilen wie dem Cauca oder dem Chocó.«

Sauca gehört der Ethnie der Kokonuko an, die mit Emisora Renacer einen ­eigenen Nachrichtensender im Dorf Puracé unterhält. Dort leben die Menschen am Fuße des Vulkans und Nationalparks Puracé vom nachhaltigen Tourismus und der Landwirtschaft. Vom Krieg, der im Norden mit großer Bru­talität geführt wird, ist in Puracé noch wenig zu spüren, berichtet der Radiomoderator José Muriá. »Hier gibt es noch keine Kämpfe um Wasser, Gold, Erdöl und andere natürliche Ressourcen. Allerdings kann das noch kommen«, meint der drahtige Mann am Mikrophon, der gerade eine kurze Pause macht und ein paar Musikstücke laufen lässt. Über den Rohstoffreichtum rund um den Vulkan Puracé und den Páramo, ein unter Naturschutz stehendes Feuchtgebiet im Hochland, mehr als 3 000 Meter über dem Meeresspiegel, gebe es viele Gerüchte, so Muriá. »Hier ist alles verkäuflich, auch die Natur, von der wir leben.« Das ist eine Position, die indigene Bevölkerungsgruppen nicht nur im Cauca oft einnehmen: Sie verteidigen Regionen, in denen, wie im Páramo von Puracé, Flüsse entspringen, die große Teile des Landes mit Wasser versorgen.

»Die Zahl der Morde an Frauen steigt überproportional stark. Vieles deutet darauf hin, dass dahinter System steckt.« Jakeline Romero, Mitarbeiterin der NGO Fuerza de Mujer Wayuu

Im Norden des Cauca sollen paramilitärische Banden im Auftrag von Konzernen ganze Regionen entvölkern, in denen Rohstoffvorkommen vermutet werden. Darüber hinaus verlaufen im Norden mehrere Drogenschmuggelrouten, um deren Kontrolle paramilitärische Gruppen, aber auch Guerilleros der ELN und Dissidenten der Farc kämpfen. Auch das mexikanische Sinaloa-Kartell soll im Cauca präsent sein, ebenso wie etliche weitere kriminelle Banden. Das mache die Situation so unübersichtlich und gefährlich, erklärt Sauca, nachdem er sein Dorf vorgestellt hat.

Die Recherchen von Menschenrechtsorganisationen wie der Kolumbianischen Juristenkommission (CCJ) oder »Wir sind Verteidiger« (Somos Defen­sores) bestätigen diese Informationen. Die permanente Bedrohung, der die ­indigenen Bevölkerungsgruppen im Cauca, aber auch in anderen Regionen Kolumbiens ausgesetzt sind, schadet den Gemeinden erheblich. Es kommt vor, dass lokale Anführerinnen und Anführer sich aus Angst vor Anschlägen nicht mehr mit ihrem bastón vor die Tür trauen. »Jeder Tote und jede Tote sorgen auch für eine Schwächung un­serer internen Strukturen«, sagt Sauca.

Neu ist, dass die Bewaffneten immer öfter Frauen angreifen. »Ein Grund ­dafür ist es, dass Frauen innerhalb des CRIC wichtiger als früher sind. Das ist positiv, aber die Bewaffneten haben keinerlei Skrupel, gegen Frauen vorzugehen«, sagt Roseli Finscue Chavaco, eine Frauenrechtlerin im CRIC, die ein paar Räume weiter ihr Büro hat und mit Sauca immer mal wieder zusammenarbeitet. Gewalt gegen Frauen ist im Cauca ohnehin ein gravierendes Problem. 2019 wurden dort offiziell 64 Morde an Frauen registriert, neun davon an Indigenen und etwa die Hälfte aus ­politischen Motiven. »Vor allem die politisch aktiven indigenen Frauen sind zum Ziel der Bewaffneten geworden. Früher gab es Morddrohungen und Vertreibungen, aber selten direkte Angriffe. Das hat sich geändert«, so die 39jährige.

Auch in anderen Regionen Kolumbiens richteten sich Morddrohungen, Mordanschläge und Vertrei­bungen überproportional gegen die indigenen Bevölkerungsgruppen, kritisiert der Dachverband Organización ­Nacional Indígena de Colombia (ONIC), und alle Statis­tiken bestätigen das. Seit dem 24. November 2016 sind mehr als 1 000 soziale Ak­tivistinnen und ­Aktivisten Opfer von Mordanschlägen geworden; mit knapp 300 ist der Anteil der indigenen Ermordeten etwa siebenmal so hoch wie der indigene Bevölkerungsanteil insgesamt. Besonders gefährlich ist die Situation dort, wo bewaffnete Gruppen um die Kontrolle der Region kämpfen und wo sich in­di­gene Organisationen für ihre Rechte engagieren, so wie im Cauca. Dort wurden von den 2020 landesweit 309 ermordeten Anführerinnen und An­füh­rern 97 beerdigt. Doch auch anderswo, im Chocó, in Antioquía und der im Nordwesten an der Grenze zu Vene­zuela gelegenen Region La Guajira, ist die Lage ernst.

In Letzterer arbeitet Jakeline Romero für die Frauenorganisation Fuerza de Mujer Wayuu. Sie engagiert sich für Frauen- und Umweltrechte sowie für die Grundrechte der Wayuu, einer rund 300 000 Menschen zählenden Bevölkerungsgruppe, die fast ausschließlich in La Guajira lebt. Ihre Arbeit ist gefährlich. Die 44jährige wurde wiederholt bedroht, vieles deutet darauf hin, dass paramilitärische Gruppen die Urheber sind. Anders als viele indigene Repräsentantinnen und Repräsentanten im Cauca hat sie zwei Bodyguards von der Nationalen Schutzeinheit (UNP) zugeteilt bekommen. Das ist ein Sonderfall, der wahrscheinlich viel damit zu tun hat, dass Romeros Organisation auch international bekannt ist. Meist erhalten indigene Aktivisten, die nachweislich bedroht werden, nicht viel mehr als eine schusssichere Weste, ein Telefon und einen Panikknopf, mit dem Hilfe herbeigerufen werden soll.

Das ist nicht viel angesichts der realen Gefahr. »Die Zahl der Morde steigt und die der Morde an Frauen steigt überproportional stark. Vieles deutet darauf hin, dass dahinter System steckt, ob im Cauca, in Putumayo, Chocó oder Ama­zonia«, meint Jakeline Romero. Sie plädiert für die Implementierung des Friedensabkommens und weiß, dass das in Kolumbien mit persönlichem Risiko verbunden sein kann. »Die Nächste könnte ich sein«, sagt sie und steigt in den Pickup ein, der sie in die Wayuu-Gemeinde Provincial nahe ihrer Herkunftsstadt Barrancas bringt. Provincial hat mit Klagen gegen die kohlefördernde Mine Cerrejón auf sich aufmerksam gemacht. Romero bewertet das positiv, allerdings weiß sie genau, dass damit auch Risiken einhergehen.