Das Filmfestival »Woche der Kritik« startet in Berlin

Lauter Fragen

Auf der in Berlin stattfindenden siebten Ausgabe des Filmfestivals »Woche der Kritik« soll über politische Haltungen und konsequentes Handeln diskutiert werden. Nur das Kino bleibt inkonsequent und verweigert Antworten.

Eine Frage, die einem in unsicheren Zeiten wie diesen schon mal in den Sinn kommen kann: »Diese Sache, von der wir nicht wissen, was es ist, woher kommt sie?« In Phillip Warnells Film »Intimate Distances« (2020) wird sie von einer älteren Frau gestellt, die auf den Straßen des New Yorker Stadtteils Queens fremde Männer anspricht, um sie in quasitherapeutische Gespräche zu verwickeln.

Der Film durchmisst das prekäre Spannungsfeld von Abstand und Nähe, anonymer Großstadt und Bekenntnisraum im Modus des Überwachungsthrillers. Totalen wechseln mit extremen Zooms, ein Ansteck­mikrophon rückt die von einem Hausdach gefilmten Begegnungen in unmittelbare Hörweite. »Hi, my name is Martha. How are you?« fragt die Frau, bevor sie den netten Plausch auf unerwartete biographische Weggabelungen und dunkle Orte in der Psyche lenkt.

Die Umschreibung »Sachen, von denen wir nicht wissen, was sie sind und woher sie kommen« trifft auf eine ganze Reihe von Filmen des Programms zu.

Warnell lässt die hinter der Aufzeichnungssituation stehende Vereinbarung im Unklaren. Die Protago­nistin, ebenso wie ihr Gegenüber dem voyeuristischen Blick ausgesetzt, wirkt mit ihr komplizenhaft verbunden. Sie gibt Handzeichen und kommuniziert mittels eingeblendeter Textnachrichten, parallel dazu ist die emotionslose Stimme eines ehe­maligen Häftlings zu hören, der von seiner Erziehung, der Zeit im Knast und dem Leben auf Bewährung erzählt. Im Laufe des Films addieren sich die unzähligen Beobachtungsmomente immer mehr zu einem ­paranoiden Plot: Jedes Zeichen könnte etwas bedeuten.

Die die Fragen stellende Martha ist Martha Wollner, Casterin seit mehr als 25 Jahren und spezialisiert auf real people stories; sie arbeitete mit den Dokumentaristen Albert und David Maysles zusammen. In Warnells Film könnte sie die Akteurin einer Versuchsanordnung zu Blickpolitiken und der Verstrickung von Casting und (Racial) Profiling sein – bei den angesprochenen Passanten handelt es sich ausschließlich um nichtweiße Männer. Oder ist sie tatsächlich auf der Suche nach einem Darsteller für die Rolle des Kriminellen aus der berichteten Geschichte?

Zu sehen ist der gleichermaßen interessante wie unbehagliche Film nun im Rahmen der siebten »Woche der Kritik« in Berlin. Anders als beim ersten Teil der Berlinale, der Anfang März unter Ausschluss der Öffentlichkeit als Branchen-Event stattfindet, steht deren Filmprogramm vom 27. Februar bis 7. März deutschlandweit per Stream zur Verfügung, die begleitenden Debatten und »Streitgespräche« werden live übertragen. Die Titel dieser Debatten bewegen sich wie üblich zwischen Diskursnähe und leicht Verrätseltem: »Vom Suchen und Finden des Kinos«, »Der große Bluff«, »Übererkennung«. Wie gut sich das Konzept – konfrontiert werden jeweils ein kürzerer und ein längerer Film, über den anschließend gesprochen wird – in den digitalen Raum übertragen lässt, wird sich zeigen.

Unter dem Titel »Konsequentes Handeln, inkonsequentes Kino« ­beschäftigt sich die am letzten Februarwochenende stattfindende Konferenz mit der Frage: »Wie lässt sich Haltung zeigen?« Themen der Vorträge und Gespräche werden unter anderem die gegenseitige Herausforderung von Kunst und Kritik sein wie auch konkrete Möglichkeiten künstlerischer Positionierungen im gesellschaftlichen Spannungsfeld der USA. Zu den Gästen zählen unter anderem die US-amerikanische Kulturtheoretikerin B. Ruby Rich, der afroamerikanische Künstler Kevin Jerome Everson, der Filmemacher Philip Scheffner, die Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Dramaturgin Merle Kröger und die Philosophin Juliane Rebentisch.

Die Umschreibung »Sachen, von denen wir nicht wissen, was sie sind und woher sie kommen« trifft auf eine ganze Reihe von Filmen des Programms zu. Der palästinensische Filmemacher Kamal Aljafari hat nach dem Tod seines Vaters alte Video­bänder einer Überwachungskamera gefunden, die dieser vor dem Haus installiert hatte, um dem Geheimnis eingeschlagener Auto­scheiben nachzugehen. »An ­Un­usual Summer« (2020) ist ausschließlich aus diesen Aufnahmen montiert. Aljafari mischt die Who­dunit-Erzählung mit dem fragmentarischen Porträt eines arabischen Viertels im israelischen Ramla und dem filmischen Experiment. Die schlecht aufgelösten Bilder bewegen sich an der Grenze des Erkennbaren, dabei entfalten gerade die pixeligen Flächen, flirrenden Farbverläufe und das Flimmern eine rätselhafte Magie.

Mysteriös sind auch die Ereignisse in »Fauna« (2020). Der mexikanische Filmemacher Nicolás Pereda, der schon seit einigen Jahren mit seinen elliptischen Werken durch die Filmfestivalwelt tourt, erzählt eine verschachtelte Geschichte, in der die Akteure und Akteurinnen jeweils in mehreren Rollen auftreten. Hintergrund des zwischen Komödie und Noir oszillierenden Films ist die Schauspielerei beziehungsweise das (Männlichkeits-)Bild, das durch ­populäre Film- und Fernsehfiguren wie den »Narco« verbreitet wird und an kulturellen Stereotypen mitschreibt.

Was passiert, wenn ganze Horden von Schauspielerinnen auf die Realitäten eines Castings stoßen, zeigt Sion Sono in »Red Post on Escher Street« (2020). Der japanische Regisseur reflektiert in diesem mal me­lancholischen, mal schrillen Manifest für alle Nebendarstellerinnen dieser Welt auch seine eigene Rolle innerhalb der Filmindustrie.

Eingang in einige Filme findet aber auch das »Mehr-als-Menschliche«, wie die Biologin und Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway die Entgrenzung der Arten nennt. In Camille de Chenays »A Museum Sleeps« (2020) sickern der Magische Realismus und speziell die Bilder des symbolistischen Malers Gustave Moreau so tief in die Geschichte ein, dass sogar Bäume miteinander sprechen. Die Bilder sind ausschnitthaft, fragmentarisch und werden zu einer collageartigen Erzählung komponiert; schade nur, dass de Chenays Phantasie einer amour fou weit weniger originell ausfällt.

In dem Film »Horse Tail« (2020) des indischen Regie-Duos Manoj ­Leonel Jahson und Shyam Sunder ist der Surrealismus bunt und über­bordend. Der Protagonist, ein alkohol­abhängiger Bankangestellter, erwacht eines Morgens mit einem Pferdeschweif. Aber nicht nur das: Das Ding führt ein Eigenleben, ploppt aus der Jeanshose und wedelt bei jedem Gedanken so wild umher, dass die Bewegungen eine bizarre Choreographie ergeben. Auch erzählerisch und ästhetisch lässt sich »Horse Tail« nicht bändigen. Grelle Farben, gekippte Kameraperspektiven und Räume mit psychedelisch gemusterte Tapeten geben einem das Gefühl, sich durch wahrnehmungsgestörte Virtual-Reality-Welten zu bewegen. Es taucht auch eine Frau mit verbranntem Ohr auf und ein Pferd ohne Schweif; es geht außerdem um Träume, Freud und Mathematik.

Mit dem in matten Schwarzweißbildern gedrehten »Watch Over Me« (2020) von Farida Pacha steht außerdem ein Dokumentarfilm auf dem Programm, der den Sterbeprozess wieder mehr in die öffentliche Wahrnehmung rücken will. Er befasst sich mit ethischen Fragen im Umgang mit dem Leiden wie mit dem Betrachten desselben. Pacha begleitet Mani, Sini und Dr. Reena bei ihrer Arbeit in einer palliativen Pflegeorganisation in Neu-Delhi, dabei kommt die Kamera den sterbenden Menschen extrem nahe. Ein Teil der Arbeit der Pflegekräfte besteht darin, den Angehörigen begreifbar zu machen, dass ihr Wunsch, den geliebten Menschen noch länger um sich zu haben, dessen Qual nur verlängert. »Watch Over Me« ist ein Film, der alle etwas angeht.

Die siebte »Woche der Kritik« findet vom 27. Februar bis 7. März in Berlin statt.