Der Streit über die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht

Bahnbrechende Banalität

Die Farce um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht zeigt, dass die postmoderne Identitätspolitik dabei ist, sich selbst zu zerlegen.

Die Vorstellung, dass ­anlässlich der Amtseinführung Donald Trumps ein Nachwuchslyriker ein Gedicht ­vorgetragen hätte, mag abwegig sein. Trotzdem lässt sie sich für ein paar Augenblicke fortspinnen. Egal, ob es sich um einen republikanischen Schwarzen oder eine latinostämmige Harvard-Studentin gehandelt hätte, die Medien, von CNN bis Süddeutsche Zeitung, hätten dem Ereignis sauertöpfische Kommentare gewidmet. Je nachdem, ob der Inaugurationspoet einer von akademischen Linken mit Verachtung angesehenen Gruppe (alt, weiß, männlich, heterosexuell) oder einer unter Kulturschutz fallenden Minderheit (POC, weiblich, queer) angehört hätte, wäre die Beurteilung des Kunstmissbrauchs un­terschiedlich ausgefallen. Leicht wäre es gewesen, den typischen Trump-Fan als Kulturbanausen bloßzustellen. Der minoritär-diverse Trump-Bewunderer hingegen (auch solche gibt es) wäre wohl als bedauernswerte Kreatur dargestellt worden, die sich durch Naivität vom richtigen Weg habe abbringen lassen.

Ein Literaturbetrieb, der über die Frage, wer am besten geeignet ist, Gedichte zu übersetzen, monatelange Diskussionen führt, stellt damit eines unter Beweis: dass ihm das Objekt seiner Arbeit abhanden gekommen ist.

Tatsächlich wurde bei Trumps Amtseinführung kein Gedicht vorgetragen. Von der Möglichkeit, die In­auguration durch einen Poeten begleiten zu lassen, haben bislang nur Präsidenten aus der Demokratischen Partei Gebrauch gemacht. Geschmack bewies John F. Kennedy, der 1961, als zum ersten Mal ein inaugural poet die Feierlichkeiten zur Amtseinführung begleitete, den Pulitzer-Preisträger Robert Frost um ein Gedicht bat. Zwar widmen sich Frosts Gedichte Facetten der amerikanischen Landschaft, doch ihrer Form nach tendieren sie zum Symbolismus und greifen Traditionen der französischen und englischen Lyrik der Moderne auf. Amanda Gorman, die durch ihr bei der Amtseinführung Joe Bidens vorgetragenes Gedicht »The Hill We Climb« bekannt wurde und der sechste inaugural poet seit Frost ist (Bill Clinton und Barack Obama ließen ihre Inaugurationen jeweils zweimal von Dichtern begleiten), ist zu jung, als dass ein Urteil über ihre literarische Entwicklung statthaft wäre. Doch obwohl »The Hill We Climb« ein nicht mal mittelmäßiges Gebrauchsgedicht ist, kann Bidens Entscheidung, sie zur Inauguralpoetin zu ernennen, nur symptomatisch verstanden werden: als Bekenntnis zu einem partikularistischen Kulturbegriff, der die Identitäten und Ethnien ­addiert und jede in sich selber einschließt.

Der 1885 geborene Frost konnte sich seinen Wunsch, in Harvard zu studieren, wegen Geldmangels nicht erfüllen und schlug sich als Zeitungsausträger und Fabrikar­beiter durch. Sein Studium am Dartmouth College in New Hampshire brach er ab, um seine Familie zu unterstützen. 1912 wanderte er nach Großbritannien aus. Gorman, die aus einer afroamerikanischen Familie stammt, konnte anders als Frost in Harvard studieren und machte einen Abschluss in Soziologie. Schon 2015 hatte sie im Alter von 17 Jahren ihren ersten Gedichtband veröffentlicht. Zwei Jahre später wurde sie von der Dichtervereinigung Urban World und der Library of Congress zur ersten »National Youth Poet Laureate« ernannt. Frosts Verbindung von Regionalbezug und Kosmopolitismus charakterisiert in ähnlichen Konstellationen auch die Werke ­William Faulkners, William Carlos Williams’, Ernest Hemingways, John Steinbecks und anderer an der europäischen Moderne geschulter Autoren. Gormans Gedichte hingegen sind den Creative-Writing-Kursen ihrer Universität entsprungen. Wie Gorman ihre Arbeit am Inaugurationsgedicht gegenüber CNN beschrieb, ist ein Echo dieser Schreibkurse, in denen die Arbeit an literarischen Texten als beliebig abrufbare Kompetenz erlernt wird: »Recherche« in den Reden Abraham Lincolns, Musicals und Freiheitsliedern wird ergänzt mit »Inspiration« durch Leseeindrücke, die als Element von Spontaneität die Anwendung der im Seminar erlernten Techniken komplettiert.

Vor allem aber, teilte Gorman mit, helfe es ihr, vor jedem öffentlichen Auftritt ein Mantra zu rezitieren: »Ich bin die Tochter von schwarzen Schriftstellern. Wir stammen von Freiheitskämpfern ab, die Ketten durchbrochen haben, um die Welt zu ver­ändern. Sie rufen mich.« Das ist Gormans Genealogie: nicht die einer Geographie oder eines Idioms, sondern die einer über ethnische Zugehörigkeit begründeten Ahnenreihe.

Genau solche Ahnenforschung ­bestimmt nun auch den Streit um die Übersetzung von Gormans in den Medien als »Werk« bezeichneten Text. In den Niederlanden sollte das »bahnbrechende Gedicht« durch die »junge weiße Autorin« Marieke ­Lucas Rijneveld übersetzt werden, berichtete der Bayerische Rundfunk (BR) und schloss an die Meldung nicht etwa eine Diskussion darüber an, was an einem pathetisch-staatstragenden Inaugurationspoem, das per se zur Rubrik »Repräsentationslite­ratur«, also zur Sparte heteronomer Auftragsdichtung gehört, »bahnbrechend« sein soll. Vielmehr wurde anknüpfend an eine von dem »Frankfurter Lyrik-Experten« respektive Literaturwissenschaftler Christian Metz initiierte Kontroverse darüber, inwiefern Übersetzung »Aneignung« sei, empfindelnd geraunt: »Demnach ist es also keineswegs unerheblich, welche Hautfarbe eine Übersetzerin hat. Womöglich kann sich eine weiße Autorin in den Text einer Schwarzen einfühlen, aber darf sie sich diesen Text auch aneignen?«

Der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe, so spann der BR die rhetorische Frage fort, habe es besser als das Ausland gemacht, indem er mit der Übersetzung des Gedichts unproblematische Personen beauftragt habe, nämlich »die Hamburger Netz-Aktivistin und Deutsch-Türkin Kübra Gümüsay, die schwarze Politologin Hadija Haruna-Oelker, die auch in der ›Initiative schwarze Menschen in Deutschland‹ aktiv ist, und die auf amerikanische Literatur spezialisierte Literaturwissenschaftlerin Uda Strätling«. Dieser Identitätscombo, bestehend aus einer schwarzen Akademikerin, einer deutschen Amerikanistin und einer Deutsch-Türkin, soll es im Kollektiv gelingen, sich in Gormans Verse »einzufühlen«. Die Deutsch-Türkin hat mit Gorman zwar selbst unter identitätspolitischen Prämissen nichts gemein, passt aber ideologisch gut ins Programm. Warum es einer ganzen Arbeitsgruppe bedarf, um ein Gedicht zu übersetzen, das schon im Original nicht besonders kompliziert zu verstehen ist, bleibt das Geheimnis des Verlags. Selbst in dessen Öffentlichkeitsab­teilung müsste es eigentlich noch Leute geben, die sich daran erinnern, dass früher einmal Eva Moldenhauer im identitätspolitisch unkorrekten Alleingang Claude Simon übertragen hat, und dass Klaus Reichert, der in unübertroffener Weise das im Grunde unübersetzbare Werk von Lewis Carroll ebenso wie James Joyces »Fin­negan’s Wake« ins Deutsche überführte, dies nicht dank seiner Fähigkeiten als weißer Mann, sondern als für sprachliche Nuancen sensibler Anglist tat.

Doch bei diesen Beispielen handelt es sich um Weltliteratur, also um eine Sphäre, in die zwar Robert Frost gehört (den Paul Celan ins Deutsche übertrug), aber nicht Amanda Gorman, von deren Gedicht, wie bei Poptexten üblich, längst deutsche Übersetzungen im Netz kursieren, ohne dass es PR-trainierten Literaturexperten, die statt über den Gegenstand ihrer Arbeit nur über Identitäten, Sprechorte und Herkünfte zu reden gelernt haben, überhaupt aufgefallen wäre. Ein Literaturbetrieb, der über die Frage, wer am besten geeignet ist, Gedichte zu übersetzen, monatelange Diskussionen führt, stellt damit eines unter Beweis: dass ihm das Objekt seiner Arbeit abhanden gekommen ist, weil seine Angestellten verlernt haben, an den Gegenständen, mit denen sie sich beschäftigen, spezifische Erfahrungen zu machen. Mit dieser Unfähigkeit gesteht die Identitätspolitik ihre ei­gene Banalität ein: Sie ist unfähig, irgendetwas zur Erkenntnis der Objekte beizutragen, mit denen sie sich beschäftigt, und kann deshalb statt Gegenstand von Kritik nur Gegenstand von Erledigung sein.