In Nordirland kommt es zu Ausschreitungen von Loyalisten

Riots in Belfast

Seit Ende März kommt es in Nordirland zu Ausschreitungen. Vor allem protestantische Jugendliche sind daran beteiligt; loyalistische paramilitärische Verbände werden als Drahtzieher vermutet.

Die Demonstrationen und Ausschreitungen in Belfast und anderen nordirischen Städten seit Ende März haben in den vergangenen Tagen neue Ausma­ße erreicht: Protestierende warfen Molotowcocktails und zündeten Autos und Busse an; insgesamt wurden fast 100 Polizisten verletzt. Die Polizei setzte zum ersten Mal seit sechs Jahren Wasserwerfer ein, deren Verwendung nur in Nordirland, nicht in anderen Landesteilen des Vereinigten Königreichs zulässig ist. Dutzende Protestierende wurden festgenommen. Verantwortlich für die Ausschreitungen sind nach ­Polizeiangaben Jugendliche und Kinder aus protestantischen, England treuen, sozial benachteiligten Stadtteilen, die jüngsten seien zwölf Jahre alt. Doch auch einige katholische Kinder aus pro­irischen Orten sollen an der Randale beteiligt gewesen sein.

Begonnen hatten die Ausschreitungen am 29. März in Derry wegen einer umstrittenen Entscheidung der Staatsanwaltschaft Nordirlands. Diese hatte die Ermittlungen gegen führende Po­litiker der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin eingestellt, darunter die stellvertretende Erste Ministerin Nordirlands, Michelle O’Neill. Im Juni 2020 hatten Mitglieder der Partei an der Beerdigung Bobby Storeys, eines wichtigen Funktionärs der IRA, teilgenommen. 2 00 Menschen waren gekommen und hatten damit gegen eine Vorschrift verstoßen, die Begräbnisse wegen der Covid-19-Pandemie auf maximal 30 Teilnehmer beschränkt. Die Polizei hatte das Begräbnis nicht unterbrochen und keine Anzeigen erstattet. In anderen Fällen wurden die Pandemiemaßnahmen dagegen durchgesetzt.

Auch die etablierten Parteien der probritischen Loyalisten und Unionisten, allen voran die regierende Democratic Unionist Party (DUP), warfen Polizei und Staatsanwaltschaft vor, mit zweierlei Maß zu messen, und forderten den Rücktritt des Leiters der nordirischen Polizei PSNI (Police Service of Northern Ireland). Der DUP, deren Vorsitzende Arlene Foster Erste Ministerin der nord­irischen Regierung ist, geht es bei der Kritik an der Polizei vor allem darum, ihrer sinkenden Popularität unter Protestanten entgegenzuwirken. Im kommenden Jahr finden Wahlen zur Nordirland-Versammlung statt, und derzeit sieht es aus, als würde die DUP so viele Stimmen an andere protestantische Parteien verlieren, dass Sinn Féin stärkste Kraft werden könnte. Sie könnte somit zum ersten Mal in der nord­irischen Geschichte eine Regierung anführen; an der Regierung beteiligt wäre die stärkste protestantische Partei nach den Regelungen des Friedensvertrags ohnehin.

Der Grund für die schwindende Popularität der DUP ist nicht zuletzt, dass sie für das Nordirland-Protokoll des Austrittsvertrags zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU mitverantwortlich gemacht wird. Das Protokoll ist zudem einer der Hauptgründe der gegenwärtigen Unruhen. Die DUP hatte den EU-Austritt unterstützt und ab 2017 Theresa Mays konservative Minderheitsregierung in London mitgetragen; somit war die DUP in die Austrittsverhandlungen involviert. Doch der Austrittsvertrag, der erst zustande kam, nachdem Boris Johnson, Mays Nachfolger im Amt des Premierministers, 2019 eine Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland akzeptiert hatte, hat Nordirland wirtschaftlich stärker an die Republik Irland gebunden, auf Kosten der Anbindung an Großbritannien. Johnson hat das den Loyalisten nie voll eingestanden und tönt bis heute, dass das Nordirland-Protokoll keine Handelseinschränkungen mit sich bringe. Seit Januar ist klar, dass es in der Tat einige materielle Ver­änderungen bedeutet. Viele Protestanten fühlen sich verraten.

Ein weiterer Grund für die Ausschreitungen könnte das stärkere Vorgehen der nordirischen Polizei gegen den Drogenhandel sein. Lokale Ableger der ­loyalistischen paramilitärischen Verbände Ulster Defence Association (UDA) und Ulster Volunteer Force (UVF) sind in diesen verwickelt. Einige poli­tische Beobachter in Nordirland sehen in ihnen die Drahtzieher hinter den Ausschreitungen. Die Verbände verfolgen mit den Protesten demnach auch eigene ökonomische Interessen.

Die Ausschreitungen haben weltweit Reaktionen ausgelöst. Was vielen Be­obachtern besondere Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass viele Kinder und ­Jugendliche an den Unruhen beteiligt sind. Man fürchtet, dass sich in einer Generation, die nach dem Friedensabkommen aufgewachsen ist, ein neues Gewaltpotential bildet.

Der Konflikt hat jenseits der religiösen Zugehörigkeiten eine starke Klassendimension. Für die nordirische Mittelschicht spielt der alte Konflikt eine immer kleinere Rolle: Vielen ist es letztlich egal, ob Nordirland zur Republik Irland oder zum Vereinigten Königreich gehört. Doch für viele Menschen in den armen Vierteln, von denen in den vergangenen Wochen die Unruhen ausgingen, bleiben Fragen der Religion und Zugehörigkeit zentral.