Mit der Coronakrise in Indien wird der Streit um Impfstoffpatente heftiger

Indiens großes Desaster

Die zweite Welle der Covid-19-Pandemie hat in Indien dramatische Aus­­maße angenommen. Unter anderem die USA und die EU haben Hilfslie­ferungen angekündigt. Doch verschärfte sich mit der Krise in Indien auch der Streit um Impfstoffpatente.

Noch im Januar brüstete sich Indiens Premierminister Narendra Modi beim World Economic Forum damit, wie vorbildlich seine Regierung die Covid-19-Pandemie eingedämmt und damit »die Menschheit vor einem großen Desaster gerettet« habe. Schließlich mache Indien mit seiner Bevölkerung von rund 1,4 Milliarden 18 Prozent der Weltbevölkerung aus. Doch seit April erlebt das Land eine zweite Welle. Es ist der bisher wohl schwerste Covid-19-Ausbruch weltweit. Das Gesundheitssystem steht im gesamten Land vor dem Kollaps. Bilder von überfüllten Krematorien gingen um die Welt. Zahlreiche Menschen versuchten verzweifelt, über das Internet an Sauerstoff und Krankenhausplätze zu gelangen.

Mitte April genehmigte die indische Regierung das Hindu-Fest Kumbh Mela, bei dem sich über Wochen hinweg Hunderttausende Menschen am Ganges versammelten.

Am Mittwoch voriger Woche überschritt Indien die Marke von 200 000 registrierten Covid-19-Toten. An diesem Tag wurden 379 308 Neuinfektionen gemeldet. Es gilt jedoch als gesichert, dass die offiziellen Zahlen das tatsächliche Infektionsgeschehen kaum abbilden. Das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) an der University of Washington (USA) kam zu der Einschätzung, dass in Indien nur etwa fünf Prozent aller Fälle durch Tests erfasst werden. Sollte das stimmen, müssten die offiziellen Zahlen also mit 20 multipliziert werden; dann gäbe es täglich mehr als sechs Millionen neue Covid-19-Ansteckungen. Das IHME erwartet zudem, dass die derzeitige Welle erst am 16. Mai ihren Höhepunkt erreichen werde. Bis dahin sei mit weiteren 200 000 Covid-19-Toten zu rechnen. Als die zweite Welle begann, spielte die indische Regierung die Gefahr herunter. Gesundheitsminister Shripad Yesso Naik sagte noch im März, Indien befinde sich bereits im »Endspiel« der Covid-19-Pandemie. Mitte April genehmigte die Regierung das Hindu-Fest Kumbh Mela, bei dem sich über Wochen hinweg Hunderttausende Menschen am Ganges versammelten. Als die Katastrophe gegen Ende des Monats nicht mehr zu leugnen war, zwang die Regierung Facebook, Twitter und Instagram, kritische Posts von prominenten Politikern und Medien zu löschen. Yogi Adityanath, der Regierungschef der bevölkerungsreichen Provinz Uttar Pradesh, der als hindunationalistischer Hardliner gilt, drohte, gegen »antisoziale Elemente« vorzugehen, die im Internet »Gerüchte« verbreiteten, dass die Krankenhäuser überlastet seien.

Im vergangenen Jahr hatte Indien die erste Welle der Pandemie durch einen der strengsten Lockdowns der Welt eingedämmt. Damals waren Hunderttausende Wanderarbeiter in den Städten oder auf dem Land gestrandet und konnten sich im Lockdown kaum mit dem Notwendigsten versorgen. Viele von ihnen sind deshalb bei Beginn der zweiten Welle aus Angst vor einem weiteren Lockdown zurück aufs Land zu ihren Familien gereist, was die Verbreitung des Virus befördert haben könnte. In den ländlichen Gebieten ist die medizinische Versorgungslage noch schlechter als in den großen Städten.

Verschiedene Länder haben inzwischen Hilfslieferungen angekündigt, darunter Großbritannien und mehrere EU-Staaten sowie die EU-Kommission. Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten Joe Biden, teilte mit, man werde Fachleute und medizinische Güter nach Indien schicken. Zuvor war es zu Spannungen ­zwischen Indien und den USA gekommen. Ein Sprecher des US-Außenministeriums hatte auf die Frage, ob die USA der Bitte Indiens nachkommen würden, für die Herstellung von Impfstoffen benötigte Grundstoffe zu liefern, geantwortet, die USA würden »zuerst und vor allem« versuchen, »das amerikanische Volk zu impfen«.

Die USA hatten seit Monaten die Politik verfolgt, weder Impfstoffe noch Grundstoffe für deren Herstellung an andere Länder zu liefern. Dies hatte in Indien Empörung ausgelöst. Sogar Adar Poonawalla, der Geschäftsführer des größten Impfherstellers der Welt, des Serum Institute India, bat die USA auf Twitter darum, den Export von für die Impfstoffherstellung benötigten Rohstoffen zu ermöglichen. Dieser Bitte sind die USA inzwischen nachgekommen.

Außerdem will die US-Regierung Finanzmittel zur Verfügung stellen, damit Indien die Produktion von Impfstoffen gegen Covid-19 ausweiten kann. Auch kündigte die US-Regierung an, erstmals bis zu 60 Millionen Dosen des Impfstoffs Astra-Zeneca zu exportieren, der in den USA noch nicht zugelassen ist. Bisher hatten die USA den Impfstoff nur in kleinen Mengen an Kanada und Mexiko geliefert.

Nach Berechnungen der Washington Post sind bisher 48 Prozent der weltweit verabreichten Impfdosen an jene 16 Prozent der Weltbevölkerung gegangen, die in von der Weltbank als wohlhabend eingestuften Ländern ­leben. Die reichen Länder dürften schon bald mehr als genug Impfstoff haben. In der EU geht man davon aus, dass bis Ende Juli 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sein werden. In den USA könnten Ende Juli sogar schon 300 Millionen überzählige Impfdosen zur Verfügung stehen.

Damit stellt sich umso dringender die Frage, wie die globale Verteilung von Impfstoff zukünftig ablaufen wird. Angesichts der chinesischen Impfdiplomatie ist das auch eine machtpolitische Frage. Nach Joe Bidens Amtsantritt sind die USA der Covax-Allianz beigetreten, die ärmere Länder mit Impfstoff versorgen soll. Die USA planen gemeinsam mit Australien, Japan und Indien, in Asien bis Ende 2022 eine Milliarde Dosen Impfstoff zu verteilen.

Ein Großteil davon sollte wohl aus Indien kommen. Das Land ist der größte Impfstoffhersteller der Welt und hatte ursprünglich geplant, große Mengen verschiedener Covid-19-Impfstoffe in die ganze Welt zu liefern. Doch bislang sind erst weniger als zwei Prozent der indischen Bevölkerung vollständig geimpft worden. Als die zweite Welle der Pandemie Indien traf, verhängte das Land einen Exportstopp für Covid-19-Impfstoffe. Die dadurch in Asien entstandene Versorgungslücke versucht nun China zu schließen. Ende April versprach der chinesische Außenminister Wang Yi verschiedenen asiatischen Ländern »diversifiziertere und stabilere« Impfstofflieferungen.

Indiens Exportstopp trifft vor allem die Covax-Allianz und damit die armen Länder empfindlich. Freilich war Covax schon zuvor hinter den Erwartungen zurückgeblieben, weil zu wenig Geld und Impfstoff gespendet worden war. Die Duke University schätzt, dass die 92 ärmsten Länder der Welt frühestens 2023 eine Impfquote von 60 Prozent erreichen können.

Indien und Südafrika fordern seit langem, den Patentschutz für Covid-19-­Impfstoffe vorübergehend aufzuheben, um die Produktion weltweit steigern zu können. Diese Forderung unterstützen in den USA inzwischen einige demokratische Senatoren. Auch 60 ehemalige Staats- und Regierungschefs sowie 100 Nobelpreisträger forderten in einem offenen Brief eine Aussetzung des Patentschutzes. Sogar die von Biden eingesetzte Handelsbeauftragte der USA, Katherine Tai, sprach jüngst davon, dass bei der Impfstoffproduktion aus der Sicht der ärmeren Länder »die Märkte versagten«, so wie es früher bei Aids-Medikamenten der Fall gewesen war. In den neunziger Jahren hatte sich insbesondere Südafrika lange dafür eingesetzt, die von der Welthandelsorganisation festgeschriebenen Patentregeln zu lockern, um die Produktion kostengünstiger Aids-Generika zu ermöglichen.

Doch bislang sperren sich die USA und die EU gegen die Freigabe der Patente. Auch die Impfstoffhersteller setzen sich dagegen ein. Sie argumentieren, dass eine bloße Patentfreigabe die Produktion nicht steigern würde, da Hersteller, die in der Lage sind, die hochkomplexe Impfstoffproduktion zu bewerkstelligen, schon jetzt Lizenzverträge abschließen könnten. Kritiker bemängeln jedoch, dass noch längst nicht alle Möglichkeiten zur weltweiten Produktionssteigerung ausgeschöpft seien.