Das von Gewalttaten gezeichnete Mexiko steht vor wichtigen Zwischenwahlen

Ein Land im Ausnahmezustand

Mexiko steht kurz vor wichtigen Zwischenwahlen. Diese entscheiden, ob Präsident López Obrador mehr Handlungsfreiheit für die von ihm ange­streb­te soziale und ökonomische Umgestaltung, die »Vierte Trans­formation«, erlangt.

Derzeit läuft in Mexiko die heiße Phase des Wahlkampfs. Am 6. Juni werden 500 Abgeordnete auf Bundesebene, 1 027 Abgeordnete auf regionaler Ebene, 15 Gouverneure und 1 923 Gemeindeverwaltungen gewählt. In der Mitte seiner sechsjährigen Amtszeit als Präsident geht es um viel für den Linkspopulisten Andrés Manuel López Obrador. Seine Partei Morena hält derzeit in beiden Parlamentskammern die Mehrheit. 93 Millionen Wahlberechtigte entscheiden, ob er die von ihm propagierte soziale und wirtschaftliche Umgestaltung (»Vierte Transformation«) gestärkt vorantreiben kann.

Schon bevor Sars-CoV-2 im Frühjahr 2020 Mexiko erreichte, befand sich das Land in einer schwierigen Situation. Die Wirtschaft stagnierte, die Sicherheits­lage war desaströs. Weder das überlastete öffentliche Gesundheitssystem noch der Sozialstaat waren auf die Pandemie vorbereitet. Mexiko verzeichnet mit rund 221 000 Toten die vierthöchste Zahl an Covid-19-Opfern weltweit – die Dunkelziffer dürfte weit ­höher liegen.

Nicht nur politische Gegner werfen López Obrador vor, er habe das Virus verharmlost und zu spät und falsch reagiert. Als die WHO schon vor der Pandemie gewarnt hatte, präsentierte er noch Heiligenbilder als Schutz gegen Covid-19 und ignorierte die gängigen Verhaltensregeln zum Infektionsschutz. Dafür will die Regierung nun bei der Impfstoffherstellung glänzen: Patria (Vaterland) soll ein Impfstoff heißen, den ein mit rund sechs Millionen Euro subventioniertes mexikanisches Pharmaunternehmen entwickelt hat und der noch dieses Jahr zugelassen werden soll. Bisher sind etwa neun Prozent der Mexikaner vollständig geimpft, weitere knapp 5 Prozent einmal.

Doch die Bevölkerung Mexikos leidet auch unter anderen tödlichen Gefahren. Rivalisierende Drogenkartelle halten immer größere Teile des Landes in Geiselhaft. López Obradors Friedensstrategie »Abrazos no balazos« (Umarmungen statt Schüsse) hat die Lage nicht verbessert. Die Zahl der Tötungsdelikte sank im vorigen Jahr leicht auf 34 515 – um 0,4 Prozent im Vergleich zum Rekordjahr 2019. Über 87 000 Menschen gelten als vermisst. Mehr als 300 000 Menschen wurden seit Beginn des Drogenkriegs 2006 getötet, täglich kommen fast 100 dazu.

Mexiko bleibt ein Land im Angst- und Ausnahmezustand, mehr noch in diesem Wahljahr. Seit Beginn des Wahlkampfs vor acht Monaten wurden 79 Politiker, darunter 21 Kandidaten, ermordet. Der organisierten Kriminalität geht es um politischen Einfluss: Durch Einschüchterung, Finanzierung, Entführungen und Mord mischt sie im Wahlkampf mit – manche Kandidaten lassen sich kaufen oder erpressen. Der mexikanischen Journalistin Anabel Hernández zufolge, die wegen der Bedrohung durch die organisierte Kriminalität das Land verlassen musste, gingen Kartelle wie Jalisco, Sinaloa und Juárez sogar so weit, einzelne Kandidaten zu sponsern.

In der Coronakrise versuchte die Regierung der zweitgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas an manchen Stellen zu sparen. So wurden etwa Gehälter im öffentlichen Dienst gekürzt. Die ­Regierung will so weit wie möglich die Erhöhung der Staatsverschuldung verhindern. Notkredite in Höhe von rund einer Milliarde Euro wurden nur an Kleinunternehmen verteilt, die Hälfte davon im informellen Sektor. An größere Unternehmen appellierte die Regierung lediglich, Entlassungen zu vermeiden – dennoch verloren in den ersten fünf Monaten der Krise eine Million Mexikaner ihren Arbeitsplatz.

Doch unter López Obrador eingeführte Sozialprogramme werden fortgesetzt. Auch in Infrastrukturprojekte wird weiter investiert: Die Eisenbahnstrecke Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán soll mehr Touristen ins Land locken; in die sich derzeit im Bau befindende Erdölraffinerie Dos Bocas hat der hochverschuldete staatliche Ölkonzern Pemex Milliarden gesteckt. Unternehmer, die ohne Nothilfen auskommen mussten, kritisierten die Priorisierung solcher Großprojekte.

National wie international wächst allerdings auch die Sorge über López Obradors autoritärer werdende Regierungsführung. Seine regelmäßigen rhetorischen Attacken gegen die Opposition, Justiz, NGOs, Journalisten und Unternehmer rechtfertigt der Präsident mit deren tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindungen zu den »neoliberalen Vorgängerregierungen«. Zudem erhält die Nationalgarde immer größere Befugnisse – bei der Grenzsicherung, im Kampf gegen die Kartelle, aber auch bei zivilen Aufgaben wie dem Aufbau eines staatlichen Bankennetzes oder der Verteilung von Covid-19-Impfstoffen.

Einen Frontalangriff auf den Rechtsstaat sehen viele in einer kürzlich von der Abgeordnetenkammer gebilligten Justizreform, die eine Verlängerung der Amtszeit des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, Arturo Zaldívar, beinhaltet. Eigentlich begrenzte die mexi­kanische Verfassung die Amtszeit auf vier Jahre, dann müssen die Richter im Obersten Gerichtshof einen der ihren zu ihrem neuen Vorsitzenden wählen. Mit der Reform wolle López Obrador die Judikative kontrollieren, so der Vorwurf der Opposition, denn Zaldívar habe immer zuverlässig im Sinne López Obradors entschieden. Der Präsident entgegnet, Zaldívar sei der richtige Mann für die Reform der in Teilen korrumpierten Justiz.

Dennoch sind López Obrador und seine Partei Movimiento de Regeneración Nacional (Morena) populär, vor allem bei der armen Bevölkerung Mexikos. Zwar sind die Beliebtheitswerte des Präsidenten seit Beginn seiner Amtszeit 2018 von mehr als 80 Prozent auf 60 Prozent gesunken, doch noch immer ist er so populär wie kaum ein mexikanischer Staatschef vor ihm – was angesichts der gewaltigen Probleme des Landes überraschen mag.

Gerade während der Krise spricht die Rhetorik des Linkspopulisten (»primero el pueblo«, das Volk zuerst) viele an. Außerdem folgten seinen Wahlkampfversprechen ­Taten: Den Mindestlohn hob er Jahr für Jahr an, 2021 um 15 Prozent auf 141,70 Pesos (circa 5,86 Euro) pro Tag. Er führte rasch neue Sozialprogramme ein: Mexikaner über 68 Jahre erhalten jetzt eine Basisrente, bedürftige Schüler und Studenten Stipendien, junge Arbeitslose bis zu zwölf Monate lang Arbeitslosengeld. Kleinbauern und Landarbeiter werden für den Anbau von Obstbäumen und Gemüse subventioniert – direkte Hilfen, die in der Coronakrise teils überlebenswichtig waren.

Auch seine Entschlossenheit im Kampf gegen die Korruption rechnen viele Mexikaner ihrem Präsidenten an: Einige ehemalige Funktionäre und Unterstützer der Vorgängerregierung unter Präsident Enrique Peña Nieto (PRI) sind wegen Korruption angezeigt worden, zum Beispiel der ehemalige Leiter des staatlichen Mineralölkonzerns Pemex, Emilio Lozoya, der letztes Jahr in Spanien verhaftet und nach Mexiko ausgeliefert wurde. Auch kommt nach und nach die historisch tief verwurzelte Verwicklung von organisierter Kriminalität und mexikanischem Staat ans Tageslicht, was in Mexiko López Obrador zugeschrieben wird. Der ehemalige Sicherheitsminister García Luna etwa steht derzeit in den USA vor Gericht, er soll das Sinaloa-Kartell geschützt und dafür Schmiergelder erhalten haben.

Die Opposition attackiert López Obrador als dilettantisch und verlogen, als Totengräber der Marktwirtschaft, als mexikanischen Hugo Chávez. Mit seinen Sozialprojekten wolle er sich bloß politische Zustimmung erkaufen, seine Politik sei autoritär und klienti­listisch. Das beschreibt freilich den Politikstil, den die frühere Regierungspartei PRI selbst jahrzehntelang praktizierte. Die Anhänger des Präsidenten sprechen von fake news, verbreitet von konservativen Kräften aus Politik und Wirtschaft, die ihre Privilegien schwinden sähen und strafrechtliche Ermittlungen fürchteten. López Obrador polarisiert die mexikanische Gesellschaft.

Um bei den Zwischenwahlen eine Chance gegen die populäre Regierungspartei Morena zu haben, haben sich die Oppositionsparteien PRI, PAN und PRD zu einer Allianz mit dem Namen »Va por México« zusammen­geschlossen. Zivilgesellschaftliche Organisationen aus gehobenen Kreisen, viele unternehmernah, unterstützen diese. Bisher schafft es die Opposition nicht, die arme Bevölkerung, rund die Hälfte aller Mexikaner, anzusprechen. Prognosen sehen Morena und ihre Verbündeten mit 52 Prozent der Stimmen vor »Va por México« mit 40 Prozent. Kurz vor den Wahlen ist wenig Enthusiasmus für einen Regierungswechsel zu bemerken und noch weniger von Wahlbegeisterung. Das Vertrauen in die politische Klasse ist erschüttert, nicht zuletzt wegen der offengelegten Verstrickungen der Vorgängerregierungen in kriminelle, teils mafiöse Aktivitäten. López Obrador könnte von seiner Rolle als Korruptionsbekämpfer pro­fitieren. Einiges spricht dafür, dass er bei den Wahlen seine Macht ausbauen wird.