Nötige Auseinandersetzungen blieben auf dem Parteitag der Grünen aus

Der Wille zur Volkspartei

Kommentar Von Daniél Kretschmar

Der Parteitag der Grünen verlief weitgehend harmonisch, doch die mediale und politische Kampagne gegen die Partei nimmt an Fahrt auf.

Der digitale Parteitag der Grünen verlief technisch durchwegs glatt, doch für einen Augenblick entglitt der Tonregie dann doch die Kontrolle. Deutlich war das »Scheiße!« von Annalena Baerbock, der frisch gekürten Kandidatin für das Kanzlerinnenamt, zu hören, während sie von Applaus begleitet nach ihrer Rede die Bühne verließ. Dabei waren ihre kleinen Verhaspler in der Rede kein Drama, das von ihr geführte Wahlkampf-Spitzenduo mit Robert Habeck fand die Zustimmung von 98,55 Prozent der Delegierten. Auch die befürchteten Auseinandersetzungen über die mangelnde Radikalität des Wahlprogramms blieben aus. Mit deutlichen Mehrheiten setzte sich der Parteivorstand in praktisch allen Kampfabstimmungen gegen die Basisanträge durch.

Dabei drückten diese Anträge nur die Dringlichkeit einer kohärenten Programmatik aus. Wer gegen den drohenden Untergang der Zivilisation ankämpft, und nichts Geringeres bedeutet der menschengemachte Klimawandel, kann nicht so ohne weiteres auf halbem Weg die Rhetorik zurückfahren. Genau das aber leisten sich die Grünen auf ihrem Sprung zur »Volkspartei«: Nicht das Ziel ist Maßgabe des Programms, nein, die Vermittelbarkeit an breite Bevölkerungsschichten ist vordringlichste Aufgabe auf dem Weg an die höchsten Schaltstellen der Macht.

Die präferierten Steuerungsinstrumente von Tempolimits bis CO2-Bepreisung werden moderat gedeckelt und sind schon rein rechnerisch ungenügend. Dagegen haben die aktivistischen Kreise der Partei nur höflich aufbegehrt. Die Partei orientiert sich eher an den Stimmenpotentialen für die Wahl im September als an dem Ziel eines entschlossenen Wandels. Die im Wahlprogramm ver­sprochenen sozialpolitischen Verbesserungen haben eher kosmetischen Charakter. Die Zumutung des Hartz-IV-Systems will man zwar mildern, Habeck schob die Verantwortung für dessen Einführung in seiner Eröffnungsrede zum Parteitag ganz beiläufig allein der SPD zu, mit der die Grünen seinerzeit allerdings koalierten. So unterschlägt er die damalige Beteiligung seiner Partei an der ­Demontage des Sozialstaats.

Kritik am generell herrschenden Wachstumsfetisch findet praktisch gar nicht statt, stattdessen soll über Investitionsoffensive und wirtschaftsfreundliche Transformation noch die Rettung der Zivilisation zur Renditeoption gemacht werden. Das Kapital erkennt zumindest in Teilen das bemühte Entgegenkommen an. In einer Gastrede ließ sich der frühere Vorstandsvorsitzende von Siemens, Joe Kaeser, zum väterlichen Rat hinreißen: »Sie haben die große Chance, von einer Abteilungsleitung Umwelt in den Vorstand Deutschland aufzusteigen und damit die Strategie für ein ganzes Land und dessen nächste Generation zu gestalten. Vergeben Sie das nicht leichtfertig.«

Nein, leichtfertig ist da niemand. Denn man weiß, was auf dem Spiel steht. »Deutschland. Alles ist drin.« So heißt das Wahlprogramm, und genau so ist es auch gemeint. Was die Grünen zwischen Gartengemütlichkeit und Fahrradfolklore präsentieren, ist der Versuch, die SPD als Partnerin in einer Großen Koalition abzulösen. Keine single issue-Partei oder der Juniorpartner, dem ein paar ­Ministerien überlassen werden, nein, die Kanzlerschaft soll es sein. Es geht der Partei nicht allein um Regierungsfähigkeit, sondern um einen Führungsanspruch.

Das Signal verhallt nicht ungehört bei der Konkurrenz. Attacken kamen in den vergangenen Wochen aus allen Richtungen. Von der Linkspartei bis zum Industrielobbyverein Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft schießt man sich auf Baerbock und Habeck ein. ­Allein die theoretische Möglichkeit eines Wahlsieges der Grünen inmitten der erodierenden deutschen Parteienlandschaft löst ­offenbar Panik aus. Ironischerweise auch bei den Grünen selbst, haben sie doch hinreichend Erfahrungen mit der Tatsache sammeln dürfen, dass Höhenflüge in Umfragen keinerlei Garantien für den Wahltag bedeuten.

Und viele Rückschläge kann die Partei sich tatsächlich nicht erlauben, gibt es doch nach derzeitigem Stand nur eine realistische ­Koalitionsoption: mit der Union. Die Frage, wie viel Wandel im grünen Sinne (und wie viele Posten) mit dieser Partnerin möglich sein wird, hängt nicht unwesentlich davon ab, wer von beiden am Ende als stärkste Partei aus dem Wahlkampf hervorgeht.

Der Ärger beim betretenen Eingeständnis von Fehlern im beginnenden Wahlkampf ist also glaubhaft. Bei aller inszenierten Geschlossenheit hat auch der Parteitag den Kritikerinnen und Hetzern noch ein bisschen mehr Angriffsfläche geboten. Carolin Emckes in einem Grußwort irritierend leichtfertig vorgenommene Selbstviktimisierung der Klimabewegung in einer Reihe mit »Virolog*in­nen«, »Feminist*innen« und »Juden« wird zum Beispiel vom CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sogleich zum Antisemitismus­skandal hochgejazzt.

Angesichts solch schweren Geschützes hätten die Grünen für das allgemeine Tempolimit auf Landstraßen gleich Schrittgeschwindigkeit vorsehen und einfach mal abwarten können, mit welchen historisch unsinnigen Vergleichen sie daraufhin konfrontiert gewesen wären. Schließlich scheint kaum ein politischer oder publizistischer Akteur noch davor zurückzuschrecken, implizit die Shoah als Schablone zur funktionalen Selbstüberhöhung der eigenen, ach so schlimm verfolgten Überzeugungen zu verwenden. Es ist eben Wahlkampf in Deutschland – möge das beste Opfer gewinnen.