Wie Chile mit Hilfe der Kybernetik eine demokratische Planwirtschaft aufbauen wollte

Alle Macht den Menschen

Vor 50 Jahren stellte der britische Kybernetiker Stafford Beer dem sozialistischen Präsidenten Chiles, Salvador Allende, das Projekt Cybersyn vor. Es sollte zum Aufbau einer demokratischen Planwirtschaft beitragen.

»Was Sie heute hören werden, ist revolutionär – nicht nur, weil es zum ersten Mal in der Welt angewandt wird – es ist revolutionär, weil wir uns bewusst darum bemühen, den Menschen jene Macht zu geben, die uns die Wissenschaft ermöglicht, und sie in die Lage zu versetzen, sie frei zu nutzen.« So beginnt ein Redemanuskript des britischen Kybernetikers Stafford Beer (1926–2002), mit dem er 1973 ein ambitioniertes Projekt einweihen wollte: Cybersyn. Auf Einladung der sozialistischen chilenischen Regierung unter dem 1970 ­gewählten Präsident Salvador Allende sollte Beer ab 1971 im Land eine Art Internet aufbauen, um die staatliche Produktion besser zu koordinieren – und das mit nur einem Zentralcomputer.

Von der zweijährigen Entwicklungs- und Testphase bekam die chilenische Bevölkerung nicht viel mit, und die Idee von Cybersyn (in Chile selbst Synco genannt) blieb weitgehend unverstanden. Die putschenden Militärs, die angeführt von General Augusto Pinochet am 11. September 1973 den Präsidentenpalast bombardierten, waren irritiert, als sie dort ein seltsames, futuristisch anmutendes Büro entdeckten, den Kommandoraum des Projekts. In den folgenden Jahren führte die Diktatur einen wahre Zerstörungsfeldzug, um alle Erinnerungen an die Regierung ­Allendes zu beseitigen. Damit geriet auch Cybersyn in Vergessenheit.

Nach und nach nahm in Chile unter der sozialistischen Regierung Salvador Allendes ein Kommuni­ka­tionssystem Gestalt an, das in Echtzeit Informationen aus staat­lichen Fabriken liefern sollte.

Seit den fünfziger Jahren wetteiferten die Sowjetunion und die USA auf dem Feld der Kybernetik. Die kybernetische Forschung zielte darauf, selbständige Regelungs- und Steuerungssysteme zu entwickeln. Dafür wurde Wissen aus Biologie, Informatik und Mechanik, aber auch aus den Geisteswissenschaften eingesetzt. Während die Forschung in den USA sich vor ­allem militärischen Fragen widmete, war sie in der Sowjetunion angehalten, die Herrschaft des Einparteienstaats effektiver zu gestalten.

Der sozialistischen Regierung Chiles ging es hingegen um die Verwirklichung einer technologische Utopie: Die Bevölkerung sollte als kollektives Subjekt befähigt werden, Entscheidungen zu treffen. Das war noch nie zuvor versucht worden und es gab nicht all zu viele Personen, an die die Regierung sich mit dieser Idee wenden konnte. Ganz oben auf ihrer Liste stand der Name Stafford Beer.

Beer hatte Ende der fünfziger Jahre die sogenannte Organisationskybernetik entwickelt. Diese stützt sich auf Ähnlichkeiten zwischen biologischen und sozialen Systemen und versucht, zentrale und dezentrale Entscheidungsprozesse in ein Gleichgewicht zu bringen. Seine Bücher »Cybernetics and Management« (1959) und »Decision and Control« (1966) hatten ihn zu einem gefragten Berater von Großunternehmen und britischen Politikern gemacht. Er fuhr mit Vorliebe Rolls-Royce und residierte in einem großen Haus in West Byfleet im Speckgürtel Londons.

Dort erreichte ihn Anfang 1971 ein Brief aus Chile. Der Absender war Fernando Flores, ein junger chilenischer Ingenieur. Allende hatte Flores mit 28 Jahren zum Generaldirektor der Cor­poración de Fomento de la Producción (Corfo) ernannt, einer Behörde zur Förderung der Industrieproduktion. Flores war mit Beers Werk bereits seit Mitte der sechziger Jahre vertraut. Die Organisationskybernetik schien ihm einen Ausweg aus dem Chaos zu weisen, das er bei der Corfo vorgefunden hatte: ein unorganisiertes und wenig produktives Konglomerat aus Bergwerken und Fa­briken, teils von Arbeiterinnen und Arbeitern besetzt, teils noch von den bisherigen Managern kontrolliert.

Die sozialistische Regierung wollte, dass verstaatlichte Fabriken effizient arbeiten und dass die Herstellung unter anderem von Textilien, Gebrauchsgütern und Baustoffen kollektiv geplant wird. Nach und nach sollte ein Sozialer Wirtschaftsbereich (Área Social de la Economía, ASE) entstehen – eine, so die Hoffnung, der Privatwirtschaft überlegene Produktionsweise, die zudem der autonomen Initiative der Beschäftigten Raum gab. Wie in vielen anderen Bereichen auch wollte die Regierung ­anders vorgehen als die Sowjetunion. »Allende war sehr gegen das sowjetische Modell der Zentralisierung«, erinnert sich Raúl Espejo, Flores’ rechte Hand und der technische Leiter von Cybersyn.

Flores und Espejo wussten, dass Beer mit linken Ideen sympathisierte. Er war von dem Vorschlag fasziniert, sein Wissen für den Aufbau einer kollektiv verwalteten Wirtschaft einzusetzen. Flores’ Brief »war ein Orgasmus«, sagte er später. Als er in Chile eintraf, hatte die Regierung bereits die größten Bergbauunternehmen und 68 weitere private Unternehmen in den ASE überführt. Das schnelle Vorgehen schürte Ängste bei Privatunternehmen und spornte zugleich spontane Vergesellschaftungen von Fabriken an, auch gegen den Willen des »Genossen Präsidenten«.

Am 12. November 1971 kam es zu einem ersten Treffen zwischen Beer und Allende. Im Präsidentenpalast stellte Beer Cybersyn vor. Allende fasste seine Vorstellung von der Arbeitsweise des Systems Beer zufolge mit den Worten »dezentral, arbeiterbeteiligend und antibürokratisch« zusammen. Beer hatte ein fünfstufiges Modell mitgebracht, das auf dem menschlichen Nervensystem beruhte. Als er die oberste Stufe des Modells beschreiben und »Präsident« sagen wollte, unterbrach ihn Allende mit den Worten: »Ah, endlich, das Volk!« Beer nahm sich daraufhin vor, das Modell weiter zu dezentralisieren.

Allende stimmte dem Projekt zu, einschließlich der Bedingungen, die Beer gestellt hatte: ein Tageshonorar von 500 US-Dollar sowie eine ständige Versorgung mit Schokolade, schottischem Whisky, chilenischem Wein und Zigarren. Die Idee war, mittelfristig autonome Produktionsstätten in Arbeiterkontrolle zu organisieren. Ein elektronisches Netzwerk würde die Produktion zentral dokumentieren und der Regierung ermöglichen, wenn nötig steuernd einzugreifen.

1971 und 1972 arbeitete Beer intensiv mit einem Team in Chile, unterbrochen von Aufenthalten in England, wo britische Mitarbeiterinnen und Mit­arbeiter an der Software für Cybersyn schrieben. In Chile schlossen sich bald auch der deutsche Gestalter Gui Bonsiepe von der Hochschule für Gestaltung in Ulm und einige seiner ehemaligen Studierenden an, um die zentrale Schaltstelle des Systems, den Transaktionsraum, zu entwickeln.

Nach und nach nahm ein Kommunikationssystem Gestalt an, das landesweit und in Echtzeit Informationen aus staatlichen Fabriken liefern sollte – über den Fluss von Rohstoffen und Betriebsmitteln, aber auch über Streiks und Arbeitsprobleme. All diese Daten sollten im Transaktionsraum zusammenfließen. Von dort aus sollten in Abstimmung mit den Produktionsstätten Entscheidungen getroffen werden. Vor allem ein Problem schien jedoch unlösbar: Wie ein elektronisches Informationsnetz mit nur einem Computer aufbauen?

Cybersyn schien eine kühne Utopie zu bleiben – bis zu dem Tag, an dem in einem Lagerhaus in der Hauptstadt Santiago zufällig 500 Fernschreiber entdeckt wurden, gekauft und vergessen von der vorherigen Regierung. Damit war das zentrale Problem gelöst. Die Fernschreiber verbanden die Betriebe mit dem einzigen an das System an­geschlossenen Computer in Santiago.

Seinen Nutzen stellte das Fernschreibernetzwerk im Oktober 1972 unter ­Beweis. Mit heimlicher Unterstützung der CIA hatten Transportunternehmer einen landesweiten Streik ausgerufen, um die Regierung zu stürzen. Mehr als 40 000 Lastwagen blieben stehen, die Lebensmittel- und Treibstoffvorräte drohten zu versiegen.

Beers Erfindung ermöglichte es, über das Netzwerk täglich Tausende Nachrichten zu senden. Lokale Versorgungskomitees erfuhren, wo Material oder Lebensmittel benötigt wurden, welche Straßen frei waren und wo es an Treibstoff mangelte. Die Kontrollräume blieben rund um die Uhr besetzt. In San­tiago nahmen auch Regierungsmitglieder an den Nachtschichten teil. Der Streik verpuffte, der Sturz der Regierung war abgewendet – vorerst.

Der Erfolg des Netzwerks sorgte allerdings nicht nur für positive Nachrichten. Konservative britische Medien strickten aus Halbwissen eine Verschwörungstheorie über Cybersyn, mit Beer in der Hauptrolle: Er sei das Mastermind eines mächtigen, zentralistischen Projekts, mit dem die Kommunisten die Weltherrschaft übernehmen wollten. In Chile führte die politische Rechte ebenfalls Medienkampagnen gegen Allende, die Beer als Konstrukteur einer totalitären Welt im Stil von Georg Orwells Roman »1984« porträtierten.

Am Tag des MIlitärputschs befand Beer sich in London und warb um politische Unterstützung für die chilenische Regierung. Erst kurz vor seinem Rückflug nach Santiago, auf dem Weg zum Flughafen, las er in einer Zeitung: »Allende ermordet«. Espejo und wei­teren Kollegen gelang die Flucht, auch dank der Hilfe Beers.