Hervé Guibert hat mehrere Bücher über seine Aids-Erkrankung geschrieben

Dem Arzt in die Fresse spucken

In eindrücklicher Weise beschrieb der 1992 verstorbene Fotograf und Schriftsteller Hervé Guibert seine Aidserkrankung sowie die Probleme, die mit ihr einhergingen. Zwei seiner Bücher sind jetzt auf Deutsch erschienen.

Nachdem unter Schwulen ein gehäuftes Auftreten von Kaposi-Sarkomen, einer seltenen Form des Hautkrebses, festgestellt worden war, begann vor vier Jahrzehnten die mediale Beschäftigung mit dem Virus und der Krankheit, die später unter den Namen HIV beziehungsweise Aids ­bekannt werden sollten. Einer, der diese Zeit miterlebte, war der fran­zösische Schriftsteller und Fotograf Hervé Guibert, von dem nun zwei Bücher auf Deutsch erschienen sind.

Mit »Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat« wird ein Buch wiederveröffentlicht, das bei seinem Erscheinen 1990 in Frankreich einen Skandal auslöste, weil dar­in erstmals öffentlich gemacht ­wurde, dass der 1984 verstorbene Michel Foucault, der unter dem Namen Muzil im Buch auftritt, einer Aids­erkrankung erlegen war. Bis dahin hatte Krebs als die Todesursache des Philosophen gegolten. Guibert greift nicht nur das öffentliche Bild Foucaults als Intellektuellen auf, sondern zeigt private Einblicke bezüglich des Krankheitsverlaufs und Foucaults Umgang damit. In 100 kleinen Episoden spiegeln sich Trauer, Zynismus und Mutlosigkeit, aber auch Wut, Witz und Begehren in Anbetracht der Krankheit wider.

Jenseits des individuellen Berichts liefert Guibert eine Erzählung über HIV und Aids, die das Persönliche übersteigt, indem sie aufzeigt, wie mit dem Virus und der Erkrankung in den achtziger Jahren umgegangen wurde.

Hervé Guiberts fiktionalisierte und deutlich persönliche Schilderungen unterscheiden sich von anderen zentralen Werken der Zeit, die die Krankheit thematisieren. Die Stärke dieses eher subjektiven Zugangs liegt darin, dass es ihm gelingt, aus kleinen Fragmenten ein vielschichtiges Bild der Krankheit und ihrer gesellschaftlichen Implikationen zu formen, insbesondere durch die Verbindung mit der Perspektive eines direkt Betroffenen; das macht die Darstellung wesentlich berührender als beispielsweise Randy Shilts’ umfang­reiche Chronik der ersten Aidsjahre, »And the Band Played On: Politics, People, and the AIDS Epidemic« aus dem Jahr 1987. In dieser zeichnete Shilts auf Basis von umfangreichen Recherchen minutiös die Entwicklung der Aidsepidemie und die Debatten über den Stellenwert sexueller Freiheit nach, beschrieb, wie lange Zeit weite Teile der Medien, Politik und Wissenschaft sich desinteressiert zeigten, und benannte konkrete Verantwortliche. Sie ähnelt darin Larry Kramers Porträt der Periode zwischen 1981 und 1984 in »The Normal Heart«, welches politisch ebenfalls stark aufgeladen war und gleichermaßen eine Anklage der schwulen ­Szene wie auch der Mehrheitsgesellschaft beinhaltete. Zwar schilderten die beiden genannten Werke durchaus Trauer, Ängste und Verlusterfahrungen, jedoch geht es ihnen vor ­allem um historische Aufarbeitung. Gleichzeitig artikulierten sie politische Forderungen deutlich direkter als Guiberts Werk.

In dessen Buch verspricht der titelgebende Freund dem Erzähler ein geheimnisvolles Medikament, das zur Behandlung seiner HIV-Infektion dienen soll, ihn jedoch nie erreicht. Die Leser begleiten den Erzähler in einem ständigen Auf und Ab, wobei sich Phasen der Hoffnung auf eine mögliche Heilung und solche der Verzweiflung abwechseln. Guibert gelingt es insbesondere bei der Schilderung der zahlreichen Krankheitssymptome, den immensen Zeitaufwand begreifbar zu machen, und damit auch, wie die Krankheit den Alltag des Erzählers dominiert, sowie die Monotonie und den Stillstand nicht nur innerhalb der medizinischen Behandlungsabläufe. Dies nötigt den Erzähler, sich permanent aufzuraffen, um irgendwie weiterzumachen. Immer wieder aufs Neue muss er versuchen, einen Umgang mit der Krankheit zu finden, sich zu einem gewissen Maß mit dieser zu arrangieren und die ihm noch verbleibende Zeit für ihn zufrieden­stellend zu nutzen – womit er allerdings scheitert.

Die sinkende Zahl der T4-Helferzellen, die der Immunabwehr dienen, dokumentiert das Fortschreiten der Krankheit, fungiert als ständiger im Hintergrund drohender Gradmesser des eigenen Zustands und der noch verbleibenden Zeit, denn nur bis zu einem bestimmten Grenzwert ist eine Behandlung mit dem versprochenen experimentellen Medikament möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass der Erzähler nicht nur mit den Symptomen seiner Infektion konfrontiert ist, sondern vielfach strategisch handeln und um seine medizinische Versorgung oder gar vermeintliche Rettung feilschen muss. Er ist gefangen in einem Schwebe­zustand zwischen der Gewissheit des nahenden Todes und der schwindenden Hoffnung auf ein Wundermedikament.

Jenseits dieses individuellen Berichts liefert Guibert auch eine Erzählung über HIV und Aids, die das Persönliche übersteigt, indem sie aufzeigt, wie mit dem Virus und der Erkrankung in den achtziger Jahren umgegangen wurde und welche Veränderungen und Konflikte damit einhergingen. Ihm gelingt somit eine detailreiche Darstellung der einander durchdringenden individuellen und gesellschaftlichen Aspekte der Krankheit und ihrer Wechselwirkung.

Plastisch beschreibt er das hohe Maß an Unsicherheit und Unwissenheit, das auch noch Ende der Acht­ziger herrschte. Nach den ersten Berichten zu Beginn des Jahrzehnts dauerte es noch Jahre, bis erkannt wurde, welches Virus für die Erkrankung verantwortlich ist und welche Übertragungswege existieren: »Man fange ihn sich, indem man Amylni­trit schnüffelt, das auf einmal außer Gebrauch geriet, oder es handle sich dabei um die Waffe eines biologischen Kriegs, mal von Breschnew abge­feuert, mal von Reagan.« Erst 1985 begannen die ersten Versuche mit dem Medikament AZT, das die Ausbreitung des Virus zumindest verlangsamen sollte, jedoch durch zu hohe Dosierung vielfach heftige ­Nebenwirkungen hatte.

Das Verschwinden von Teilen der sexuellen Subkultur, vor allem Saunen, ist ebenso Thema wie die mangelnde (rechtliche) Absicherung von Lebenspartnern und Freunden und das Primat der biologischen ­Familie. Exemplarisch beschreibt Guibert sowohl die Notwendigkeit, mit der biologischen Familie Muzils über dessen Nachlass zu feilschen, als auch die Wut über die eingeschränkten Möglichkeiten des Krankenbesuchs in Form der Reaktion auf einen jungen Arzt: »Er verweigerte mir die Erlaubnis, Muzil lebend zu sehen, er berief sich auf die Blutsbande, die ­Familienmitgliedern Vorrang vor Freunden geben, er wollte keineswegs in Zweifel ziehen, dass ich ihm nahestand, ich hatte Lust, ihm in die Fresse zu spucken.«

Das nun erstmals auf Deutsch erschienene »Krankenhaustagebuch« ist in Hinblick auf die sinnliche Wahrnehmung der Krankheit, die körperlichen Folgen und deren Begleitumstände noch deutlich direkter. In kleinen datierten, chronologisch aufeinander folgenden Einträgen schildert Guibert darin den Krankenhausalltag, den er aufgrund einer ­Infektion mit dem Zytomegalievirus, einer Herpesvariante, mit der schwerwiegende Komplikationen einhergehen können und die ihn erblinden zu lassen droht, über sich ergehen lässt. Die Beschreibung medi­zinischer Prozeduren und kleiner Gesprächsfetzen sowie die Wiedergabe von Fachjargon schafft eine plastische Darstellung der »Hölle« Krankenhaus. Nachts lassen ihn die lauten Schreie im Nachbarzimmer nicht schlafen. All dies schildert er vor dem Hintergrund seines möglicherweise nahe bevorstehenden Todes.

Guibert gelingt es, in wenigen Sätzen die ganze Tragik der Krankheit darzustellen. So beschreibt er die wandelnde Fremd- und Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers, bei welcher an die Stelle früherer Kom­plimente für sein attraktives Gesicht solche des Pflegepersonals für seine »schönen Adern« treten. Eine Stärke des Textes liegt darin, dass er mit dem Bild des sanftmütigen und tapfer leidenden Kranken aufräumt, der uneingeschränkt dankbar für jede Hilfe ist, und stattdessen die Wut und Frustration im Angesicht des nahenden Todes offen artikuliert. Dies zeigt sich insbesondere beim Ausgeliefertsein gegenüber dem Wohlwollen anderer und dem gleichzeitigen Wunsch, entscheidungsfähig zu bleiben und sich ein Mindestmaß an Autonomie zu erhalten, sei es auch nur durch die Möglichkeit des in beiden Büchern immer wieder aufgerufenen Gedankens an den eigenen Suizid: »Schluss machen, um der Todesangst zu entgehen?«

Noch bevor das Buch 1992 erschien, starb Hervé Guibert mit nur 36 Jahren tatsächlich an den Folgen eines Selbstmordversuchs. Erst Mitte der neunziger Jahre erzielten neue Medikamente deutlich bessere Behandlungsergebnisse, und die Zahl der Todesfälle durch Aids, zumindest unter denjenigen, die Zugang zu dieser medizinischen Versorgung hatten, sank deutlich.

Hervé Guibert: Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. ­August-Verlag, Berlin 2021, 280 Seiten, 20 Euro

Hervé Guibert: Zytomegalievirus – ­Krankenhaustagebuch. Aus dem Franzö­sischen und mit einem Kommentar von Hinrich Schmidt-Henkel. August-Verlag, Berlin 2021, 80 Seiten, 10 Euro