Über die polnisch-belarussische Grenze kommen weiterhin Geflüchtete

Erfrieren in der Roten Zone

Die Lage für Geflüchtete in Polen an der Grenze zu Belarus ist weiterhin lebensgefährlich. Das Oberste Gericht hat das Betretungsverbot der sogenannten Rote Zone mittlerweile gekippt.

Den ganzen Herbst über blieben die Geflüchteten an der Grenze zwischen Polen und Belarus ein Thema in den Nachrichten, seit dem Jahreswechsel ist es still geworden. »Zu Unrecht«, sagt Katarzyna Wappa, eine Lehrerin aus der Kleinstadt Hajnówka, direkt an dem »Rote Zone« genannten Sperrgebiet. Es ist Mitte Januar. Wappa ist mit anderen Anwohnerinnen und Anwohnern unterwegs, um Essen, Kleidung und Tee in die Wälder der Region zu dort umherirrenden Menschen zu bringen, die es über die Grenze geschafft haben.

»In manchen Nächten sind es hier minus 15 Grad Celsius, das ist lebensgefährlich«, sagt sie. Bislang sind offiziell 21 Todesopfer registriert worden, die tatsächliche Zahl könnte weit höher liegen. Wappa wird für ihr Engagement in polnischen Medien als »Freundin Putins« angefeindet, doch sie will weitermachen. Bis August hat sie sich dafür ein Sabbatical genommen. »Es ist keine Entscheidung, die ich treffe. Es gibt für uns hier keine andere Option, als zu helfen«, sagt sie.

»In manchen Nächten sind es hier minus 15 Grad Celsius, das ist lebensgefährlich.« Katarzyna Wappa, Flüchtlingshelferin

Wie viele Menschen noch in Belarus und im Grenzstreifen festsitzen und auf eine Möglichkeit zum Grenzübertritt warten, ist unklar. Allein in einem Lagerhallenkomplex im belarussischen Dorf Brusgi hielten sich nach Angaben des Roten Kreuzes am 20. Januar 767 Menschen auf. Trotz der enormen Militarisierung der Grenze mit insgesamt rund 20 000 polnischen Polizisten, Soldaten und Milizionären kommen weiter vereinzelt Menschen durch, auch bis nach Deutschland. In den ersten zwei Wochen des Jahren ­registrierte die Bundespolizei rund 230 »unerlaubte Einreisen mit Belarus-Bezug« – das sind immerhin rund 16 pro Tag, und sicherlich werden nicht alle erfasst. Insgesamt stieg die Zahl der in Deutschland registrierten Einreisen über Belarus seit Januar 2021 damit auf knapp 11 500. Die Route ist also ­keineswegs geschlossen, und viele der Helfenden in der Grenzregion rechnen damit, dass im Frühjahr, wenn die Temperaturen ­steigen, auch die Flüchtlingszahlen ansteigen.

Polen registrierte 2021 rund 39 700 Versuche, die Grenze illegal zu übertreten. Wie viele – nach willkürlichen Maßstäben – für ein Asylverfahren nach Polen hereingelassen wurden, veröffentlichte die Regierung nicht. Wie viele Menschen, die es illegal über die Grenze geschafft haben, direkt nach Belarus zurückgeschoben wurden, ist ohnehin unklar.

Jene, die einreisen dürfen, kommen auf unbestimmte Zeit in Internierungslager. Nach Angaben der polnischen Grenzpolizei befanden sich Ende Dezember 1 750 Asylsuchende in den neun Lagern des Landes. Theoretisch können sie für die gesamte Dauer des Asylverfahrens dort festgehalten werden. Nach Angaben polnischer NGOs wie der Fundacja Ocalenie werden die Internierten teils früher freigelassen. Ein erkennbares Muster gebe es hierbei aber nicht. Die Asylverfahren in Polen sind langwierig, der Fundacja Ocalenie ist kein Fall bekannt, in dem ein Verfahren eines seit August über Belarus eingereisten Schutzsuchenden bereits abgeschlossen wäre.

Die polnische Regierung hat bereits im August die sogenannte Verordnung über bewachte Zentren verändert. Zuvor stand jedem internierten Flüchtling eine Mindestfläche von vier Quadratmetern zu, seither sind es nur noch zwei Quadratmeter. Damit konnte die Regierung die Kapazität der sechs offiziellen Internierungslager in den Städten Biała Podlaska, Białystok, Kętrzyn, Krosno Odrzańskie, Lesznowola und Przemyśl von 560 auf 1 120 Menschen verdoppeln. Doch auch das reichte nicht. Deshalb wurden drei weitere Lager ­eingerichtet. Das größte befindet sich Wędrzyn, rund 50 Kilometer östlich von Frankfurt an der Oder, auf dem Gelände eines militärischen Ausbildungszentrums.

Die Grenzpolizei zeichnet auf ihrer Website ein Bild dieser Einrichtungen, das an eine Ferienanlage erinnert: Neben »komfortablen Lebensbedingungen« gebe es »separate Orte für aktive Erholung, Fitnessstudios und Spielplätze«, Computer mit Internetzugang, Fernsehräume sowie »abwechslungsreiche und gesunde Vollpension«. Die Insassen sind weniger angetan. In Wędrzyn gab es mehrfach Streiks und eine Revolte. Mitte Januar traten erneut sieben syrische Geflüchtete in Hungerstreik.

Clara Anne Bünger, eine Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, hatte Kontakt zu einem der Insassen. »Selbst die polnische Ombudsperson hat die Situation in den Haftlagern als Verstoß gegen Artikel drei der Europäischen Menschenrechtskonvention – also das Verbot von Folter – beschrieben«, ­sagte Bünger dem ND. Ein Geflüchteter aus dem Lager in Wędrzyn habe berichtet, dass er mit über 20 Menschen in einem Raum untergebracht sei. »Ihm wurde gesagt, dass er nur zwei Monate inhaftiert wird. Aber er ist jetzt schon vier Monate da und er weiß einfach nicht, was passiert. Er hat keine Informationen über sein Asylverfahren erhalten. Seine Frau ist immer noch in Afghanistan. Sie ist in Lebensgefahr und er ist inhaftiert«, so Bünger.

Damit keine weiteren Flüchtlinge über die Grenze zu Belarus kommen, sollen am 25. Januar die Bauarbeiten für einen Stahlzaun von 186 Kilometern Länge beginnen. Nach Angaben der Grenzpolizei soll dieser gleichzeitig auf vier Abschnitten gebaut und noch 2022 fertiggestellt werden. Der Zaun soll 5,5 Meter hoch werden, mit fünf Meter hohen Stahlpfosten, auf denen Stacheldraht sitzt. Später sollen Bewegungsmelder und Kameras verbaut werden. Das Bollwerk soll insgesamt 1,6 Milliarden Złoty kosten, umgerechnet rund 350 Millionen Euro. Polen will dafür Geld von der EU, doch die ist bislang zögerlich. Die polnische Regierung erwägt deshalb, Strafgefangene für den Bau heranzuziehen.

Der Zaun soll mitten durch den streng geschützten Białowieża-Urwald führen, eines der letzten verbliebenen Urwaldgebiete Europas. Anwohnerinnen und Anwohner versuchen, dies mit einer Petition zu verhindern. Sie hoffen dabei auch auf die EU, denn der Urwald fällt unter anderem in die höchste EU-Schutzkategorie.

Derweil hat das Oberste Gericht Polens zur Überraschung vieler, die von diesem nur noch der rechtsnationalistischen Regierungspartei PiS genehme Entscheidungen erwartet hatten, am 18. Januar das Betretungsverbot für die sogenannte Rote Zone entlang der Grenze aufgehoben. Dieses hatte die Regierung Anfang September 2021 erlassen und im November verlängert. Die Folge war, dass weder Journalisten noch Ärzte, Helfer oder Abgeordnete das Gebiet betreten konnten. Geklagt hatten Journalisten der Agentur AFP und des Fernsehsenders Arte, die nach eigenen Angaben aus Versehen in die Zone gefahren und dafür bestraft worden waren. Das Gericht entschied nun, dass die flächendeckende, nicht nur kurzzeitige Sperrung des Gebiets verfassungswidrig sei. Unklar ist, ob die Regierung nun Hilfsorganisationen ungehindert Zugang gewährt.