Die Initiative Freiheitsfonds kauft Schwarzfahrer aus Gefängnissen frei

Ticket aus dem Knast

Die Berliner Initiative Freiheitsfonds kauft Menschen, die wegen Schwarzfahrens inhaftiert wurden, aus Gefängnissen frei.

Mehrere Tausend Menschen müssen hierzulande jedes Jahr ins Gefängnis, weil sie die viel zu teuren Bus- und Bahntickets und, wenn sie ohne Fahrschein erwischt werden, die fälligen Bußgelder erst recht nicht bezahlen können. »Genaue Zahlen gibt es nicht, eine Statistik wird nicht geführt«, sagt Arne Semsrott von der Berliner Initiative Freiheitsfonds im Gespräch mit der Jungle World. Die Initiative besteht seit Dezember des vergangenen Jahres und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Schwarzfahrer aus Gefängnissen freizukaufen.

Bis Anfang März hat die Initiative nach eigenen Angaben insgesamt mehr als 300 000 Euro an Spenden erhalten, mit denen 268 Menschen freigekauft und 21 511 Hafttage ausgelöst worden seien. »Alles gespendet von Menschen aus der Nachbarschaft, die gerade ein paar Euro übrig haben, Großspenden von ein paar Hundert Euro sind schon eher die Ausnahme«, sagt Semsrott. Ein Hafttag kostet den deutschen Staat pro Gefangenen je nach Bundesland zwischen 98 und 188 Euro; die pro Hafttag zu bezahlenden Tagessätze liegen zumeist deutlich niedriger, weil sie sich im Großen und Ganzen nach dem Einkommen des Verurteilten richten. In weniger als drei Monaten hat der Freiheitsfonds somit dem Staat bereits mehrere Millionen Euro Haftkosten erspart.

»Immer häufiger wenden sich die Gefängnisleiter direkt an uns mit der Bitte, die Schwarzfahrer doch auszulösen.« Arne Semsrott, Gründer der Initiative Freiheitsfonds

Die Grundlage dafür, dass Menschen, die ohne Fahrschein erwischt werden, überhaupt ins Gefängnis müssen, ist der Paragraph 265a des Strafgesetzbuchs (StGB). Das »Erschleichen von Leistungen«, so der offizielle Name des Delikts, »wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft«, heißt es dort. In den allermeisten Fällen verhängen die Gerichte Geldstrafen, doch wer diese nicht bezahlen kann, muss eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Ein vom Gericht festzusetzender Tagessatz der Geldstrafe entspricht dabei einem Tag in Haft.

1935 nahm das NS-Regime den Paragraphen 265a ins StGB auf. Vorgeblich um eine Strafbarkeitslücke zu schließen, wurde damals das so genannte Schwarzfahren von einer Ordnungswidrigkeit zur Straftat hochgestuft. Der Nachfolgestaat des Deutschen Reichs hält es bis heute für opportun, die Strafverfolgung für das Fahren ohne Ticket aufrechtzuerhalten, mit verheerenden Folgen für die Betroffenen. Die Opfer des Paragraphen 265a StGB sind ganz überwiegend die vom kapitalistischen Verwertungsprozess Ausgespuckten und in Hinblick auf die Kapitalakkumulation Überflüssigen: Alte und Kranke, Arbeits- und Wohnungslose, Drogenabhängige, psychisch Kranke und Suizidgefährdete – die Ärmsten der ­Armen.

Zusammen mit der Redaktion des »ZDF Magazin Royale«, so Semsrott, habe die Plattform »Frag den Staat«, für die er tätig ist, monatelang zum Straftatbestand recherchiert. Aus dieser Kooperation sei der Freiheitsfonds ­hervorgegangen. »In Deutschland hat prinzipiell jeder und jede die Möglichkeit, eine Geldstrafe abzuarbeiten, aber wenn man psychisch krank, von einer Suchtkrankheit betroffen und/oder wohnungslos ist, ist dies zumeist eben nicht möglich«, sagt Semsrott. Dann komme es zu einer Ersatzfreiheitsstrafe und die Betroffenen müssten in den Knast, oft für mehrere Monate.

Wie viele Menschen in bestimmten Bundesländern oder Städten ins Gefängnis müssen, weil sie ohne Ticket ertappt wurden, wisse er noch nicht, sagt Semsrott. »Es gibt keine bundeseinheitlichen Zahlen und auch wir haben die Datenlage noch nicht erfasst.« Festgestellt habe man jedoch, dass in Berlin, Bremen und Bayern sehr viele Schwarzfahrer inhaftiert seien und in Hamburg sehr wenige.

Damit Betroffene freigekauft werden können, müssen sie sich zunächst selbst bei der Initiative melden. Auf deren Website findet sich dafür ein Formular. »Wichtig sind der Name und das Aktenzeichen«, sagt Semsrott, »dann gibt es auch keine Probleme mit dem Datenschutz.« Mittlerweile würden jedoch selbst die Verantwortlichen in den Gefängnissen die Absurdität ­darin erkennen, die Überflüssigen einfach wegzusperren. »Immer häufiger wenden sich die Gefängnisleiter direkt an uns mit der Bitte, die Schwarzfahrer doch auszulösen«, so Semsrott.

Der Journalist Ronen Steinke schreibt in seinem kürzlich im Berlin-Verlag erschienenen Buch »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz«, dass mehr als die Hälfte derer, die hierzulande eine Haftstrafe anträten, eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen müssen. 2019 habe dies schätzungsweise 51 000 Menschen betroffen, im selben Jahr hätten etwa 46 000 Menschen eine »reguläre Haftstrafe« angetreten, so Steinke. Während die Kriminalität hierzulande insgesamt rückläufig sei, stiegen die Fallzahlen von Ersatzfreiheitsstrafen aufgrund wachsender Armut seit Jahren an.

»Lange waren die hohen Zahlen nicht aufgefallen, denn wenn an Stichtagen einmal bundesweit alle Insassen für die Statistik durchgezählt wurden, machten die Geldstrafenschuldner trotzdem nur einen kleinen Anteil aus. ­Zuletzt zehn Prozent«, schreibt Steinke. »Aber die Statistiken täuschen, denn wie ein Schnappschuss, der nur einen Moment einfriert, können sie eine Sache nicht erfassen: das enorme Tempo, mit dem die Schuldner ein- und wieder ausziehen.« Wie viele der Ersatzfreiheitsstrafen wegen ­Fahrens ohne Ticket verhängt werden, kann auch Steinke nicht genau be­ziffern, aber in Berlin sei es etwa ein Fünftel.

Die Initiative Freiheitsfonds werde sich weiter auf den Freikauf von Schwarzfahrern konzentrieren, sagt ihr Gründer Semsrott. Er würde es aber sehr begrüßen, wenn sich weitere Initiativen bildeten, um auch andere von Ersatzfreiheitsstrafen Betroffene aus den Knästen freizukaufen.

Bestrebungen, die Ersatzfreiheitsstrafen hierzulande abzuschaffen, gibt es immer wieder mal. 2019 stellte die Fraktion der Linkspartei im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Streichung des Paragraphen 43 StGB, der die Ersatzfreiheitsstrafe beinhaltet, zur Abstimmung. In der Begründung hieß es, die Ersatzfreiheitsstrafe sei »ein Instrument der Diskriminierung von Menschen, die am Existenzminimum leben«. Sie verfehle ihre Ziele vollständig und ermögliche weder eine Resozialisierung, noch wirke sie präventiv. Auch stellten die wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe Inhaftierten in der überwiegenden Mehrzahl keine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Für die Betroffenen sei »eine kontinuierliche, professionelle und soziale Begleitung aus Resozialisierungsgesichtspunkten sinnvoller als eine freiheitsentziehende Maßnahme«. Bei der Abstimmung im ­Bundestag lehnten die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf ­jedoch ab.

Ein Problem könnte auch die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe oder Rückstufung des »Erschleichens von Leistungen« zur Ordnungswidrigkeit nicht lösen: Wer kein Geld für einen Fahrschein hat, gerät mit dem Gesetz in Konflikt. So kann gegen Menschen, die ein Bußgeld wegen einer Ordnungswidrigkeit nicht bezahlen, eine sogenannte Erzwingungshaft angeordnet werden. Nach deren Verbüßung ist noch nicht einmal die finanzielle Forderung abgegolten. »All unsere Gespräche mit Sozialarbeitern, Juristen und Wissenschaftlern zeigen«, sagt Arne Semsrott, »dass die Lösung darin liegen könnte, den öffentlichen Nahverkehr erheblich billiger oder am besten gleich kostenlos zu machen.«