Ein Forschungskollektiv in Russland führt Interviews mit Kriegsbefürwortern, um deren unterschiedliche Motive zu verstehen

»Viele berichten von schlaflosen Nächten«

Interview Von Katja Woronina

Nicht alle Russen, die den Krieg gegen die Ukraine befürworten, vertrauen blind der Regierungspropaganda, sagt die Soziologin Svetlana Erpyleva. Viele sind entsetzt über die Gewalt, und unterstützen trotzdem die russische Führung.

Was ist das Labor für öffentliche Soziologie (Public Sociology Lab, kurz PS Lab)?

Das PS Lab ist eine autonome multidisziplinäre Forschungsgruppe, die wir während der Massenproteste für faire Wahlen Ende 2011 ins Leben gerufen haben, als Wladimir Putin erneut zum russischen Präsidenten gewählt wurde und Zehntausende gegen Wahlbetrug auf die Straßen gingen. Wir wollten wissen, was in der russischen Gesellschaft passiert und warum plötzlich so viele Menschen demonstrieren. Außerdem war es uns wichtig, für die Gesellschaft relevante Fragen zu formulieren und der Zivilgesellschaft mit unserer Expertise beizustehen. Das laufende Projekt zur Ermittlung der Einstellungen in der russischen Bevölkerung betreiben wir mit einer Vielzahl von Ehrenamtlichen. Eine Finanzierung haben wir dafür nicht.

Welche Veränderungen in der rus­sischen Gesellschaft haben Sie seit Beginn Ihrer Arbeit festgestellt?

In der Vergangenheit konzentrierten wir uns auf die Zivilgesellschaft und die verschiedenen Proteste der vergangenen Jahre, die für die russische Politik von großer Tragweite waren. Sie trugen zur Politisierung von Bürgerinitia­tiven bei. Bei den Beteiligten entstand ein Bewusstsein dafür, dass sich lokale Probleme nicht lösen lassen, ohne gegen die Zentralmacht zu kämpfen, die für diese Probleme die Verantwortung trägt. Andererseits verschärfte sich in diesen Jahren die Repression, die auch Menschen traf, die sich nicht als professionelle Aktivisten verstanden.

Die großen staatsnahen Meinungsforschungsinstitute in Russland, die eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung für den Krieg vermelden, führen ihre Befragungen per Telefon durch. Wie geht das PS Lab vor? Ist es für unabhängige Organisa­tionen überhaupt noch möglich, die öffentliche Meinung zu ermitteln?

Auch kleinere unabhängige Initiativen führen Telefonumfragen durch, aber alle stoßen auf ein und dasselbe Pro­blem: Die Menschen wollen nicht reden. Damit sind auch wir konfrontiert. Aber anders als die großen Institute haben wir uns nicht vorgenommen, die Stimmung in Russland repräsentativ darzustellen. Unsere Aufgabe ist eine andere, nämlich durch qualitative Forschung herauszufinden, welche Art von Einstellungen es zum Krieg in der Gesellschaft gibt und welche Mechanismen sich dahinter verbergen und wie sie entstanden sind.

»Viele Russen glauben, überall würden Falschnachrichten und Pro­paganda lauern, also könne man nur dem unmittelbaren Umfeld vertrauen.«

Für die Suche nach gesprächsbereiten Personen nutzten wir unsere persönlichen Netzwerke, nach dem Schneeballsystem kamen immer weitere Kontakte hinzu. Außerdem haben wir Suchan­fragen im Internet verbreitet, Menschen auf Antikriegskundgebungen und bei einer Veranstaltung für den Krieg befragt und gelegentlich spontan mit verschiedenen Menschen Interviews geführt.

Wer sind die Menschen, die den Krieg befürworten? Worauf beruht deren Einstellung?

Wir können kein einheitliches Bild von Kriegsbefürwortern als Personen zeichnen, die Putin unterstützen, staatliches Fernsehen schauen und kritik­unfähig sind. Auf Grundlage der vorliegenden Interviews habe ich versucht, sie in verschiedene Typen zu klassifizieren. Leider konnten wir nicht mit Menschen aller Kategorien sprechen, von denen wir wissen, dass sie relevant sind, beispielsweise mit orthodoxen Kirchgängern.

Welche Typen haben Sie bislang ­herausgearbeitet?

Ganz offensichtlich gibt es zunächst ein für die offizielle Propaganda empfäng­liches Publikum. Diese Leute interessieren sich kaum für Politik und haben in den vergangenen Jahren die Entwicklungen in der Ukraine nicht verfolgt. Sie waren von den jüngsten Ereignissen überwältigt und brauchten eine Erklärung dafür. Als Fernsehkonsumenten erhalten sie klischeehafte Antworten, die sie unhinterfragt übernehmen. Meistens sprechen sie davon, dass die sogenannte Sonderoperation zur Rettung der Bevölkerung im Donbass und zum Schutz des ukrainischen Volks vor dem faschistischen Regime notwendig gewesen sei. Sie beschäftigen die Belange der einfachen Leute und sie sagen, dass sie für den Frieden sind.

Eine komplett andere Gruppe besteht aus Personen, deren Anschauungen sich über einen langen Zeitraum gebildet haben. Ihr Blick richtet sich auf Geopolitik und sie verwenden die Rhetorik von Russland als Großmacht. In ihren Augen ist der Krieg eine Fortsetzung des jahrhundertealten Konflikts mit dem Westen, weshalb sie die Behauptung, es ginge um die Rettung der Menschen im Donbass, als propagandistische ­Finte werten. Ihre Haltung ist kein Ergebnis der gegenwärtigen Propaganda.
Solche Ansichten waren sicherlich zu erwarten …

Gleichzeitig existieren Mischformen. Manche Leute glauben zwar an einen Konflikt mit dem Westen, aber im Unterschied zur eben genannten Kategorie bedauern sie, dass Russland zum Handeln gezwungen gewesen sei, und es wäre ihnen lieber, das alles wäre nicht passiert. Dabei stehen sie der Staatsmacht durchaus kritisch gegenüber. Dann gibt es noch eine relativ kleine Gruppe, die eine persönliche Bindung an den Donbass hat, weil sie dort gelebt haben oder Verwandte haben.

Fallen Ihnen bei den Antworten der Kriegsbefürworter oft Widersprüche auf?

Ja. Wir haben es so definiert, dass die explizite Selbstidentifikation der Befragten als Kriegsbefürworter ausschlaggebend ist. Gezielt stellen wir allen die Frage, ob sie die Entscheidung des Präsidenten unterstützen, Truppen in die Ukraine zu entsenden. Es gibt Leute, die darauf mit einem klaren Ja antworten. Doch anders als bei normalen Umfragen haben wir die Möglichkeit, eine Stunde lang darüber zu sprechen. Dabei zeigt das ganze Gespräch oft, dass die Interviewten den Krieg eigentlich gar nicht unterstützen, es schrecklich finden, dass dort Menschen sterben. Sie berichten von schlaflosen Nächten, von der Sorge um wehrpflichtige Söhne und über Preissteigerungen. Und trotzdem sagen sie am Anfang und am Schluss des Interviews, dass sie hinter Putins Entscheidung stehen. Ob man diese Menschen als Kriegsbefürworter bezeichnen kann, hängt davon ab, wie man das definiert.

Wie erklären Sie sich das?

Wir sehen unterschiedliche Formen der Rechtfertigung des Kriegs. Eine davon ist die Delegierung der Entscheidungsfindung an die politische Führung, mit der Erklärung, dass dort Erkenntnisse vorliegen müssen, die dem Durchschnittsbürger fehlen. Die offizielle Propaganda liefert zumindest eine konsistente Erklärung für die Geschehnisse. Die einen geben sich damit zufrieden, die anderen nicht, aber eine andere Option, eine alternative Sichtweise, steht nicht zur Verfügung. Deshalb lautet das Credo vieler Menschen, die nicht an die offizielle Propaganda glauben: »Wir kennen die Wahrheit nicht.« Das passt hervorragend zur in Russland weitverbreiteten Überzeugung, dass fake news allgegenwärtig seien: Falschmeldungen und Propaganda lauern überall, also kann man nur dem unmittelbaren Umfeld vertrauen.

Gilt das auch für die von der russischen Regierung verbreitete Propagandabehauptung, Faschisten seien in der Ukraine eine Bedrohung für die Bevölkerung?

Faschisten werden vor allem in den Antworten der ersten Gruppe erwähnt, die der offiziellen Propaganda folgt, der zufolge der Krieg nötig gewesen sei, um die ukrainische Bevölkerung zu ­befreien. Die zweite Gruppe setzt den Akzent eher auf die Nato, während die letzte Gruppe, die Zweifelnden, auch hier nicht sicher ist, ob sie das beurteilen kann. Zwar werde das so gesagt, so die Antwort, aber sie fragen sich dann doch, ob in der Ukraine wirklich alle Faschisten sind.

Angesichts des Kriegs gegen die Ukraine wird in letzter Zeit oft die Frage diskutiert, ob Russland als faschistisch einzustufen sei. Der Historiker Timothy Snyder sprach sich jüngst in einem in der »New York Times« erschienenen Essay eindeutig dafür aus. Lässt sich anhand der von PS Lab geführten Interviews dazu eine Aussage machen?

Die Denkweise der Kriegsbefürworter gibt uns darauf keine Antwort, denn die Frage bezieht sich ja eher darauf, wie das politische Regime zu beurteilen ist. Hierfür müssten wir unter anderem den Aufbau von dessen Propaganda und des Repressionsapparats untersuchen. Da finden sich zweifellos faschistische Elemente, aber es handelt sich offensichtlich nicht um eine totalitäre Gesellschaft. Denn sogar nach dem 24. Fe­bruar kann jeder, der sich nicht offen positioniert und eine distanzierte Haltung zum politischen Geschehen einnimmt, sein Leben weiter führen wie ­gehabt, ohne sich mit dem Regime in irgendeiner Weise identifizieren zu müssen. Das trifft auch auf jene zu, die in unseren Interviews den Krieg befürworten, aber nicht unbedingt in allen Punkten hinter der Regierung stehen.
 

 

Portrait Erpyleva

Die russische Soziologin Svetlana Erpyleva ist derzeit Stipendiatin der Humboldt-Stiftung an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Das von ihr mitgegründete russische Labor für öffentliche Soziologie, kurz PS Lab, versucht, mit qualitativen Methoden die Ansichten der russischen Bevölkerung zu ermitteln – auch zum Krieg Russlands gegen die Ukraine.