Bessere Arbeitsbedingungen müssen gegen die Kapitalseite durchgesetzt werden

Gezwungen zum Abwehrkampf

Disko Von Gaston Kirsche

Der Kicker im Pausenraum ersetzt nicht den gemeinsamen Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen. Den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit gilt es neu zu entdecken.

DiskoWeniger zu arbeiten und mehr zu leben, wünschen sich viele. Doch grundlegende Arbeitskritik wird nur noch selten formuliert, die Vorstellung, Arbeit sei ganz abzuschaffen, würde vielen heutzutage extrem erscheinen. ­Auftakt einer Disko-Reihe über Arbeitskritik und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung.

 

Es soll für Fortschritt sorgen: Seit Jahren tüfteln Kapitalverbände und Forschungseinrichtungen unter dem Stichwort »Industrie 4.0« an der Verzahnung von industrieller Produktion mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik. Es geht nicht nur um die Gesamtproduktion, durch eine vollständig digital vernetzte Arbeitsorganisation sollen auch die einzelnen Arbeitsprozesse und damit die Lohnarbeitenden in Echtzeit gesteuert und kontrolliert werden können.

Worum es für die Kapitalseite geht, lässt sich bei zwei der größten Hightech-Konzernen der Welt gut erkennen: Amazon und Apple. Amazon erzielte im Geschäftsjahr 2021 weltweit einen Umsatz von rund 469,8 Milliarden US-Dollar, bei Apple waren es rund 365,8 Milliarden US-Dollar. Grund­lage dieser exorbitant hohen Umsätze sind neben der Ausnutzung monopolartiger Marktmacht vor allem die Arbeits- und Produktionsbedingungen, mit denen es die Großkonzerne schaffen, sich gegen ihre Konkurrenz durchsetzen.

Digitaltechnische Rationalisierungen können die Arbeit erleichtern oder verdichten, sie können mehr Souveränität oder mehr Monotonie und Kontrolle bringen.

Apple lagert die Produktion von Hardware in Billiglohnländer aus, die bei Lohnkosten und Arbeitsschutz miteinander konkurrieren und gegeneinander ausgespielt werden. Amazon organisiert die Auslieferung von Waren in den reichen Ländern und lagert dafür Aufgaben über eine Kette von Subunternehmen aus. Das Geschäftsmodell von Amazon basiert darauf, tarifvertragliche Regelungen zu verweigern und die Beschäftigten systematisch zu entrechten.

Beide Konzerne sind führend in der Durchsetzung von »Industrie 4.0«. Der Apple-Zulieferer Foxconn, der etwa 1,3 Millionen Menschen insbesondere in China beschäftigt, versteht darunter allerdings nicht nur den Einsatz von Robotern in der Zusammenarbeit mit Arbeitenden am Band, sondern die umfassende elektronische Kontrolle der Beschäftigten. Und bei Amazon tragen der Gewerkschaft Verdi zufolge Beschäftigte Kontrollgeräte mit sich herum, die permanent überwachen, was diese gerade tun: »Steuerung und Kontrolle der Arbeit durch Vernetzung und künstliche Intelligenz sind immer gegenwärtig.«

Dagegen geht bei Amazon jetzt eine neugegründete Gruppe vor: »Amazon Workers Against Surveillance/Amazon Arbeiter*innen gegen Überwachung«. »Amazon überwacht seine Mitarbeiter rund um die Uhr mit Apps, Handscannern, Browser-Tools und Kameras. Arbeiten bei Amazon ist überall stressig und gesundheitsgefährdend«, kritisiert die Gruppe auf ihrer Website. Beschäftigte würden krank, verlören ihre Stelle, weil sie nicht schnell genug seien, würden vom Management gemobbt oder bekämen weniger Geld, wenn sie vor­gegebene Ziele nicht erreichten. Die Gruppe ruft zum Widerstand auf: »Es gibt viele Möglichkeiten, Überwachung zu stoppen: Man kann einen Betriebsrat wählen, Einfluss auf den bestehenden Betriebsrat nehmen, sich an Gewerkschaften wenden, die Datenschutzbehörde einschalten oder auf Schadenersatz klagen.«

Die krasse Ausbeutung und Kontrolle bei Amazon wird in der deutschen ­Öffentlichkeit kaum beachtet. Auch die ähnlich entmenschlichenden Arbeitsbedingungen in der deutschen Schlachthofindustrie mit den überausbeuterischen Werkverträgen wurden ja erst Thema staatlichen Handelns, als die Schlachthöfe als Covid-19-Hotspots Bedeutung erlangten. Und so kämpfen auch Amazon-Beschäftigte seit Jahren zwar mit Unterstützung der Gewerkschaft Verdi, aber ansonsten weitestgehend auf sich gestellt um reguläre Tarifverträge und Betriebsratswahlen. Zu wenige, aber engagierte Beschäftigte bei Amazon bemühen sich um transnationale Vernetzung und um Unterstützung aus der Gesellschaft.

Nicht nur in Lagerhäusern wird digitale Überwachung eingesetzt. »Bereits heute kommt in manchen Callcentern eine besondere Software zum Einsatz, die Gespräche mithört, analysiert und beeinflusst«, heißt es in dem Heft ­»Impuls« der Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Digitaltechnische Neuerungen können es durch Rationalisierung ermöglichen, die Arbeit zu erleichtern oder zu verdichten, sie können mehr Souveränität und Abwechslung oder mehr Monotonie und Kontrolle bringen. Das hängt in der Regel davon ab, wem die Produktionsmittel gehören. Wo es Gegendruck aus den Belegschaften oder zumindest engagierte Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertrauensleute gibt, können wenigstens Arbeits- und Datenschutz eingefordert werden.

Amazon ist jedoch beispielhaft dafür, wie es heutzutage wieder vorwiegend die Kapitalseite ist, die die Bedingungen der Lohnarbeit bestimmt, wenn Betriebsräte und Gewerkschaften wenig Einfluss haben – und auch dafür, dass unausgebildete Beschäftigte, die in ihren Arbeitsabläufen von der digitalisierten Technik gesteuert werden, einem Arbeitsregime des hire and fire ausgesetzt sind, das zu permanenter Unsicherheit führt. Die US-Nachrichtenseite Vox berichtete kürzlich über ein internes Memo von Amazon, das davor warnte, dass der Konzern, der in den USA knapp eine Million Menschen beschäftigt, in einigen Regionen bald Probleme haben könnte, noch genug neue Arbeitskräfte zu finden, unter ­anderem weil er im Vertrauen auf un­erschöpfliche Bewerberpools systematisch derart viele Arbeiter entlässt.

Aber selbst in Branchen der deutschen Industrie, die zum einen über starke Gewerkschaften, einen hohen Organisa­tionsgrad, starke Betriebsräte und viel Streikerfahrung, zum anderen über hohe Profite verfügen, sind lange etablierte Arbeiterrechte nicht sicher. Auch in der Stahl-, Elektro- und Automobilindustrie werden Belegschaften verschiedener Standorte gegeneinander ausgespielt und mühsam erkämpfte Zugeständnisse wie die sogenannte Steinkühlerpause für am Band Arbeitende wieder zurückgenommen.

Im vorigen Jahr, als wegen der Covid-19-Pandemie die Aufträge zurückgegangen waren, verzichtete die IG Metall auf hohe Lohnforderungen, um Entlassungen zu verhindern. Die Autokonzerne klagen derzeit gerne über das drohende Aus des Verbrennungsmotors und die hohen Kosten der Umstellung auf Elektromobilität. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Die Koordination Branchenpolitik der IG Metall hat vor den anstehenden Tarifverhandlungen in der Autoindustrie Zahlen veröffentlicht: Der Umsatz hat sich im Vergleich von 2020 auf 2021 um 8,7 Prozent erhöht, während die Produktion vor allem billigerer Autos um sechs Prozent zurückgefahren wurde; die Produktivität pro Beschäftigtem hat sich um 4,8 Prozent erhöht, die Zahl der Beschäftigten ist um 2,8 Prozent verringert worden.

Tarifverhandlungen sind nicht alles, aber sie sind das Konfliktfeld, auf dem Gewerkschaften am stärksten sind. Die IG Metall könnte in der Automobilindustrie dieses Jahr angesichts eine Inflationsrate von etwa acht Prozent und der höheren Produktivität mit Fug und Recht zehn Prozent mehr Lohn fordern. Die Rekordgewinne des Unternehmens würden dies hergeben. Im vergangenen Jahr waren das bei VW 15,5 Milliarden, bei Daimler 14,2 Milliarden und bei BMW 12,5 Milliarden Euro.

Aber solche Lohnsteigerungen stehen in der deutschen Industrie derzeit nicht auf dem Programm. Für die rund 76 500 Beschäftigten der Stahlin­dustrie, die derzeit wegen des Ukraine-Kriegs exorbitante Zusatzgewinne verzeichnet, hat die IG Metall kürzlich nur aufgrund hohen Drucks durch Warnstreiks eine Lohnerhöhung von 6,5 Prozent vereinbaren können – und das ist schon die höchste prozentuale Erhöhung in der Stahlindustrie seit 30 Jahren, gar die höchste aller Branchen überhaupt.

Auch Versuche, bei Tarifverhandlungen Arbeitszeitverkürzungen zu vereinbaren, stoßen auf Ablehnung, denn die Kapitalseite bevorzugt Regelungen, die den Unternehmen Flexibilität ermöglichen und den Beschäftigten Anpassung abverlangen. Der Produktivitätszuwachs der vergangenen Jahrzehnte könnte zumindest durch Arbeitszeitverkürzungen ausgeglichen werden, zum Beispiel eine Viertagewoche mit maximal 30 Arbeitsstunden. Doch die Tendenz geht in die andere Richtung: Arbeitsplätze werden abgebaut, und wer bleibt, darf noch mehr schuften.

Die Erfahrung aus den großen Konflikten um die Einführung der 35-Stunden-Woche in den achtziger Jahren hat gezeigt: Obwohl die Arbeitszeit einvernehmlich verkürzt wurde, kam es zu Arbeitsverdichtung und Rationalisierung. Und vor allem stimmte die Kapitalseite der Arbeitszeitverkürzung nach den monatelangen Streiks in der Druck- und Metallindustrie nur zu, weil die Gewerkschaften im Gegenzug einer Flexibilisierung zugestimmt ­hatten.

Während die 35-Stunden-Woche in vielen Branchen nie galt und in der Metall- und Druckindustrie durch flexibilisierte Regelungen unterlaufen werden kann, ist in anderen Branchen das Normalarbeitsverhältnis aufgeweicht worden, und insbesondere im Dienstleistungssektor sind unvorteilhafte, kaum regulierte Arbeitszeitregelungen alltäglich geworden. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche war trotz hohen Einsatzes eine Niederlage und nicht etwa ein Sieg, wie es in der gewerkschaftlichen Geschichtsschreibung und auch von linken Organisationen gerne behauptet wird. Aber der Versuch, sich für betriebliche Abwehrkämpfe zu ­organisieren und zu stärken, verdient jede Unterstützung, Niederlage hin oder her. Denn ohne diese Organisierung wäre die Übermacht der Kapitalseite noch erdrückender.