Ein Gespräch mit Kapitän Ingo Werth über sieben Jahre zivile Seenotrettung

»Wir werden die Menschen nicht ertrinken lassen«

Interview Von Linn Vertein

Das Sterben im Mittelmeer nimmt wieder zu und die EU schottet sich weiter ab. Kapitän Ingo Werth ist seit 2015 in der zivilen Seenotrettung aktiv und spricht mit der »Jungle World« darüber, was sich seitdem verändert hat.

Sie sind vergangene Woche von zwei dreiwöchigen Missionen im zen­tralen Mittelmeer vor der libyschen Küste zurückgekommen. Was waren Ihr Eindrücke?

Da ist nach wie vor unglaublich viel Betrieb. Menschen, die auf der Flucht vor Verelendung, Hoffnungslosigkeit, Dürre, Krieg, Folter, Vergewaltigung und Verfolgung sind, aus den unterschiedlichsten Ländern kommen und wirklich tragische Geschichten haben. Es kümmert sich niemand um sie, außer denen, die privat Seenotrettung betreiben. Es gibt von staatlicher Seite nichts, was verhindern würde, dass die Menschen dort hoffnungslos ersaufen.

Wie sehen Ihre Missionen aus?

Wir haben unterschiedliche Schiffe. Die großen nehmen die Leute an Bord, die kleinen Schiffe tun das nur dann, wenn die Alternative wäre, dass sie ertrinken, weil der schlechte Zustand ­ihres Bootes über längere Zeit nicht zu kompensieren oder das Wetter zu heftig ist. Wenn wir sie an Bord nehmen, müssen wir unter Umständen lange warten. Gegen Ende der letzten Mission hatten wir eine Gruppe von Menschen aus Bangladesh an Bord und mussten 96 Stunden warten, bis wir sie an Land bringen durften.

Wie kommen Menschen aus Bangladesh auf ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer?

Schon seit 2016 habe ich immer wieder Menschen aus Bangladesh an Bord gehabt. Sie fliehen aus der Sklaverei in Libyen. In Bangladesh werden sie von sogenannten Agenten angeheuert, die ihnen Arbeit in Libyen und einen Tageslohn von zehn US-Dollar versprechen. Dann werden sie mit Charterflugzeugen aus Bangladesh ausgeflogen. Der Flug über Dubai nach Tripolis ohne Rückreise kostet sie 4 000 US-Dollar. Das müssen sie zunächst abarbeiten, wenn sie das Geld vorher nicht gehabt haben. Von den versprochenen zehn Dollar pro Tag zahlt man ihnen in der Regel zwei Dollar aus und die anderen acht steckt sich wer anders in die Tasche. Ihnen werden die Pässe abgenommen, und so sind sie im Prinzip Sklaven der Menschen, die sie dort arbeiten lassen.

»Es gibt von staatlicher Seite nichts, was verhindern würde, dass die Menschen hoffnungslos ersaufen.«

Aus dieser Situation heraus entscheiden sie sich zur Flucht. Jeder Einzelne von ihnen hat für einen Platz auf dem Boot 2 000 Dollar bezahlt. Wie sie diese 2 000 Dollar zusammenkriegen, weiß ich nicht. Jemand hat mir erzählt, dass er in Bangladesh ein kleines Grundstück hatte, das er dafür verkauft hat. Das Schlimme ist, dass diese Menschen ­natürlich überhaupt keine Chance auf Asyl in Europa haben. So haben sie eine 6 000 Dollar teure Rundreise gemacht, die sie völlig verarmen lässt und im Ansehen ihrer Familie komplett ruiniert. Denn die Familie, die Nachbarschaft oder die Community hat dann gegebenenfalls nochmal ­zusammengelegt, um sie aus dieser Sklavensituation zu befreien. Und dann stehen sie irgendwann wieder vor der Tür, das ist für sie fatal.

In welchem Gewerbe arbeiten diese Menschen?

Im Baugewerbe, zum Beispiel im Straßenbau und im Hochbau. Es sind viele ungelernte Leute dabei, teilweise sehr junge Menschen, die etwa mit 19 Jahren aufbrechen. In Bangladesh haben sie vielleicht als Teppichknüpfer gearbeitet, Haare geschnitten, Zigaretten oder Schuhe verkauft. Solche Jobs bringen einen Monatslohn von ungefähr 100 Dollar.

Sie sind seit sieben Jahren als Kapitän in der zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer aktiv. Was hat sich über diesen Zeitraum verändert?

Ich war Kapitän auf der »Sea-Watch I«, als wir am 2. Juni 2015 den ersten Einsatz der zivilen Seenotrettung begannen. Seitdem hat sich einiges verändert. Europa schottet sich deutlich stärker ab. Früher war es so, dass wir die italienische Seenotleitstelle anrufen konnten, wenn wir Menschen in Seenot gefunden hatten. Sie haben die dann abgeholt, ein Frontex-Schiff oder die italienische Küstenwache geschickt. Das gibt es so nicht mehr. Heute muss man bei jedem einzelnen Boot darum kämpfen, dass es abgeholt wird.

Wie hat sich die Präsenz der verschiedenen Akteure auf dem Mittelmeer verändert?

2016 und 2017 gab es noch Frontex-Schiffe. Irische und norwegische Frontex-Schiffe nahmen bis zu 1 000 Leute an Bord und holten sie auch bei uns ab. Die EU hat das immer weiter eingeschränkt. Die Arbeit wird uns inzwischen viel schwerer gemacht. Staaten wie Malta kommen ihren Verpflichtungen in ihrer Such- und Rettungszone überhaupt nicht nach. Die legen den Hörer auf, wenn wir anrufen, weil wir Menschen in Seenot gefunden haben, lassen uns komplett ins Leere laufen. Wer sich letztendlich der Sache ­annimmt, das sind die Italiener. Aber auch sie können die Situation so nicht bewältigen. Das Lager von Lampedusa ist am vorvergangenen Wochenende, beziehungsweise final am Montag voriger Woche, evakuiert worden. Es wurde ursprünglich für 350 Leute gebaut und nun waren mehr als 1 800 Leute drin. Sie schliefen im Freien, der Müll wurde nicht abgeholt. Daher hat ein italienisches Kriegsschiff das Lager evakuiert und die Menschen nach Sizi­lien gebracht. Von dort werden sie auf andere Lager verteilt.

Die Menschen von Lampedusa sind ganz bemerkenswert. An der Südspitze der Insel haben sie 2008 ein Tor nach Süden gebaut. Es ist sehr beeindruckend. Das offenen Tor soll den ankommenden Menschen zeigen: Wir sind für euch da, wir sind offen für euch – obwohl Lampedusa unter den Bedingungen der Flucht unglaublich gelitten hat, weil der Tourismus sehr stark zurückgegangen ist. Trotzdem hört das Engagement dort nicht auf.

Welche Rolle spielt die libysche ­Küstenwache?

Die sogenannte libysche Küstenwache hat sich 2016 aus einzelnen Milizen gebildet, die zuvor im Land marodierten und Kriege führten; sie unterstanden zunächst keinem Dachverband, das hat sich heute geändert. Nach wie vor agieren manche autonom und anders als man es von einer Küstenwache erwarten würde. Sie wenden Gewalt an und brechen das Recht. Die früheren Milizionäre, die 2016 unterwegs waren, hatten überhaupt keine Ahnung von der Seefahrt. Mir selbst sind zwei libysche Küstenwachschiffe schon in die Seiten des Schiffs gefahren. Sie waren teilweise gar nicht in der Lage, sich auf See zu orientieren, wussten nicht, welches ihre territorialen Gewässer sind oder welche Schifffahrtsrechte gelten.

Die EU rüstet diese Leute auf und finanziert sie. Fast 100 Millionen Euro hatten sie bereits Anfang 2020 aus EU-Mitteln erhalten. Die EU hat sie außerdem mit Küstenwachschiffen ausgestattet. Ich bin selbst schon von niederländischen Küstenwachschiffen mit libyscher Besatzung angegriffen worden. Das hat zum Tod von 25 Menschen geführt, die wir gerade gesichert hatten und die bei diesem Überfall ertrunken sind. Die »libysche Küstenwache« hat sehr viele Menschenleben auf dem Gewissen. Ins Wasser stürzende Menschen hat sie hinter sich her geschleift oder überfahren. Vergangenes Jahr haben sie Flüchtlingsboote durchs Meer gehetzt und beschossen und auch unsere Schiffe und Besatzungen wurden immer wieder von dieser sogenannten Küstenwache bedroht.

Die zivile Notrettung 2015 begann unter dem Eindruck einer akuten Notlage. Niemand dachte damals daran, diese Arbeit über Jahre fortzuführen. Stattdessen wurde ganz klar formuliert, dass man auf Dauer keine Aufgabe übernehmen möchte, die eigentlich eine staatliche wäre. Das steht doch sehr im Kontrast zur heutigen Lage. Was denken Sie dazu?

Das sagt sich so leicht. Als wir 2015 ­angetreten sind, war das eine Reaktion darauf, dass Italien die Operation »Mare Nostrum« eingestellt hatte. Das Land steckte in einer Wirtschaftsrezes­sion und wollte sich die neun Millionen Euro, die das Programm monatlich ungefähr kostete, nicht mehr leisten. Die EU lehnte eine Beteiligung ab. »Mare Nostrum« war ein unglaublich effizientes Programm der italienischen Seestreitkräfte. Sie haben 150 000 Leute auf dem Mittelmeer gerettet. Als es eingestellt wurde, haben wir den Verein Sea-Watch gegründet. Unsere Ansage war von Anfang an, dass das oberstes Ziel ist, uns überflüssig zu machen. Entweder weil es legale Fluchtwege gibt oder aber weil staatliche Stellen ihre Pflicht zur Seenotrettung erfüllen. Das ist bis heute nicht erfolgt. Es ist alles viel schlimmer geworden und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es in absehbarer Zeit eine Lösung gibt.

Wie blicken Sie in die Zukunft?

Wir werden so weitermachen und wir werden die Menschen nicht ertrinken lassen. Für alles, was danach kommt, sind die staatlichen Stellen verantwortlich.