Der analoge Mann in der Kunstscheune

Der analoge Mann

Poeten und Proleten.

Von Maine aus fahren wir am Wochenende nach Red Hook, New York. Jedes Jahr veranstaltet ein Freund von Julia, ein bekannter Autor, auf seinem Hof einen barn dance, eine Scheunenparty mit Poeten. Einige Autoren werden auf einer kleinen Bühne auch etwas vortragen. Wie in Maine ist es auch hier im ländlichen Raum des Bundesstaats New York sehr grün. Weite Felder säumen links und rechts die Landstraßen. In den rund acht Stunden auf den verschiedenen Highways sehe ich ­keine Autos, die älter als zehn Jahre alt sind. Viele SUV, kaum kleinere Wagen. US-amerikanische Highways waren in der Vergangenheit immer auch ein Schrottkarrenmuseum. Ein herrliches Rostlauben-Panorama vergangener Jahrzehnte. Aber das hat sich wohl geändert. Als ich am Abend auf der Party verschiedene Leute zu dieser Beobachtung befrage, bekomme ich zwei unterschiedliche Antworten. Doug, Lehrer in der Erwachsenenbildung, sagt, das liege daran, dass alte Autos einfach keine Zulassung mehr erhielten und das Proletariat sich somit keine Autos mehr leisten könne. Greg, Indie-Rockmusiker und Betreiber ­eines Tonstudios, sagt, es liege daran, dass die Finanzierung von Neuwagen durch Kredite viel leichter gemacht würde. Die Wahrheit wird wohl irgendwo dazwischen liegen.

Ebenso sehe ich auf der Reise an der Ostküste der USA nur gepflegte Häuser. Es scheint so, als würden nur noch Leute Häuser besitzen, die es sich leisten können, sie instandzuhalten. Greg versichert mir allerdings, es gebe sehr viele Gegenden, die ganz anders aussähen. Ich hätte nur die reiche Ostküste gesehen, einen exklusiven Ausschnitt.

Als das Fest beginnt, geht der Gastgeber auf die Bühne und kündigt den ersten act an, eine zierliche, weißhaarige Banjospielerin. Es folgt eine junge Frau, die Gedichte vorträgt, die sie aus dem Persischen übersetzt hat. Danach singt sie ein persisches Lied, sehr kunstvoll. Dann liest eine Autorin, die mit 55 gerade ihr erstes Buch veröffentlicht hat. Sie betont stolz, dass ihre Verlegerin nicht verstehe, um was es in ihren Texten geht. Ich verstehe ebenfalls nur Bahnhof. Im Auto hatten unsere Freundin Liz und ich stundenlang versucht, Julia zu bequatschen, auf der Scheunenbühne aus dem Buch von Danielle Steel zu lesen, das sie in Portland im »Goodwill« für einen Dollar gekauft hatte. Seit Tagen hat sie uns mit Begeisterung daraus vorgelesen. Danielle Steel hat 190 Bücher geschrieben und 800 Millionen Bücher verkauft. Wir malten uns aus, wie Julia der versammelten Künstlerschar die dramatische Schüsselszene vorlesen würde, in der die Hauptfigur in einem Unfall so schwer verletzt wird, dass sie sogar ihr Gesicht verliert. Jahre später trifft sie nach verschiedenen kosmetischen Operationen ihren ehemaligen Mann wieder, der sich nach dem Unfall von ihr getrennt hatte. Julia sarkastisch: »Like, how can she face him, when she has no face, right?« Hart und zielgenau würde die vulgäre Mainstream-Prosa-Steel-Faust die Poeten treffen, und durch die Art und den Ort des Vortrags würde Trash in Kunst transformiert. Zum Glück lehnte Julia ab. Es tritt ein Zwillingspaar auf. Eine der beiden Frauen singt Karaoke, die zweite singt und spielt Gitarre. Beide hatten als Kinder schwere Verbrennungen erlitten. Es war schmerzhaft, ihnen zuzusehen. Der Da­nielle-Steel-Text wäre sehr unpassend gewesen.

Am Morgen nach der Party bringt uns Liz zum Flughafen. Acht Stunden später kommen wir in Stockholm an. Den Rest unserer Reise verbringen wir in Herräng, dem größten Swing-Dance-Camp der Welt. Nach zwei Jahren Pandemie-­Pause finden sich Leute aus der ganzen Welt zum Paartanz, als sei nichts gewesen. Der Sommer ist für schwedische Verhältnisse ungewöhnlich trocken und heiß. Wie an der US-amerikanischen Ostküste ist dennoch überall sattes Grün zu sehen. Wir verbringen viel Zeit am Strand. Abends geht’s zur Ansteckungsparty. Nur vereinzelt tragen Leute Maske. Das Camp hat keinen Coronaplan. Das ist in Schweden nicht mehr vorgeschrieben. Am nächsten Morgen bekommen wir Nachricht von unserem amerikanischen Gastgeber, der mittlerweile in Italien ist. Er ist positiv, sagt: »Leute, lasst euch testen.« Eine US- amerikanische Freundin meint: »Tanzt, solange ihr könnt.« Im Gruppenchat taucht plötzlich ein Vorwurf auf: »I bet he got it from those non-mask-wearing Europeans.« Eine Anspielung auf uns und darauf, dass in Flügen aus Europa keine Maskenpflicht mehr besteht. Julia schreibt: »Wir haben uns laufend getestet und eine Woche vor der Party an einem einsamen See im Wald verbracht.«

In Herräng ist nun auch eine positiv getestete Frau zu Gast, die sich in ihrem Caravan selbst isoliert. Gestern meldete dann auch ein Bewohner aus unserem Haus ein positives Testergebnis. Er wohnt in einer umgebauten Garage. Wir bringen ihm Essen und bleiben auf Abstand. In der Nacht schlafen Julia und ich schlecht und wachen mit Kopfschmerzen auf. Wir testen uns selbst. Negativ. Dann ist es wohl doch nur der Aperol Spritz, den die Italiener mitgebracht hatten.