Ausgebeutet in der EU

Die Republik Moldau gehört zu den ärmsten Ländern Europas. Der Krieg in der Ukraine hat die Probleme noch vergrößert. Wie Ewa* verlassen viele das Land auf der Suche nach Arbeit, sie finden oft nur Prekarisierung und Ausbeutung.

Ewa* hasst alles hier: das kleine Zimmer, das sie sich teilen muss; die dreckigen Gemeinschaftsduschen, die Toilette auf dem Gang; den ständigen Lärm und die Streitereien unter ihren Nachbarinnen und Nachbarn; dass sie nie ihre Ruhe hat und vor allem, dass sie hier gelandet ist. Die Obdachlosenunterkunft befindet sich im Osten Berlins, zum nächsten S-Bahnhof fährt alle 20 Minuten eine Tram. Nachts oder wenn man die Tram verpasst hat, muss man laufen, 20 Minuten dauert der Weg zu Fuß – vorbei an einer Tankstelle, Kleingartenanlagen und einem Friedhof. Länger braucht man, wenn man wie Ewa hochschwanger ist und nur langsam gehen kann.

Als Ewa vor drei Jahren aus der Republik Moldau in Berlin ankam, hatte sie einiges durchgemacht. Es hatte nicht mehr viel gegeben, was sie noch in Moldau gehalten hätte. Berlin sollte ihr Neuanfang sein für ein besseres Leben, eines in Würde statt in Armut.

Wie Ewa verlassen jedes Jahr Tausende junger Menschen die Republik Moldau auf der Suche nach Arbeit in Richtung EU. Als Eintrittskarte zum EU-­Arbeitsmarkt dient die rumänische Staatsbürgerschaft, die für moldauische Staatsbürgerinnen und -bürger meist einfach zu bekommen ist.

»Ich sollte zehn Tage am Stück arbeiten, die Arbeit war schwer und es gab keine Pausen.« Ewa*, Arbeitsmigrantin aus Moldau

In den neunziger Jahren und Anfang der Nuller führten die Routen der Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau vor allem nach Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Russland. Deutschland ist erst seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 als Zielland immer wichtiger geworden. Von den rund 3,2 Millionen Moldauerinnen und Moldauern arbeitet heute schätzungsweise eine Million im Ausland. Und das sind nur die offiziellen Zahlen.
Die hohe Auswanderungsrate hat gravierende soziale und wirtschaftliche Folgen für das kleine Land: Zwar tragen die Rücküberweisungen der Moldauerinnen und Moldauer wesentlich zur Stabilisierung der Wirtschaft bei, gleichzeitig bremsen sie die wirtschaftliche Entwicklung an Ort und Stelle. Außerdem fehlen die Menschen – in den Betrieben, an den Universitäten, in den Familien.

Miese Arbeitgeber
In Berlin fing Ewa an zu arbeiten. Ihr Bruder, der schon vor ihr nach Berlin gekommen war, verschaffte ihr eine Stelle. Alle ihre Geschwister arbeiteten in der EU. Ewa putzte in verschiedenen schicken Hotels in Berlin-Mitte. Die Arbeit sei in Ordnung gewesen, sagt sie heute, aber nach drei Monaten war Schluss: Immer wieder habe der Chef sie dazu gedrängt, mit ihm ins Bett zu gehen. Sie sagt: »Er war alt, er hatte eine Tochter in meinem Alter.« Er habe gesagt, sie solle sich nicht so anstellen, das hier sei schließlich Berlin und gehöre eben dazu. Als sie sich weigerte, schmiss er sie raus.

Von ihrem Zimmer in Spandau, das sie von einem Ukrainer gemietet hatte, fuhr sie mit dem Fahrrad zu ihrem nächsten Arbeitsplatz, einer Filiale einer großen Supermarktkette. Auch dort putzte sie, ein Jahr lang wischte sie Böden und schrubbte Regale. Als sie einmal auf dem Weg von der Arbeit nach Hause mit dem Fahrrad stürzte, ging sie nicht zum Arzt. Es werde schon nicht so schlimm sein, habe sie gedacht. Später habe sie jedoch gemerkt, dass der Arm nicht aufhörte zu schmerzen. Als sie auf der Arbeit wegen der Verletzung ausfiel, erklärt ihr ihre Chefin, dass sie gehen müsse, und ließ sie ein Formular unterschreiben. Ewa verstand kein Deutsch und sie wusste auch nicht, dass sie das Papier, das ihr die Chefin vorlegte, nicht unterschreiben muss.

Erst als sie sich hilfesuchend ans Jobcenter wandte, wurde Ewa klar, dass sie ihre eigene Kündigung unterschrieben hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits über zwölf Monate in Deutschland gearbeitet, mit der Unterschrift verlor sie ihren Anspruch auf Sozialleistungen. Wenig später verlor sie auch ihr Zimmer in Spandau.

Für Sergiu Lopată vom Beratungszentrum Migration und Gute Arbeit (Bema) ist das nichts Neues. »Es ist gang und gäbe, dass Menschen Verträge vorgelegt werden, die sie nicht verstehen«, sagt er. Aus seiner Sicht sei diese Praxis blanke Täuschung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bema beraten Migrantinnen und ­Migranten zu arbeits- und sozialrechtlichen Fragen, schreiben Briefe an ­Arbeitgeber, klagen vor Gericht nicht gezahlten Lohn ein. Im vergangenen Jahr hat das Bema Tausende Menschen beraten, darunter Hunderte aus Moldau und Rumänien.

In der Beratung erlebt Lopată jeden Tag, wie sehr die Bereiche, in denen Migrantinnen und Migranten vornehmlich arbeiten, geprägt sind von Ausbeutung und Prekarisierung. Ob in der Reinigungs- oder Baubranche, Arbeitgeber missachteten oder umgingen wissentlich reihenweise arbeitsrechtliche Bestimmungen, sagt er. Nicht nur, dass Verträge absichtlich nicht übersetzt würden, es komme auch immer wieder vor, dass Arbeitsverträge zwar versprochen, aber nie vorgelegt werden. Menschen arbeiten monatelang, ­sehen aber nie ihren versprochenen Lohn, so Lopată.

Von Job zu Job
Nachdem Ewa ihre Stelle verloren hatte, arbeitete sie auf einer Baustelle – diesmal ohne Anmeldung. Ein Bekannter zeigte ihr, wie man Terrazzo-Fliesen klebt. »Die Arbeit war schwer«, sagt sie, »da haben außer mir nur Männer ge­arbeitet.« Nur einen Monat konnte sie dort bleiben. »Ich musste einfach schnell Geld verdienen, um aus diesem Loch herauskommen«, erinnert sie sich. Für ein paar Monate kam sie bei einer Frau in Marzahn unter, später zog sie bei einem befreundeten rumänischen Paar ein. Diese Zeit sei schön gewesen, sagt Ewa: »Es war wie in einer Familie.«

Für kurze Zeit fand sie eine Anstellung in einem Pflegeheim, danach putzte sie in einer Botschaft. »Es war die erste Arbeitsstelle, die mir gefallen hat«, sagt Ewa. Dort hatte sie ihre Ruhe, putzte allein ein ganzes Stockwerk. Sie habe Hoffnung geschöpft damals: »Der Chef war nett, ich dachte, dass ich sogar einen längeren Arbeitsvertrag bekommen könnte.«

In dieser Zeit lernte sie auch einen Mann kennen; er war jünger als sie, hatte ein Auto und eine hübsche Wohnung am Alexanderplatz. Auch wenn sie keine gemeinsame Sprache gehabt hätten, hätten sie sich gut verstanden, viel Spaß gemeinsam gehabt, erzählt Ewa. Ende des vergangenen Jahres merkte Ewa, dass sie schwanger ist. »Er wollte, dass ich das Kind abtreibe«, sagt sie und fährt mit ihren Händen über ihren runden Bauch, der inzwischen unübersehbar ihr langes Kleid wölbt. Ihre Fingernägel sind unlackiert und kurz geschnitten. Sollte sie abtreiben, könnte sie vielleicht nie ein Kind haben, habe ihr ein Arzt damals erklärt, sagt sie. Sie hat sich für das Kind und gegen den Mann entschieden.

Ewas Haare sind lang und dunkel und fallen glatt über ihre Schulter und auf ihren Rücken. Sie rutscht auf dem harten Stuhl hin und her, der große Bauch macht es ihr unbequem zu sitzen. Seit mehreren Monaten wohnt Ewa in einer Obdachlosenunterkunft. Das Haus liegt direkt an einer großen Straße. Es ist ein langgestrecktes, zweistöckiges Gebäude, die Fassade scheint leuchtend blau durch die Bäume, ein hoher Zaun umgibt das Grundstück. Unklar ist, wen der Zaun schützen soll – die Menschen in der Unterkunft oder die Anwohner. Über das schmale Tor im Zaun wacht ein Sicherheitsdienst.

Als sie im März einzog, sei ihr immer kalt gewesen, sagt Ewa. »Die Heizung wurde einfach nicht richtig warm.« Manche der Bewohnerinnen und Bewohner seien krank, sie habe Angst, sich anzustecken. »Wie soll ich hier mit einem Neugeboren leben?« fragt sie.

»Es ist gang und gäbe, dass Men­­schen Verträge vorgelegt werden, die sie nicht verstehen.« Sergiu Lopată, Beratungszentrum Migration und Gute Arbeit

Anfang des Jahres verlor sie ihre Anstellung in der Botschaft; es habe kein Schreiben, keine Kündigung gegeben, sagt Ewa, nur eine SMS: »Kommen Sie nicht mehr.« Die Kündigung fiel in die Probezeit. Bei dem rumänischen Paar musste sie ausziehen, es billigte ihre Schwangerschaft nicht. Wieder stand sie vor dem Nichts.

Über Kontakte erfuhr sie von einer Reinigungsfirma, die einstellte. Sie ­bekam einen Vertrag über sechs Monate. Aus Angst, die Stelle zu verlieren, ­erzählte Ewa niemandem von ihrer Schwangerschaft. Diesmal putzte sie in öffentlichen Gebäuden, wischte die Böden und schrubbte die Toiletten in Berliner Universitäten. Die Arbeit war anstrengend und die Schwangerschaft machte sie immer schwerer. Als die ­Geschäftsführung von ihrer Schwangerschaft erfuhr, verkürzte diese kurzerhand den Vertrag um drei Monate. Doch so lange hielt Ewa nicht durch. Als sie die Schichten einer ausgefallenen Kollegin zusätzlich übernehmen musste, brach sie zusammen. »Ich sollte zehn Tage am Stück arbeiten, die Arbeit war schwer und es gab keine Pausen« – nach einer Woche gab sie auf.

Wieder wurde ihr ein Schreiben auf Deutsch vorgelegt, wieder unterschrieb sie auf Drängen ihres Arbeitgebers, diesmal einen Aufhebungsvertrag. Als ihr auch nach Wochen der ausstehende Lohn nicht gezahlt wurde, ging sie zum Chef. Sie habe geweint und geschrien, aber er habe ihren Lohn nicht zahlen wollen. Sie erzählt: »Er hat gesagt, dass ihm meine Haltung nicht gefällt.« Ewa sei verzweifelt gewesen: »Ich hatte kein Geld. Ich hatte offene Bußgelder bei der BVG zu bezahlen, weil ich mir kein Ticket leisten konnte, ich konnte mir nicht einmal ­etwas zu essen kaufen.« Erst als sie mit der Polizei gedroht habe, habe er ihr ein Bündel Scheine in die Hand gedrückt. »Es war sehr demütigend für mich«, sagt Ewa. Ende März ging sie durch das schmale Tor der Obdachlosenunterkunft.

Schlecht informiert
Lopată zufolge sind gerade große Reinigungsfirmen für solche Methoden berüchtigt. Auch die Firma, für die Ewa gearbeitet hat, ist der Bema gut bekannt. Besonders inakzeptabel sei, dass es sich dabei oft um Unternehmen handele, die auch mit öffentlichen Geldern ­bezahlt werden würden, sagt Lopată.

Berlin beauftragt private Firmen mit der Reinigung öffentlicher Gebäude. »Das führt dazu, dass Reinigungskräfte meistens unter sehr stressigen Bedingungen arbeiten«, sagt Lopată. Außerdem seien Arbeitsverträge fast immer auf maximal sechs Monate befristet, da danach der gesetzliche Kündigungsschutz greifen würde.

Zeitknappheit bei der Arbeit, Teilzeitverträge für eine reale Vollzeitbeschäftigung, Befristung, nicht bezahlte Arbeitswege und Missachtung von ­Urlaubs- und Krankentagen – all das ist Lopată zufolge üblich in der Branche. Eine Masche zur Umgehung arbeitsrechtlicher Bestimmungen sei auch die Umgestaltung von Firmen, erklärt Lopată: »Nach ein paar Monaten wird eine neue Firma gegründet und von der alten werden alle Mitarbeiter gekündigt, um sie dann bei der neuen Firma wieder einzustellen – dabei bleibt die Geschäftsführung dieselbe.« Der gesetzliche Kündigungsschutz gelte dann nicht mehr.

»Es ist ein großes Problem, dass sich die Menschen nicht vorher informieren, welche Arbeitsbedingungen in Deutschland herrschen und welche Rechte sie haben«, sagt der Bema-Be­rater. Hinzu kämen fast immer fehlende Sprachkenntnisse – das alles mache die Menschen vulnerabel für Ausbeutung.

Es gebe, so Lopată, in Moldau auch falsche Vorstellungen von der Arbeit und dem Leben in Deutschland, etwa »dass es einfach sei, eine Arbeit zu finden, dass die Löhne hoch seien und dass es einfach sei, eine Wohnung zu bekommen«. Das liege auch daran, dass die Migrantinnen und Migranten in ihren Heimatländern nicht von ­ihren Problemen berichten würden: »Niemand will als Loser dastehen – deswegen erzählen alle nur ihre Erfolgsgeschichten.«

Lopată kommt selbst aus Moldau, hat als Jurist bei der moldauischen Botschaft in Berlin gearbeitet. Auch in Moldau wird nach Wegen gesucht, die Menschen besser vor Ausbeutung im Ausland zu schützen, konkrete Maßnahmen gibt es bislang aber nur für Saisonarbeiterinnen und -arbeiter, für die es mit manchen Ländern, zum Beispiel Deutschland, Abkommen gibt. »Moldau versucht auch immer mehr, die Menschen im Land zu halten«, sagt Lopată, »aber solange es in diesem Land keine Perspektive gibt, kann man dieses Phänomen nicht stoppen.«

Mittlerweile ist Ewa 30 Jahre alt, in wenigen Wochen wird ihre Tochter auf die Welt kommen. Ihre Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, bereut sie nicht. Nach Moldau zurückzukehren, ist für sie keine Option, erst recht nicht seit dem Beginn des Kriegs im Nachbarland Ukraine. Nur wenige Kilometer liegen zwischen ihrem Heimatort Taraclia und der ukrainischen Grenze. Der Krieg verschlimmert die Situ­ation in ihrem Herkunftsland, vergrößert die Unsicherheit. »Dort gibt es ­keine Zukunft für mich«, sagt sie.

* Name von der Redaktion geändert.

Diese Reportage entstand im Rahmen eines Projekts des Osteuropa-Instituts der FU Berlin.