Die neue britische Premierministerin Elizabeth »Liz« Truss ist mit ökonomischen Problemen konfrontiert

Mehr Ausgaben, weniger Steuern

Die neue britische Premierministerin Elizabeth »Liz« Truss ist mit einer ökonomischen Krise konfrontiert, die derzeit in starker Inflation und bald wohl auch in einer Rezession zum Ausdruck kommt.

Der Kampf um die Nachfolge Boris Johnsons ist entschieden: Die 47jährige Eli­zabeth »Liz« Truss konnte vorige Woche bei der Wahl zum Vorsitz der Konservativen Partei 57 Prozent der von den 160 000 Mitgliedern abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen, wodurch ihr auch das Amt der Premierministerin zufiel. Sie war seit 2010 Unterhausabgeordnete und zuletzt Außenminis­terin in der Regierung des am 6. September zurückgetretenen Premierministers Boris Johnson. Truss gewann gegen den am 1. Juli zurückgetretenen Finanzminister Rishi Sunak, der zunächst als Favorit galt, weil er den größten Teil der Unterhausfraktion hinter sich hatte.

Die Parteimitglieder entschieden sich anders: Zum einen galt Truss als loyaler zu dem von vielen Parteimitgliedern immer noch verehrten Boris Johnson. Sunak warfen sie hingegen vor, Johnsons Sturz mit ausgelöst zu haben. Zum anderen bevorzugen viele Parteimitglieder das Programm von Truss. Sie steht für einen radikalen Marktliberalismus, verspricht die Rücknahme einiger von Sunak schon implementierter oder geplanter Steuererhöhungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Unternehmen. Gleichzeitig will sie aber auch mehr Geld für Verteidigung und Militär, zudem für Investi­tionen in Straßenbau und Internet ausgeben und hält damit Elemente der von Johnson betrieben Politik des levelling up aufrecht, also des Versuchs, durch Investitionen in die Infrastruktur die gravierenden Wohlstandsunterschiede zwischen Südostengland und dem Rest des Vereinigten Königreichs auszugleichen.

Derzeit streiken die Strafverteidiger; Krankenpfleger und Universitäts­lehrer halten Urabstimmungen ab.

Zur Liste der geplanten Ausgaben und Steuererleichterungen (die Schätzungen zufolge mindestens 50 Milliarden Pfund kosten werden) kommen, so viel ist seit voriger Woche klar, nun auch noch etwa 100 Milliarden Pfund für ­einen neuen »Energiepreisdeckel«; ­allerdings gibt es im Finanzministerium Befürchtungen, dass dessen Kosten noch weit höher ausfallen könnten. Die Maßnahme soll mindestens bis 2024 gelten, für alle Privathaushalte und in modifizierter Form auch für öffentliche Einrichtungen sowie kleine und mittlere Unternehmen. Den Unterschied zwischen dem jeweiligen Marktpreis für Energie und dem regulierten Preis erstattet die Regierung den Energieversorgungsunternehmen, finanziert durch Neuverschuldung. Die Energiekosten werden auf 2 500 Pfund im Jahr für einen Haushalt mit durchschnittlichem Verbrauch gedeckelt. Truss hatte sich zunächst gegen einen solchen Eingriff gewehrt, musste aber dem politischen Druck nachgeben. Gleichzeitig bekräftigte sie, es werde keine Übergewinnsteuer für die Energieunternehmen mehr geben; dies sei nicht vereinbar mit einer auf Wettbewerb und Wachstum ausgerichteten Politik.

Der Vorsitzende der Labour-Partei, Keir Starmer, der im Sommer bereits ­einen Energiepreisdeckel gefordert hatte, kritisierte den Plan der Regierung als unzureichend (die gedeckelten Ausgaben des Durchschnittshaushalts für Energie liegen bereits doppelt so hoch wie die Kosten für Energie im vorigen Winter) und ungerecht finanziert: Durch die Absage der Übergewinnsteuer würden die Kosten für den Preisdeckel in allererster Linie den britischen Bürgerinnen und Bürgern auferlegt, die langfristig die signifikanten Schulden abstottern müssten, während die Energieversorger, die derzeit Milliarden­gewinne machen, dafür kaum herangezogen werden.

Sunak hatte Truss bereits im Sommer vorgeworfen, ihre Finanzpläne seien »unkonservativ« und würden die Inflation weiter vorantreiben. Glaubt man dem neuen Finanzminister Kwasi Kwarteng, so ist das geplante deutlich erhöhte Haushaltsdefizit indes weniger problematisch, als die geldpolitische Orthodoxie suggeriert. In Anlehnungen an die sogenannte Modern Monetary Theory schrieb Kwarteng kürzlich in einem Zeitungsartikel, Großbritannien habe aufgrund seiner geldpolitischen Unabhängigkeit noch Spielraum für eine weitere Schuldenaufnahme. Inspiration sind dabei nicht zuletzt die USA, wo in den vergangenen Jahrzehnten vor allem konservative Republikaner die Schuldenaufnahme immer weitergetrieben haben, unter anderem um Militärkosten und Steuererleichterungen zu finanzieren. Kwarteng meint auch, die gegenwärtige Inflation sei nicht durch mangelnde öffentliche Finanzdisziplin ausgelöst worden, sondern durch den Gaspreisschock infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Doch auch andere staatliche Ausgaben werden steigen müssen. In weiten Teilen des öffentlichen Diensts und anderen vom Staat subventionierten Bereichen wie zum Beispiel im öffentlichen Verkehr (nur in London befindet sich das ÖPNV-System noch in öffentlicher Hand) rumort es unter den An­gestellten und Arbeiterinnen. Derzeit streiken die Strafverteidiger; Krankenpfleger und Universitätslehrer halten Urabstimmungen ab. Meist geht es um die Löhne und Gehälter, denn die von den Arbeitgebern angebotenen moderaten Erhöhungen können nicht mit der Inflation mithalten. Die neue Regierung weist (wie schon die alte) solche Forderungen zurück und scheut den Konflikt gerade mit den Gewerkschaften nicht; doch dürften die Staatsausgaben weiter signifikant steigen.

Die Bank of England, die britische Zentralbank, hat den Leitzins in den vergangenen Monaten deutlich erhöht, zuletzt auf 1,75 Prozent im August, weitere Erhöhungen gelten als sicher. Damit steigen die Kosten für Kredite, auch für den Staat, dessen Schuldendienst immer größere Teile des Haushalts bindet. Für den Rest des Jahres sowie für 2023 erwartet die Bank of England eine Rezession und in der Folge auch steigende Arbeitslosigkeit.

Truss benutzte in ihrer ersten Regierungserklärung das Bild eines Sturms, der nun auf das Land zusteuere, aber aus dem es gestärkt herauskommen werde. Truss ist bekannt für ihre eher hölzerne Rhetorik, gilt aber als detailversessen und fleißig und steht damit in deutlichem Kontrast zu ihrem Vorgänger. Sie kommt, für heutige konservative Politiker unüblich, aus der Mittelschicht und hat eine öffentliche Schule besucht; nicht wenigen gilt sie als ideologisch flexibel oder sogar opportunistisch.

Truss selbst bezeichnet ihre politischen Wandlungen gern als »Reise«. Ein Beispiel dafür ist ihre Kehrtwende in Hinblick auf den Austritt des Ver­einigten Königreichs aus der EU, den sie erst vehement ablehnte, nun aber ebenso vehement unterstützt. Als Außenministerin hatte sie bereits höchst angriffslustig in den komplexen Streit um das Nordirland-Protokoll inter­veniert und unter anderem ein Gesetz angekündigt, das weite Teile des Nord­irland-Protokolls des EU-Austrittsvertrags außer Kraft einseitig außer Kraft setzen sollte. Das brachte sie in Gegensatz zu Sunak, das Wohlwollen ihrer konservativen Parteifreunde hingegen war ihr sicher. Aus den Vereinigten Staaten gab es von der sehr proirischen Regierung unter Joe Biden gleich eine Warnung an die neue Premierministerin: Jedwede Bedrohung des nordirischen Friedensprozesses durch die britische Regierung, so hieß es, werde das Aushandeln des von den Briten ersehnten Freihandelsabkommens mit den USA erschweren. Die USA befürchten Spannungen in Nordirland, wenn eine EU-Zollgrenze den zum Vereinigten Königreich gehörenden Teil Irlands von der Republik trennen würde.

Eine ideologische Konstante für Truss ist, seit sie sich in Studententagen von einer Liberaldemokratin zur Konservativen wandelte, ohne Frage die Idee des »schlanken Staates«. Sie ist eine Co-Autorin des berüchtigten, 2012 erschienenen Sammelbands »Britannia Unchained« (unter den Autoren sind auch ihr Finanzminister Kwasi Kwarteng, der ehemalige Vizepremierminister Dominic Raab sowie die ehemalige Innenministerin Priti Patel). In dem Band suggerieren die Autoren unter anderem, Großbritannien müsse das Arbeitsrecht weiter liberalisieren, während Steuern gesenkt werden sollten. In einer höchst umstrittenen Passage wird den Briten vorgeworfen, arbeitsscheu zu sein. Auch die Regulierung, unter anderem im Umweltbereich, sei zu exzessiv und müsse abgebaut werden, um das volle Potential der Nation zu realisieren.

Zu dieser Ausrichtung passt, dass Truss im Rahmen im Rahmen der Bekanntgabe des Energiepreisdeckels bereits angekündigt hat, neue Lizenzen für den Abbau von Öl und Gas in Großbritannien zu erteilen und das 2019 eingestellte, sehr umstrittene Fracking in Großbritannien wiederaufnehmen. Mit der Ernennung des ultraliberalen Klimawandelskeptikers Jacob Rees-Mogg zum Wirtschafts- und Energieminister fürchten nicht wenige eine Abkehr von der durch Johnson zumindest theoretisch unterstützen Dekarbonisierung der Wirtschaft. Auch Johnsons Leidenschaft für Fahrradwege und den Eisenbahnausbau teilt Truss nicht.

Ob Truss die Abgeordneten ihrer Fraktion bei der Stange halten kann, ist fraglich. Ihre von Johnson geerbte Mehrheit im Unterhaus ist zwar groß, aber die Abgeordneten, so sagt man hierzulande, schulden ihr nichts. Viele bevorzugen den fiskalisch konservativeren Rishi Sunak und seine »solide« Finanzpolitik. Andere sind politisch eher der Mitte zugewandt und skeptisch gegen Truss’ radikal wirtschaftsliberale Orientierung. In ihrem neuen Kabinett sind diese beiden Positionen kaum vertreten. Sogar für einige ihrer derzeitigen Unterstützer gilt sie zudem wohl nur als Platzhalterin bis zu einer eventuellen Rückkehr Johnsons. Spekulationen darüber hatte Johnson in seiner Abschiedsrede jedenfalls kein Ende bereitet.

Entscheidend dürfte sein, ob es Truss gelingt, die Konservativen aus dem ­gegenwärtigen Umfragetief zu führen, und dazu hat sie nicht sonderlich viel Zeit: Neuwahlen muss Truss spätestens 2024 ausrufen.