Michail Gorbatschows Reformen in der Sowjetunion sind bis heute umstritten

Hoffnungsträger und Totengräber

Der letzte Generalsekretär der KPdSU, der erste und letzte Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, ist gestorben. Das Scheitern seines Versuchs, die Sowjetunion zu reformieren, geht alle Linke etwas an.

Im März 1988 löste ein in der Zeitung Sowetskaja Rossija abgedruckter Brief der Leningrader Chemiedozentin Nina Andrejewa eine heftige Kontroverse aus. Unter der Überschrift »Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben« ging die 1938 Geborene, eine bekennende Bewunderin Stalins, mit dem seit drei Jahren amtierenden Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Michail Gorba­tschow, hart ins Gericht. Sie zeigte sich überzeugt, dass dessen Reformen die Kernthesen des Leninismus preis­gäben und die politisch-ökonomische Ordnung der UdSSR gefährdeten.

Die Veröffentlichung des Briefs wirkte auf die Befürworter der Reformen so beunruhigend, dass sich in den folgenden Monaten die »fortschrittlichen« Funktionäre und führende Intellektuelle des Landes veranlasst sahen, der Leserbriefschreiberin zu antworten. Sie argumentierten, dass die Reformen Gorbatschows den sowjetischen Sozialismus gerade retten und zu bis dahin nie gesehenen Höhen weiterentwickeln würden. Der Generalsekretär selbst beteuerte beständig, dass seine Politik für »mehr« und nicht »weniger« Sozialismus stünde.

Gorbatschow glaubte wirklich an den Enthusiasmus der Sowjet­menschen, von dem die Partei­propaganda beständig redete.

Inzwischen lässt sich kaum mehr bestreiten, dass die Chemiedozentin gegenüber dem späteren Friedensnobelpreisträger im Kern recht behalten hat. Egal, ob man dem sowjetischen Sozialismusmodell hinterhertrauert oder es in Grund und Boden verdammt – die Reformen Gorbatschows mündeten ­jedenfalls in seinen Untergang. Erbitterter Streit herrscht lediglich über die Frage, was den am 30. August im Alter von 91 Jahren verstorbenen Gorbatschow dazu veranlasst hatte, den Reformprozess zu beginnen. In der Diskussion sind subjektive Erklärungen (sein persönlicher Verrat der sowjetischen Ziele oder sein aufrichtiger Glaube an den Erfolg seines Reformprogramms) ebenso zu vernehmen wie die objektivistische Ansicht, die schwere Krise der sowjetischen Wirtschaft habe die Reformen alternativlos gemacht. Vor allem die marktradikalen Reformer der ­Jelzin-Zeit argumentierten in bester »Histomat«-Manier, dass die UdSSR sich historisch überlebt habe. Heute vertreten jedoch immer mehr Forscher, die der Sympathien mit dem Realsozialismus gänzlich unverdächtig sind, die sogenannte Selbstmordhypothese: Gorbatschow habe die Reformen nicht begonnen, weil es nicht anders ging, sondern weil er wollte, dass es noch besser läuft.

In der Historiographie der Perestrojka-Ära ist schon seit längerem Konsens, dass die ersten Reformen ab 1986, die eher auf eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität als auf die Lockerungen der Zensur oder die Einführung von marktwirtschaftlichen Elementen zielten, den Kurs von Gorbatschows Förderer und Vorvorgänger als Ge­neralsekretär der KPdSU, Jurij Andropow, darstellten. In seiner Amtszeit, die nach nur 15 Monaten durch seinen Tod endete, sprach Andropow nicht nur von der Notwendigkeit, die Arbeitsdisziplin zu heben, sondern auch davon, den Betriebskollektiven mehr Verantwortung zu übergeben. Gorbatschow knüpfte zunächst daran an, schon bald durften die Belegschaften die Direktoren selbst wählen. Immer wieder sprach er davon, man solle den Sowjetmenschen mehr Raum für Initiative einräumen.

Das war der Punkt, an dem sich der Anführer der sowjetischen Weltmacht mit vielen linken Kritikern des Realsozialismus traf. Ob Anarchisten, Trotzkisten, Sozialdemokraten, alte und neue Linke – alle meinten, der Sozialismus werde viel besser laufen, wenn dort mehr »von unten« entschieden werde, wenn es Selbstverwaltung sowie mehr oder weniger freien Meinungsstreit gebe (in diesem Punkt gab es, je nach Richtung, dann doch Differenzen). In Teilen der KPdSU-Führung existierten vor ­allem unter Nikita Chruschtschow als Generalsekretär (1953–1964) Vorstellungen, der Staat solle einige seiner Funk­tionen an die Gesellschaft und die Partei abgeben, was praktisch die Verlagerung einiger Repressions-, Überwachungs- und Umerziehungsfunktionen an Parteizellen, Betriebskollektive, Nachbarschaftsversammlungen, Schulklassen und Studierendengruppen bedeutetet hätte. Die Prämisse solcher Ansätze lautete stets: Der Sowjetmensch habe die Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens so verinnerlicht, dass er, wenn man ihm die Initiative lasse, das Programm der Partei nur umso effektiver verwirklichen werde.

Da allerdings die Partei die Zustimmung zu ihrem Programm durch Zwang alternativlos machte, war das bei der Mehrheit der Führung vorherrschende Misstrauen gegenüber den sogenannten Massen durchaus begründet. Gorbatschow glaubte indes wirklich an den Enthusiasmus der Sowjetmenschen, von dem die Parteipropaganda beständig redete. Nachdem die ersten Reformen den gewünschten Effekt nicht gezeitigt hatten, kam er zu dem Schluss, es müsse noch viel mehr verändert werden. Die Menschen sollten mehr Eigeninitiative beim Aufbau des Sozialismus zeigen.

Mit Berufung auf Lenin und teilweise Marx ließ der Generalsekretär neue »Genossenschaften« (faktisch kleine Privatunternehmen) zu und gab den Betrieben mehr Selbständigkeit. Dies erschwerte die zentralisierte Planung jedoch erheblich. Die Staatsbetriebe, die nunmehr von der Belegschaft gewählte Direktoren hatten, erhöhten Preise und Löhne und begannen, vom Staat erhaltene Rohstoffe an die »Genossenschaften« zu nicht regulierten Preisen zu verkaufen. Der Warenmangel wurde dadurch noch größer: Die Staatsbe­triebe produzierten weniger, die Genossenschaften verkauften ihre Produkte zu horrenden Preisen.

Der im Gegensatz zur seinen Vorgängern über keine Erfahrung der Arbeit in den kleineren Sowjetrepubliken verfügende Generalsekretär hatte wenig Vorstellung vom realen Funktionieren der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Er zeigte sich bis zum Schluss verwundert darüber, dass sein Kurs, die nationalen Besonderheiten mehr anzuerkennen, nicht zu mehr Völkerfreundschaft zwischen Armeniern und Aseris, Litauern und Russen, Usbeken und Kirgisen führte.

Auch den Traum vieler linker Kritiker des Sowjetsystems – die Ausweitung der Rolle der Räte – begann Gorbatschow zu erfüllen. Der Kongress der Volks­deputierten, der 1989 aus verhältnismäßig freien Wahlen hervorging, und der aus seinen Reihen gewählte Oberste Sowjet sollten als höchste Legislativorgane der UdSSR reale, den Räten von der Verfassung zugesprochene Macht ausüben. Zugleich begannen diese Institutionen jedoch den Übergang von einem rudimentären Rätesystem zu einem Berufsparlament. Der Anteil der Arbeiter, der Landbevölkerung und der Frauen sank rapide zugunsten redegewandter Männer mit Hochschulabschlüssen, die in Wahlkämpfen Popularität erlangten.

Gorbatschow wertete die Partei zugunsten des Obersten Sowjets ab. Das zerstörte auch die Art und Weise, in der bisher Entscheidungen in der politischen Führung getroffen worden waren. Wurden nach dem Tod Stalins dem Anspruch nach die wichtigsten Entscheidungen im Politbüro als de facto oberstem Parteigremium im Konsens getroffen, ging Gorbatschow dazu über, seine Kritiker dort zu überstimmen. Die ­Sitzungen des Sekretariats des Zentralkomitees, des zweitwichtigsten Gremiums der Partei und damit des Landes, besuchte er erst gar nicht. Als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets konnte er allerdings nicht wirklich regieren, denn das formell oberste Staatsamt verlieh ihm de facto nur die Funktion eines Sitzungsleiters der Legislative. Als Gorba­tschow sich 1990 den Posten des Präsidenten der UdSSR schaffen ließ, schürte er damit bei seinen Gegnern und auch vielen bisherigen Unterstützern Ängste vor einer neuen Diktatur.

Neu entstehende kleine linke Gruppen, die zuerst eine ähnliche Politik der Selbstverwaltung und Räteaktivierung verfolgt hatten, zu integrieren, versuchte Gorbatschow, der Generalsekretär der Millionenpartei KPdSU, gar nicht erst; das führte dazu, dass diese schon bald seinen Widersacher Boris Jelzin unterstützten, der als radikalerer Gegner der bürokratischen Herrschaft auftrat. Alle Kräfte, die sich offen als nichtsozialistisch zu erkennen gaben, wollte Gorbatschow einhegen, zugleich beschwor er die Erneuerung der realsozialistischen Wirtschaftsbeziehungen durch immer weitergehende Anleihen beim System der kapitalistischen Staaten.

Dessen Mechanismen, die Menschen durch die Drohung mit Arbeitslosigkeit und Armut zum Arbeiten zu motivieren, wurden in der UdSSR bald als effektiv anerkannt und übernommen. Ab da gab es für den Realsozialismus keine Rettung mehr: Die bisherigen »Errungenschaften des Sozialismus« galten auf einmal als Wirtschaftshemmnis, die »Übel des Kapitalismus« als »Gesetze der Ökonomie«. All das wurde mit reichlich »Histomat« und »Diamat« begründet. Ständig berief sich Gorba­tschow auf »die Zeit« und »die Geschichte«, die dieses und jenes legitimieren würden, immer wieder bemühte er Zitate der Klassiker darüber, dass alles »konkret«, »dialektisch« und sowieso kein »starres Dogma« sei. So hat Gorbatschow die sich unter seiner Regierung vollziehenden Veränderungen als historische Gesetzmäßigkeit verklärt.

Das Versprechen Gorbatschows, die Reformen würden nicht bloß Verbesserungen bringen, sondern eine neue, noch nie dagewesene Form von Demokratie und sozialistischer Wirtschaft hervorbringen, sprach gerade jene Linke an, die zuvor den Realsozialismus kritisch gesehen hatten. Das Scheitern dieses Vorhabens schadete dementsprechend diesen weltweit mehr und dauerhafter als denjenigen, die bis heute der Sowjetunion nostalgisch nachtrauern. Diese können sich immer noch damit trösten, dass alles anders gelaufen wäre, hätte es Gorbatschow nicht gegeben.