Die Tatorte des Massenmord an der jüdischen Bevölkerung im von den Nazis besetzten Riga

Auf den Spuren des Massenmords

Kaum hatte die Wehrmacht am 1. Juli 1941 Riga eingenommen, begann das organisierte Töten der jüdischen Bevölkerung. Gedenkstätten ­erinnern an die Opfer.

Der Wald von Biķernieki
Die Bushaltestelle, einige Kilometer südöstlich vom Stadtzentrum Rigas, liegt mitten im Wald. Ein Mann, vielleicht Mitte 50, gibt uns zu verstehen, besser nicht auszusteigen; erst bei der nächsten Haltestelle sei man wieder in bewohntem städtischem Gebiet. »Thank you, merci, Memorial«, radebrechen wir zurück. Oh sorry, pardon, eine wortreiche Entschuldigung. »No problem, no problem.« Freundliche Verabschiedung.

Von der Bushaltestelle führt neben der vierspurigen Straße ein schmaler ausgetretener Pfad durchs Gras. Dann taucht ein Weg in den Wald von Biķernieki auf. Hier war der Ort des Massenmords.

Der Waldweg ist gesäumt von Betonpfählen. Oben sind sie mit Stahldornen besetzt, die den letzten Weg der Opfer in den Tod symbolisieren. Eingraviert ist jeweils ein Davidstern, ein Kreuz oder eine Dornenkrone. Sie stehen für die Menschen, die hier erschossen wurden, Kinder, Frauen, Männer: circa 20 000 Juden aus Lettland, Deutschland, Österreich und Tschechien, 10 000 sowjetische Kriegsgefangene und 5 000 politische Gefangene und Widerstandskämpfer.

Links und rechts des Wegs sind mit kleinen Mauern eingefasste, aufgeschüttete Flächen zu sehen. Auf ihnen liegt je ein großer Stein, unbeschriftet. Das sind die Massengräber – die größten Massengräber Lettlands.

4 000 Granitsteine erinnern in Biķernieki an die jüdischen Opfe

Stumme Mahner. 4 000 Granitsteine erinnern in Biķernieki an die jüdischen Opfer

Bild:
Christine Pfeifer

Wie der Terror organisiert wurde
Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion, am 1. Juli eroberte sie die lettische Hauptstadt Riga, die seit dem 17. Juni 1940 von der Sowjetunion besetzt war. Am 4. Juli brannten bei organisierten Pogromen die Synagogen der Stadt; das war das Signal für den Massenmord. Zehntausende jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden im Ghetto Rigas eingeschlossen. Im Wald von Biķernieki erschossen lettische Hilfstruppen ab Juli zunächst Gefangene aus den ­Haftanstalten Rigas.

Nach Angaben von Yad Vashem erhielt im November 1941 der hohe SS-Offizier Friedrich Jeckeln von Himmler den Befehl, das Ghetto zu liquidieren und alle darin lebenden lettischen Juden zu töten. Es sollte »Platz geschaffen« werden für die aus Deutschland, Österreich und der besetzten Tschechoslowakei in Sonderzügen nach Riga deportierten jüdischen Menschen. Jeckeln hatte sich im September und Oktober 1941 hauptverantwortlich an den Massenmorden deutscher Einsatzgruppen in der Ukraine beteiligt, unter anderem an mehr als 30 000 Juden in Babyn Jar. Zwischen dem 30. November und dem 9. Dezember 1941 trieben deutsche Truppen und lettische Hilfstruppen mehr als 25 000 lettische Juden aus dem Rigaer Ghetto und etwa 1 000 Berliner Juden in den Wald von Rumbula und erschossen sie dort; ­Jeckeln hatte die Morde geplant und nahm persönlich an ihnen teil. Von 1941 bis 1944 wurden bei Massakern im Wald von Biķernieki insgesamt mindestens 33 000 Menschen erschossen.

Neben Jeckeln war Walter Stahlecker einer der Hauptverantwortlichen für die Mordpolitik der Nazis in Riga. Als SS- und Polizeioffizier fungierte er als Befehlshaber der etwa 1 000 Mann umfassenden Einsatzgruppe A, die an der ganzen besetzten Ostseeküste bis Leningrad und somit auch in Riga wütete. Die insgesamt vier Einsatzgruppen folgten der Wehrmacht und führten im rückwärtigen Frontgebiet Massenexekutionen aus. Bereits kurz nach der Besetzung Rigas durch die Wehrmacht ließ Stahlecker das Kommando Arājs unter Leitung des vormaligen lettischen Polizeioffiziers Viktors Arājs aufstellen, das der Einsatzgruppe A unterstellt war. Als lettisches »Sonderkommando« war es mit der Ermordung von Juden und kommunistischen Funktionären beauftragt und fungierte als mobiles Tötungskommando. Es soll ­einen Großteil der 21 000 in lettischen Kleinstädten ermordeten Juden erschossen haben; insgesamt gehen auf das Konto des Sonderkommandos schätzungsweise 45 000 Tote in Lettland und Weißrussland.

Auf einer Infotafel findet sich die undatierte Aussage eines Mitglieds des Kommandos Arājs, das beschrieb, was sich im Wald von Biķernieki abgespielt hatte; als Quelle wird das Museum »Jews in Latvia« angegeben:

»Auf den Lastwagen brachten wir Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, junge und ältere Juden, Kinder. Wahrscheinlich wurden ganze Familien gebracht. (…) Polizisten, die in Reihen standen, drängten die Juden, die stehen blieben und nicht zur Tötungsstelle gingen, mit Gewehrkolben. Als ich zusammen mit anderen Polizisten die ­Juden zur Tötungsstelle gebracht habe, bin ich mehrmals zum Graben gegangen, weil ich neugierig war, zu sehen, was dort vor sich geht. So habe ich ge­sehen, wie die Juden in den Graben gezwungen wurden und wie sie von den Mitgliedern des Kommandos Arājs von oben mit Maschinenpistolen erschossen wurden.«

Den Opfern ist eine Gedenkstätte gewidmet, die 2001 eröffnet wurde. Es ist ein weißes Portal aus Beton mit einem schwarzen Gedenkstein, auf dessen Seitenflächen auf Lettisch, Hebräisch, Russisch und Deutsch ein Zitat aus der Tora geschrieben steht: »Ach Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Schreien finde keine Ruhestatt.« Daneben liegt ein Feld von Steinen mit kleinen Granitplatten, auf denen die Namen der Städte eingraviert sind, aus denen die Erschossenen deportiert worden waren.

Eine Infotafel verweist auf die Ver­suche der Nazis, die Spuren der Massenmorde zu verwischen, die »Aktion 1 005«.
»Ab 1942, im Baltikum ab 1943, werden auf Anordnung des ›Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete‹ die Spuren der Massengräber beseitigt. Die Opfer werden exhumiert und verbrannt. Die ›Enterdungsaktion‹ wird auch im Wald von Biķernieki durchgeführt. Die Verantwortlichen schaffen es nicht, alle Leichen zu exhumieren und zu verbrennen, so dass später in einigen Gräbern nicht nur Leichen, sondern auch persönliche Dokumente gefunden werden.«

Der Wald von Rumbula
Den Eingang in den Wald von Rumbula markiert eine große Installation aus Metallrohren, in deren Geflecht sich Steine finden; sie symbolisiert die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten. Neben den Waldwegen liegen die Massengräber der ermordeten Einwohner des jüdischen Ghettos von Riga. Die Gedenkstätte ist ein nach einem Davidstern geformtes Feld von Steinen mit einer großen Menora, einem siebenarmigen Leuchter aus Metall. Auf kleinen Steintafeln rings um die Stätte sind ­Namen der Straßen aus dem Ghetto eingraviert.

Ein schwarzer Gedenkstein trägt auf Russisch, Lettisch und Jiddisch die Inschrift: »Für die Opfer des Faschismus«. Auf einer auf dem Gedenkstein angebrachten Tafel ist vermerkt: »This monument was erected in 1964 under the Soviet totalitarian regime by activists of the Riga’s Jewish memorial. It was the only Jewish memorial to victims of Nazi terror in the territory of the USSR.«

Gedenktafel aus dem Jahr 1964 im Wald von Rumbula

Erstes Zeichen der Erinnerung: Gedenktafel aus dem Jahr 1964 im Wald von Rumbula

Bild:
Christine Pfeifer

Das Rigaer Ghetto
Das Museum des Rigaer Ghettos und des Holocaust in Lettland befindet sich auf einem Grundstück, das die Stadt dem jüdischen Verein Shamir überlassen hat, der seit 2010 dort eine für ­Besucher kostenlose Gedenkstätte betreibt. Sie befindet sich kurz hinter dem pompösen sowjetischen Wissenschaftspalast, in dem sich heute die ­lettische Akademie der Wissenschaften befindet, hinter dem Hauptbahnhof und grenzt an den Stadtteil »Moskauer Vorstadt«. Diese bis heute arme Gegend wurde ursprünglich vor allem von armen Juden bewohnt. Ihre Straßen säumen die typischen Holz­häuser.

Auf Befehl der deutschen Besatzungsmacht mussten 1941 alle Juden Rigas in diesen Stadtteil umsiedeln. Ende Oktober lebten 30 000 Juden in der Moskauer Vorstadt, als die Wehrmacht das Gebiet abriegeln und von lettischen Hilfspolizisten bewachen ließ. Im November erging dann der Befehl, das Ghetto zu räumen und die ­Insassen im Wald von Rumbula zu ermorden – was auch geschah. Danach wurde das Ghetto als Durchgangsstation für Juden aus dem ganzen »Reichs­gebiet« genutzt. Ungefähr 25 000 deutsche, tschechische und österreichische Juden wurden in das Rigaer Ghetto deportiert. 12 000 von ihnen überlebten als Zwangsarbeiter, die anderen wurden von der SS und ihren lettischen Kolla­borateuren im Wald von Biķernieki ermordet.

Der unfassbare logistische Aufwand, den die Deutschen betrieben, um die Juden aus allen Ecken und Enden des »Reichs« zum Zweck ihrer Ermordung bis ins Baltikum zu verbringen, wird auf einer riesigen Stellwand deutlich, an der man im Rigaer Ghetto-Museum entlanglaufen kann. Auf ihr sind die Namen der Juden aufgelistet, die aus Wien, Stuttgart, Hamburg, Leipzig, Dresden, Hannover, Münster, Osnabrück, Bielefeld und vielen anderen Städten nach Riga gebracht wurden, um sie zu ermorden.

Neben Infotafeln, die über die Geschichte der Juden in Lettland, über die deutsche Besatzung, die antisemitische Propaganda und die lettische Kollaboration aufklären, erinnert ein Ausstellungsraum an die 3 000 aus Theresienstadt in das Rigaer Ghetto deportierten Juden. Auf einem großen schwarzen Kubus sind die Deportationslisten ausgestellt, die der »Judenrat« des sogenannten Ghettos Theresienstadt, de facto ein Konzentrationslager, zusammenstellen musste.

Hier ist es zunächst dunkel, bis ein Sensor Bewegung registriert und ein warmes Licht den Raum erhellt, das von an der Decke hängenden künstlerisch gestalteten Kuben ausgeht. Diese Lichtkuben sind in Découpage-Technik so gestaltet: Porträts, Namen, Daten, Urkunden, Briefe und Texte zieren die erleuchteten Würfel, das Lampenmeer, das man durchschreiten kann, zeigt so die Geschichten jener aus Theresienstadt deportierten Juden.

Eine Ausstellung erinnert an Opfer aus Theresienstadt

Eine Ausstellung erinnert an Opfer aus Theresienstadt

Bild:
Linn Vertein

Es ist eine eindrucksvolle Installation. Neben dem mit seiner Brille sehr intellektuell aussehenden Szmerl Rath lacht einen Vilemína Goldfarbová mit ihrem adretten Hut an, man geht an dem Bild der jungen, schönen Marie Bischitská vorbei, bis in der Mitte links ein Kubus mit Boxhandschuhen gestaltet ist. »Harry Stein«, steht über dem Porträt eines durchtrainierten Mannes ohne Hemd, darunter: »1905–1942«. Harry Stein wurde am 5. Januar 1905 in Deutschland geboren, er hielt in den zwanziger Jahren den deutschen Meistertitel im Leichtgewichtsboxen und agierte 1930 für den deutschen Teiltonfilm »Liebe im Ring« bei den Boxszenen als Stuntman für Max Schmeling, erzählt der Infotext. 1933 wanderte Stein in die Tschechoslowakei aus und war dort noch ein Jahr als Boxer tätig, dann verliert sich seine Spur. Ein deutsches Boxmagazin schrieb 1948, dass Harry Stein als Boxtrainer in der UdSSR verstorben sei; ein belarussischer Boxverband wiederum ehrt auf seiner Website die Verdienste des Meisters im Leichtgewicht, H. Stein, der Nazi-Deutschland verlassen und das belarussische Boxen in den Dreißigern vorangebracht habe. Die Dokumente aus Theresienstadt allerdings geben Auskunft, dass ein Harry Stein, Boxer, am 30. November 1941 aus Prag nach Theresienstadt und von dort am 9. Januar 1942 nach Riga deportiert wurde. Ob er überlebte, ist nicht bekannt.

Die Überreste der Großen Synagoge in Riga

Lange Zeit vergessen: die Überreste der Großen Synagoge in Riga

Bild:
Katharina Zimmerhackl

Die Große Synagoge
Im Museum findet sich auch ein originales Holzhaus aus dem Rigaer Ghetto. In dessen Erdgeschoss sind architektonische Modelle der zerstörten Synagogen Lettlands zu sehen – so auch eines der ehemaligen Großen Synagoge Rigas. Nur wenige Gehminuten entfernt, an der Straße Gogoļa iela, finden sich sich deren Überreste. Das prunkvoll im Stil der Neo-Renaissance von Paul von Hardenack gestaltete Gebäude wurde im Jahr 1871 fertiggestellt und war vor allem für seine Kantoren (Chazzan) sowie den Chor bekannt.

Die Synagoge wurde am 4. Juli 1941, nur drei Tage nach der Machtübernahme durch das nationalsozialistische Militär in Riga, von der lokalen Hilfspolizei und Anhängern der national­sozialistischen Organisation Pērkonkrusts unter der Leitung von Viktor Arājs niedergebrannt. Der Infotafel zufolge wurde das Mobiliar mit Benzin übergossen und dann angezündet, während die 400 Jüdinnen und ­Juden – vermutlich litauische Geflüchtete –, die in der Synagoge Schutz gesucht hatten, daran gehindert wurden, den Flammen zu entkommen.

Die Geschichte des Orts scheint wenig zu interessieren. Zwischen den Mauerresten liegen benutztes Toilettenpapier, Fäkalien, leere Flaschen und Spritzen. Lange Zeit erinnerte nichts an die Synagoge. Nach der Machtüber­nahme der Sowjetunion waren die Reste der verbrannten Synagoge abgetragen worden, aus dem Ort wurde ein öffentlicher Platz. Erst 1988 wurde ein Gedenkstein eingelassen, 1993 dann ließ der lettische Architekt Sergejs Rižs die verbliebenen Originalsteine der Synagoge am Grundriss der Synagoge orientiert verbauen, es entstand ein Ge­denk­ort. 14 Jahre später kam ein Monument hinzu, mit dem Menschen wie Jānis Lipke gedacht wird. Er hatte vielen Jüdinnen und Juden zur Flucht verholfen und wird von Yad Vashem als ­Gerechter unter den Völkern geehrt.