Weltweit kämpfen extreme Rechte ­gegen die Gleichstellung von LGBT-Personen

Heilige Familie, heiliger Krieg

Der Kampf gegen LGBTQI-Personen vereint die extreme Rechte weltweit. Es geht um die rigorose Durchsetzung von Geschlechternormen, die im Kapitalismus ihre Funktion weitgehend verloren haben.

Wer eine Ansprache vor Soldaten hält, denen ein gefährlicher Kampfeinsatz bevorsteht, hat verschiedene Möglichkeiten, sie zu motivieren. Wladimir Solowjow, einer der wichtigsten Propagandisten des russischen Staatsfern­sehens, versucht es mit einer gewagten Behauptung: »Es gibt keinen Tod, es gibt nur den Weg zur Unsterblichkeit.« Zudem lebe man durch die Kinder weiter – anders als der Feind: »Was für Kinder können sie haben, wenn Männer mit Männern schlafen?« Man kämpfe gegen 50 Länder, die durch den »Satanismus« vereinigt würden. Solowjow beendet die kurze Ansprache mit dem Ausruf: »Allahu akbar! Russland ist mächtig!«

Ob dies den mutmaßlich tschetschenischen Kämpfern eine Aufmunterung war, lässt das vermutlich Mitte Januar aufgezeichnete Video nicht erkennen. Zuvor hatte der tschetschenische Prediger Magomed Chitanajew sie ebenfalls mit homophoben Parolen auf die Schlacht eingestimmt. »Oh Ukrainer! Warum habt ihr Gay Parades in Kiew, Charkiw und Odessa erlaubt?« Sogar der »römische Papst« habe gleichgeschlechtliche Ehe und Geschlechtsumwandlung »legalisiert«, behauptete Chitanajew. »Wir verteidigen die heiligen Gesetze.« Im Studio resümiert Solowjow im gleichen Sinn: »Dies ist ein heiliger Krieg.«

Einer Umfrage von »Yahoo News« und Yougov vom Frühjahr 2022 zufolge sahen 62 Prozent der US-Republikaner:innen in Putin »einen stärkeren Führer« als in Präsident Joe Biden.

Die vermeintliche Sittenlosigkeit und Dekadenz von Feinden und Konkurrenten anzuprangern, ist eine seit der Antike gebräuchliche politische Taktik. Doch erst die russische Propagandamaschine hat explizit den Kampf gegen Homo- und Transsexualität – de facto gegen jede Abweichung von der patriarchalen Norm – zu einem zen­tralen politischen und nun auch militärischen Ziel erklärt. Wie im Rechtsextremismus weltweit üblich, gibt man sich als Opfer – das sich diesmal des »Satanismus« erwehren müsse. Der Ukraine-Krieg zeigt eindrücklich, wie aggressiv dieses Selbstverständnis als Opfer ist.

Der explizite Zusammenschluss von christlichem und islamischem Rechtsextremismus zum gemeinsamen »heiligen Krieg« ist derzeit noch eine russische Besonderheit, die auf der Rolle des islamistischen Warlords Ramsan Kadyrow als Statthalter Wladimir Putins in Tschetschenien beruht. Doch scheint der russische Präsident das Zweckbündnis nun auch außenpolitisch nutzbar machen zu wollen, um sich in der islamischen Welt als Verbündeter für den Kampf gegen LGBTQI-Rechte anzubieten.

Die Organisation für Islamische ­Zusammenarbeit (OIZ), ein Bündnis von 56 Staaten mit islamischer Bevölkerungsmehrheit oder einer großen islamischen Bevölkerungsgruppe, kämpft in UN-Gremien schon seit längerem gegen LGBTQI-Rechte. Deren »Auferlegung«, so der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im November vorigen Jahres bei einer OIZ-Konferenz in Istanbul, sei »ein weltweites Werkzeug der Diktatur geworden, eine neue ­Bedrohung, die auf die Schwächung sowohl der Institution der Familie als auch islamischer Werte abzielt«. Im Juni war die Pride-Parade in Istanbul verboten worden; als dennoch Hunderte auf die Straße gingen, nahm die Polizei etwa 200 Menschen fest. Bis 2014 hatte die Parade zehn Jahre lang legal stattgefunden.

Rückschritte drohen in diesen Bereichen aber auch in westlichen ­Ländern. So ist der Kampf gegen LGBTQI-Personen für die extreme Rechte in den USA das wichtigste Thema geworden. Die Nichtregierungsorganisation Armed Conflict Location and Event Data Project stellte für den Zeitraum von 2020 bis 2021 eine Vervierfachung der Aktivitäten (Demonstrationen, Gewalttaten und Propaganda) ­gegen LGBTQI-Personen fest, die nunmehr alle an­deren Anlässe (Abtreibung, Black Lives Matter) fast gänzlich verdrängt haben.

Politiker:innen der republikanischen Rechten propagieren restriktive Gesetze und begründen sie mit dem Kinderschutz – der auch von der russischen Führung gern angeführt wird, zum Beispiel zur Begründung der 2013 landesweit eingeführten Gesetze gegen »homosexuelle Propaganda«, die im Herbst weiter verschärft wurden. Seit vergangenem Jahr untersagt in Florida das sogenannte »Don’t Say Gay«-Gesetz Lehrer:innen, an Grundschulen über jegliche von der heterosexuellen Norm abweichende Geschlechtsorientierung zu sprechen, ähnliche Gesetzesvorhaben werden in mehreren weiteren US-Bundesstaaten diskutiert.

Einer Umfrage von Yahoo News und Yougov vom Frühjahr 2022 zufolge sahen 62 Prozent der US-Republikaner:in­nen in Putin »einen stärkeren Führer« als in Präsident Joe Biden. Dafür sei Putins Kampf gegen Liberalismus, LGBT-Rechte und Feminismus ausschlaggebend, analysierte David Smith vom United States Studies Centre an der Universität von Sydney. Putin hat eine ideologische Führungsrolle unter westlichen Rechtspopulisten und in der christlichen extremen Rechten errungen, während Papst Franziskus hier als zu nachgiebig gilt. Zwar hält der Papst, anders als Chitanajew behauptet, an der katholischen Lehre fest, betont aber die Barmherzigkeit – zum Unwillen unter anderem eines extrem rechten Flügels im Klerus.

Nicht ganz zu Unrecht wähnt sich die extreme Rechte weltweit in einem ­Abwehrkampf. Vor allem die Erfolge bei der rechtlichen Gleichstellung von Frauen, Homosexuellen und Trans-Personen fordern sie heraus. Zudem zählte die NGO Outright für das Jahr 2021 Pride-Paraden in mehr als 100 Staaten, darunter einigen des »Globalen Südens« wie Angola und Kambodscha. Angesichts dessen ist es kaum noch möglich, die Belange von LGBTQI als ein Thema abgehobener »westlicher Eliten« abzutun. Das allein aber erklärt weder die Vehemenz, mit der abweichende Lebensweisen – die ja niemandem etwas wegnehmen oder streitig machen – bekämpft werden, noch die zentrale Rolle, die das Thema LGBTQI für die globale Rechte eingenommen hat.

In vorkapitalistischen Klassengesellschaften regelte das Patriarchat Eigentumsrechte und Erbfolge. Dementsprechend groß war der allgemeine Druck, die »familiären Pflichten« zu erfüllen. Sitten und Gesetze waren darauf ausgerichtet, die »legitime« Nachkommenschaft sichern, man konzentrierte sich darauf, vor- und außereheliche Heterosexualität zu unterbinden. Homosexu­alität stand man in diesen Gesellschaften zwar in der Regel ablehnend gegenüber und Beispiele für homophobe Gewalt gibt es ebenfalls, nicht aber für systematische Verfolgung Homosexueller. Häufig herrschte eine informelle Duldung vor. Der Homosexualität wurde keine große Bedeutung beigemessen. Koran und Bibel erwähnen sie nur am Rande, in den Evangelien verliert Jesus kein Wort darüber.

Handelte es sich bei den Kampagnen gegen LGBTQI um eine Aufwallung der Frömmigkeit, müsste man erwarten, dass mit gleichem Eifer etwa gegen die (auch im Islam untersagte) Masturbation gewettert würde. Das ist bekanntlich nicht der Fall. Es geht um Geschlechterrollen, die im Kapitalismus ihre gesellschaftliche Funktion weitgehend verloren haben. Das Patriarchat ist nicht beseitigt, aber erheblich geschwächt; auf keinem anderen Gebiet hat es in den vergangenen Jahrzehnten so weitreichende Fortschritte gegeben wie bei der Gleichstellung zunächst von Frauen, dann Homo- und nun auch Trans­sexuellen.

Im Widerstand gegen diese Entwicklung kommen zwei Tendenzen zusammen. Reaktionäre Kreise der Bevölkerung – keineswegs nur Rechtsextreme –, denen es Ich-Schwäche und autoritäre Persönlichkeit unmöglich machen, andere Lebensweisen zu akzeptieren, ­erschaudern bei dem Gedanken, dass eine Geschlechtsumwandlung möglich ist. Prekarisierung und Abstiegsängste dürften hier als Verstärker wirken. Wenn schon sonst nichts mehr sicher ist, soll es wenigstens die Geschlechterrolle sein – die dann allen aufgezwungen werden soll, um die ­eigene Verunsicherung zu überspielen. Dies geht oft mit Strafbedürfnis und sadistischen Impulsen einher, die allerdings selten so offen zur Schau gestellt werden wie beim Karnevalsumzug in Prossen.

Autokratien, Diktaturen und rechtsextreme Politi­ker:in­nen greifen diese Tendenz gern auf und fördern sie. Das verschafft ­ihnen Wählerstimmen in reaktionären Kreisen der Bevölkerung und bietet die Möglichkeit, autoritäre Herrschaft als umfassendes, Sicherheit bietendes Gesellschaftsmodell zu präsentieren, in dem die patriarchalen Familien Zellen des Staatskörpers sind.

So stellt China Plus, die englischsprachige Website von China Radio International, dem internationalen Publikum das chinesische Staatsoberhaupt Xi Jinping als Hüter traditioneller Familienwerte vor. Er bekundet die Verehrung für seinen Vater und gibt sich als fürsorglicher Patriarch, der auch an den betriebsamsten Tagen seine Ehefrau Peng Liyuan anruft, die ihre Berufs­tätigkeit für die Aufgaben einer First Lady zurückstellt – »ein Zeichen der traditionellen Werte der chinesischen Nation, die der Familie Bedeutung in der internationalen diplomatischen Arena zuweisen«. Dem »chinesischen Volk ins Blut übergegangen«, seien traditionelle Familienwerte eine »wichtige Grundlage« der »nationalen Entwicklung« und der »sozialen Harmonie«, so Xi.

Der Ausschluss von LGBTQI-Personen ist implizit, aber deutlich. China wendet sich nicht offiziell gegen ihre Rechte, verfolgt ihre Aktivitäten im ­Internet und in der Öffentlichkeit aber seit einigen Jahren schärfer und erhöht den Anpassungsdruck. Chat-Gruppen zu LGBTQI-Themen werden geschlossen, es gab eine staatliche Kampagne gegen »verweichlichte Männer« und LGBTQI-Zentren sind immer wieder behördlichen Schikanen ausgesetzt. In Diktaturen und Autokratien ist das naheliegend, vielleicht sogar zwingend. Als politische Nation, die auf einer demokratischen Verfassung beruht und ein Leben in Vielfalt ermöglicht – oder wenigstens legalisiert –, kann sich China ebenso wenig konstituieren wie Russland. Autoritäre Herrschaft erfordert ideologische Einheit, da kommt man am »Blut« der familiären Bande und des Ahnenkults der Nationalmythologie, der Berufung auf eine fiktive Vergangenheit, kaum vorbei.

Im Kampf gegen die Rechte von LGBTQI-Personen wird meist nicht explizit eine Rückkehr zur Männerherrschaft gefordert. Doch in China gibt es kaum mehr Frauen in Führungspositi­onen als im Iran oder in Afghanistan, und Putin ließ 2017 häusliche Gewalt durch »nahe Angehörige« zur Ordnungswidrigkeit herabstufen, sofern sie keine bleibenden physischen Schäden hinterlässt. Das Familienbild der Anti-LGBTQI-Propaganda tendiert zum patriarchalen Rollenmodell mit dem Mann als Haushaltsvorstand.

Umfrageergebnisse und Schätzungen gehen zwar auseinander, jedoch kann man davon ausgehen, dass LGBTQI-Rechte unmittelbar wohl mindestens zehn, wahrscheinlich eher 15 oder sogar bis zu 20 Prozent der Bevölkerung zugute kämen, weltweit also 800 Millionen bis 1,6 Milliarden Menschen. Für sich genommen handelt es sich also um ein Bürgerrechtsthema von immenser Bedeutung. Unter anderem die Hasspredigten Solowjows und Chitanajews zeigen überdies, wie eng der Kampf gegen LGBTQI-Personen mit dem Kampf ­gegen die Demokratie verbunden ist.